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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Sittlichkeit auf dem Lande

und die Apostel haben Welt und Gottesreich einander gegenübergestellt und
nirgends gelehrt, daß dieses zu irgend einer Zeit einmal die ganze Menschheit
umfassen solle. Sie haben auch' nirgends gelehrt, daß man Menschen, die
innerlich Heiden sind, durch Zwang äußerlich zu Christen machen solle oder
dürfe. Sie haben auch die Kindertaufe nicht geboten, sondern die Bekehrung
und den Glauben als die Bedingungen bezeichnet, die der Taufe vorangehen
müssen, sodaß die Kindertaufe unbedingt ausgeschlossen erscheint. So ist es
denn ini allgemeinen auch bis ins vierte Jahrhundert gehalten worden, und
trotzdem wurde schon zur Zeit der letzen Christenverfolgungen geklagt, daß die
Kirche voller Welt sei. Dann kamen die christlichen Monarchen und trieben
zuerst die heidnisch gebliebne Bauernschaft, dann ganze Völker mit Feuer und
Schwert in die heilige Hürde hinein. Daß die italienischen Bauern bis auf
den heutigen Tag Heiden geblieben sind, hat man uns unzühligemal gesagt
und hat Trete in drei Bänden bewiesen; daß aber auch die norddeutschen
Bauern im innersten Kerne noch Heiden sind, mit einem Zusatz von Judentum,
wird jetzt auch zugestanden. Der Unterschied besteht bloß darin, daß die Süd¬
länder nicht bloß Heiden schlechtweg, sondern Polytheisten sind, und daß ihr
Heidentum poetischer ist als das der nordischen Bauern. Wird man sich also
nicht doch schließlich zur Anerkennung der Thatsache bequemen müssen, daß immer
nur verhältnismüßig wenige fürs Christentum empfänglich sind, und daß man
sich bei der Masse begnügen muß, wenn sie nur aus rechtschaffnen Heiden
besteht, wie denn auch Luther oft genug geseufzt hat: wollte Gott, wir wären
erst rechtschaffne Heiden! Die Unfähigkeit der Bauern, die christlichen Lehren
auch nur dem Wortsinne nach, geschweige denn mit dem Herzen zu fassen,
zeigt der Thüringer an vielen Anekdoten, von denen wir nur eine anführen
wollen. In einer Traurede hatte er den paulinischen Spruch: "O Tiefe des
Reichtums der Weisheit und Wissenschaft Gottes," ein paar Jahre später in
einer andern den Spruch: "Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet
es mit den niedrigen," verwendet. Das hat ihm der zweite Bräutigam sehr
übel genommen und ihm gesagt: Warum haben Sie denn bei der andern von
der Tiefe des Reichtums und bei uns von niedrigen Dingen geredet? Sie
denken wohl, meine Rieke habe weniger als die? Wir sind ebenso reich. Und
jede Mühe, ihm das richtige Verständnis beizubringen, war vergebens. Und
diesen beschränkten, so ganz in irdischen Bestrebungen und Sorgen aufgehenden
Menschen will man die Sittlichkeit jener hochgebildeten Gemeinden zumuten,
an die Paulus seine heute kaum den Gelehrten verständlichen Briefe richten
konnte, jener Gemeinden, die, der Welt entsagend, in ekstatischer Verzückung
"in Zungen redeten" und die baldige Ankunft des Herrn erwarteten, sodaß
sie ermahnt werden mußten, nur zunächst ruhig bei ihren Berufsgeschäften zu
bleiben, da das Weltgericht noch nicht unmittelbar bevorstehe? "Wenn wir
große Mühe haben, schreibt Gebhardt Seite 224, uns in die niedrige Lebens-


Die Sittlichkeit auf dem Lande

und die Apostel haben Welt und Gottesreich einander gegenübergestellt und
nirgends gelehrt, daß dieses zu irgend einer Zeit einmal die ganze Menschheit
umfassen solle. Sie haben auch' nirgends gelehrt, daß man Menschen, die
innerlich Heiden sind, durch Zwang äußerlich zu Christen machen solle oder
dürfe. Sie haben auch die Kindertaufe nicht geboten, sondern die Bekehrung
und den Glauben als die Bedingungen bezeichnet, die der Taufe vorangehen
müssen, sodaß die Kindertaufe unbedingt ausgeschlossen erscheint. So ist es
denn ini allgemeinen auch bis ins vierte Jahrhundert gehalten worden, und
trotzdem wurde schon zur Zeit der letzen Christenverfolgungen geklagt, daß die
Kirche voller Welt sei. Dann kamen die christlichen Monarchen und trieben
zuerst die heidnisch gebliebne Bauernschaft, dann ganze Völker mit Feuer und
Schwert in die heilige Hürde hinein. Daß die italienischen Bauern bis auf
den heutigen Tag Heiden geblieben sind, hat man uns unzühligemal gesagt
und hat Trete in drei Bänden bewiesen; daß aber auch die norddeutschen
Bauern im innersten Kerne noch Heiden sind, mit einem Zusatz von Judentum,
wird jetzt auch zugestanden. Der Unterschied besteht bloß darin, daß die Süd¬
länder nicht bloß Heiden schlechtweg, sondern Polytheisten sind, und daß ihr
Heidentum poetischer ist als das der nordischen Bauern. Wird man sich also
nicht doch schließlich zur Anerkennung der Thatsache bequemen müssen, daß immer
nur verhältnismüßig wenige fürs Christentum empfänglich sind, und daß man
sich bei der Masse begnügen muß, wenn sie nur aus rechtschaffnen Heiden
besteht, wie denn auch Luther oft genug geseufzt hat: wollte Gott, wir wären
erst rechtschaffne Heiden! Die Unfähigkeit der Bauern, die christlichen Lehren
auch nur dem Wortsinne nach, geschweige denn mit dem Herzen zu fassen,
zeigt der Thüringer an vielen Anekdoten, von denen wir nur eine anführen
wollen. In einer Traurede hatte er den paulinischen Spruch: „O Tiefe des
Reichtums der Weisheit und Wissenschaft Gottes," ein paar Jahre später in
einer andern den Spruch: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet
es mit den niedrigen," verwendet. Das hat ihm der zweite Bräutigam sehr
übel genommen und ihm gesagt: Warum haben Sie denn bei der andern von
der Tiefe des Reichtums und bei uns von niedrigen Dingen geredet? Sie
denken wohl, meine Rieke habe weniger als die? Wir sind ebenso reich. Und
jede Mühe, ihm das richtige Verständnis beizubringen, war vergebens. Und
diesen beschränkten, so ganz in irdischen Bestrebungen und Sorgen aufgehenden
Menschen will man die Sittlichkeit jener hochgebildeten Gemeinden zumuten,
an die Paulus seine heute kaum den Gelehrten verständlichen Briefe richten
konnte, jener Gemeinden, die, der Welt entsagend, in ekstatischer Verzückung
„in Zungen redeten" und die baldige Ankunft des Herrn erwarteten, sodaß
sie ermahnt werden mußten, nur zunächst ruhig bei ihren Berufsgeschäften zu
bleiben, da das Weltgericht noch nicht unmittelbar bevorstehe? „Wenn wir
große Mühe haben, schreibt Gebhardt Seite 224, uns in die niedrige Lebens-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/180>, abgerufen am 01.09.2024.