Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Osten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

dem die preußischen Kön'ge entstammen, welch einen schrecklichen Zoll hat uns
dein Sprößling gebracht!" Nassau aber, der patriotische Großstaat, schloß um
diese Zeit ein Schutz- und Trutzbüudnis mit Frankreich ab (Zcmtrö ig. Q^eMtv
ZMWiöuns. Und solche Stimmungen fanden ihren lebhaften Wiederhall auch
im preußischen Westen, und was man dagegen sagte und schrieb, stieß im
Osten an. Der östlich-preußische Bureaukrat und der zugeknöpfte westliche
Patrizier paßten schlecht zu einander. Um diese Zeit war der Gegensatz
zwischen Osten und Westen am stärksten.

Da beginnt spinnengleich die Eisenbahn das Land zu bestricken. Eine neue
Zeit bricht an: Verkehr drängt Verkehr. Der Westen wird aufmerksam; die
engherzige Wupperthaler Patriziergesellschaft blickt auf nach Osten, wo sie ver¬
dienen kann, sie gründet in Breslau Filialen. Von Aachen, von Düren geht
man hinüber und kommt herüber. Freundschaften und Verwandtschaften bleiben
nicht aus. Noch heute finden sich dieselben Namen am Rhein und in Schlesien.
Der Osten ist noch roh, aber er verspricht doch viel. Es wandert Kapital
hin und schlägt die Brücke. Der Westen ist Industrieland, der Osten soll es
langsam werden. Es kommt die Vermittlung Stück für Stück: erst 1854
treten Hannover, Oldenburg, der "Steuerverein" dem Zollverein bei. Da
wird noch in den "Bemerkungen über die Zollvereinsergebnisse für das
siebente Semester 1854" die größere Wohlhabenheit Hannovers ausdrücklich
angeführt, insbesondre seine Abneigung gegen Surrogate, namentlich den
Rübenzucker. (!)

Es folgt die Schweißuug von 1866. Sie war so segensreich, weil sie nicht
nur ein örtliches, sondern auch ein wirtschaftliches Mittelglied schuf zwischen
Osten und Westen und bei Frankfurt die Brücke nach Süden hin schlug.
Hannover war etwas besondres; es war nicht Industrieland, aber auch nicht
Agrarstcmt. Jedenfalls war es wohlhabend und aufnahmefähig. Da zeigte
sich ein neues Absatzgebiet für beide Enden des Reichs.

Noch ist die Scheidung stark, denn die Natur giebt sie. Aber sie giebt
auch die Vermittlung. Mitten zwischen der oberschlesischen und der rheinischen
Kohle liegt die sächsische, und zwischen beiden schiebt sich die böhmische Braun¬
kohle ein. Im Königreich Sachsen entwickelt sich rasch eine Großindustrie, die
sich allmählich bis in die Lausitz fortpflanzt und den agrarischen Charakter
des Ostens verändert. Der Handel schlüge Brücken. Von der Ostsee geht
das Getreide nach Mannheim; aus Dcinzig und Königsberg kommt nicht nur
russische, sondern anch deutsche Fracht. Breslau, die alte Handelsstadt, hat
freilich die Artikel gewechselt, die es früher als Stapelplatz der slawischen Gaue
führte, aber sie handelt doch nach dem Westen. Schlesien, das "reiche Land,
die Perle in der Krone Preußens," exportirt, und zwar uicht nur Getreide
und uicht nur Produkte des oberschlesischen Hüttenreviers. Neue Gewerbs-
thütigkeit bricht sich Bahn: die Zuckerindnstrie, die chemische Industrie, die
Textilindustrie, die Industrie der Erde und der Steine. Und die Hauptsache: es


Grenzboten I 1396 U
Der Osten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

dem die preußischen Kön'ge entstammen, welch einen schrecklichen Zoll hat uns
dein Sprößling gebracht!" Nassau aber, der patriotische Großstaat, schloß um
diese Zeit ein Schutz- und Trutzbüudnis mit Frankreich ab (Zcmtrö ig. Q^eMtv
ZMWiöuns. Und solche Stimmungen fanden ihren lebhaften Wiederhall auch
im preußischen Westen, und was man dagegen sagte und schrieb, stieß im
Osten an. Der östlich-preußische Bureaukrat und der zugeknöpfte westliche
Patrizier paßten schlecht zu einander. Um diese Zeit war der Gegensatz
zwischen Osten und Westen am stärksten.

Da beginnt spinnengleich die Eisenbahn das Land zu bestricken. Eine neue
Zeit bricht an: Verkehr drängt Verkehr. Der Westen wird aufmerksam; die
engherzige Wupperthaler Patriziergesellschaft blickt auf nach Osten, wo sie ver¬
dienen kann, sie gründet in Breslau Filialen. Von Aachen, von Düren geht
man hinüber und kommt herüber. Freundschaften und Verwandtschaften bleiben
nicht aus. Noch heute finden sich dieselben Namen am Rhein und in Schlesien.
Der Osten ist noch roh, aber er verspricht doch viel. Es wandert Kapital
hin und schlägt die Brücke. Der Westen ist Industrieland, der Osten soll es
langsam werden. Es kommt die Vermittlung Stück für Stück: erst 1854
treten Hannover, Oldenburg, der „Steuerverein" dem Zollverein bei. Da
wird noch in den „Bemerkungen über die Zollvereinsergebnisse für das
siebente Semester 1854" die größere Wohlhabenheit Hannovers ausdrücklich
angeführt, insbesondre seine Abneigung gegen Surrogate, namentlich den
Rübenzucker. (!)

Es folgt die Schweißuug von 1866. Sie war so segensreich, weil sie nicht
nur ein örtliches, sondern auch ein wirtschaftliches Mittelglied schuf zwischen
Osten und Westen und bei Frankfurt die Brücke nach Süden hin schlug.
Hannover war etwas besondres; es war nicht Industrieland, aber auch nicht
Agrarstcmt. Jedenfalls war es wohlhabend und aufnahmefähig. Da zeigte
sich ein neues Absatzgebiet für beide Enden des Reichs.

Noch ist die Scheidung stark, denn die Natur giebt sie. Aber sie giebt
auch die Vermittlung. Mitten zwischen der oberschlesischen und der rheinischen
Kohle liegt die sächsische, und zwischen beiden schiebt sich die böhmische Braun¬
kohle ein. Im Königreich Sachsen entwickelt sich rasch eine Großindustrie, die
sich allmählich bis in die Lausitz fortpflanzt und den agrarischen Charakter
des Ostens verändert. Der Handel schlüge Brücken. Von der Ostsee geht
das Getreide nach Mannheim; aus Dcinzig und Königsberg kommt nicht nur
russische, sondern anch deutsche Fracht. Breslau, die alte Handelsstadt, hat
freilich die Artikel gewechselt, die es früher als Stapelplatz der slawischen Gaue
führte, aber sie handelt doch nach dem Westen. Schlesien, das „reiche Land,
die Perle in der Krone Preußens," exportirt, und zwar uicht nur Getreide
und uicht nur Produkte des oberschlesischen Hüttenreviers. Neue Gewerbs-
thütigkeit bricht sich Bahn: die Zuckerindnstrie, die chemische Industrie, die
Textilindustrie, die Industrie der Erde und der Steine. Und die Hauptsache: es


Grenzboten I 1396 U
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0017" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221663"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Osten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_27" prev="#ID_26"> dem die preußischen Kön'ge entstammen, welch einen schrecklichen Zoll hat uns<lb/>
dein Sprößling gebracht!" Nassau aber, der patriotische Großstaat, schloß um<lb/>
diese Zeit ein Schutz- und Trutzbüudnis mit Frankreich ab (Zcmtrö ig. Q^eMtv<lb/>
ZMWiöuns. Und solche Stimmungen fanden ihren lebhaften Wiederhall auch<lb/>
im preußischen Westen, und was man dagegen sagte und schrieb, stieß im<lb/>
Osten an. Der östlich-preußische Bureaukrat und der zugeknöpfte westliche<lb/>
Patrizier paßten schlecht zu einander. Um diese Zeit war der Gegensatz<lb/>
zwischen Osten und Westen am stärksten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_28"> Da beginnt spinnengleich die Eisenbahn das Land zu bestricken. Eine neue<lb/>
Zeit bricht an: Verkehr drängt Verkehr. Der Westen wird aufmerksam; die<lb/>
engherzige Wupperthaler Patriziergesellschaft blickt auf nach Osten, wo sie ver¬<lb/>
dienen kann, sie gründet in Breslau Filialen. Von Aachen, von Düren geht<lb/>
man hinüber und kommt herüber. Freundschaften und Verwandtschaften bleiben<lb/>
nicht aus. Noch heute finden sich dieselben Namen am Rhein und in Schlesien.<lb/>
Der Osten ist noch roh, aber er verspricht doch viel. Es wandert Kapital<lb/>
hin und schlägt die Brücke. Der Westen ist Industrieland, der Osten soll es<lb/>
langsam werden. Es kommt die Vermittlung Stück für Stück: erst 1854<lb/>
treten Hannover, Oldenburg, der &#x201E;Steuerverein" dem Zollverein bei. Da<lb/>
wird noch in den &#x201E;Bemerkungen über die Zollvereinsergebnisse für das<lb/>
siebente Semester 1854" die größere Wohlhabenheit Hannovers ausdrücklich<lb/>
angeführt, insbesondre seine Abneigung gegen Surrogate, namentlich den<lb/>
Rübenzucker. (!)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_29"> Es folgt die Schweißuug von 1866. Sie war so segensreich, weil sie nicht<lb/>
nur ein örtliches, sondern auch ein wirtschaftliches Mittelglied schuf zwischen<lb/>
Osten und Westen und bei Frankfurt die Brücke nach Süden hin schlug.<lb/>
Hannover war etwas besondres; es war nicht Industrieland, aber auch nicht<lb/>
Agrarstcmt. Jedenfalls war es wohlhabend und aufnahmefähig. Da zeigte<lb/>
sich ein neues Absatzgebiet für beide Enden des Reichs.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_30" next="#ID_31"> Noch ist die Scheidung stark, denn die Natur giebt sie. Aber sie giebt<lb/>
auch die Vermittlung. Mitten zwischen der oberschlesischen und der rheinischen<lb/>
Kohle liegt die sächsische, und zwischen beiden schiebt sich die böhmische Braun¬<lb/>
kohle ein. Im Königreich Sachsen entwickelt sich rasch eine Großindustrie, die<lb/>
sich allmählich bis in die Lausitz fortpflanzt und den agrarischen Charakter<lb/>
des Ostens verändert. Der Handel schlüge Brücken. Von der Ostsee geht<lb/>
das Getreide nach Mannheim; aus Dcinzig und Königsberg kommt nicht nur<lb/>
russische, sondern anch deutsche Fracht. Breslau, die alte Handelsstadt, hat<lb/>
freilich die Artikel gewechselt, die es früher als Stapelplatz der slawischen Gaue<lb/>
führte, aber sie handelt doch nach dem Westen. Schlesien, das &#x201E;reiche Land,<lb/>
die Perle in der Krone Preußens," exportirt, und zwar uicht nur Getreide<lb/>
und uicht nur Produkte des oberschlesischen Hüttenreviers. Neue Gewerbs-<lb/>
thütigkeit bricht sich Bahn: die Zuckerindnstrie, die chemische Industrie, die<lb/>
Textilindustrie, die Industrie der Erde und der Steine. Und die Hauptsache: es</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1396 U</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0017] Der Osten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich dem die preußischen Kön'ge entstammen, welch einen schrecklichen Zoll hat uns dein Sprößling gebracht!" Nassau aber, der patriotische Großstaat, schloß um diese Zeit ein Schutz- und Trutzbüudnis mit Frankreich ab (Zcmtrö ig. Q^eMtv ZMWiöuns. Und solche Stimmungen fanden ihren lebhaften Wiederhall auch im preußischen Westen, und was man dagegen sagte und schrieb, stieß im Osten an. Der östlich-preußische Bureaukrat und der zugeknöpfte westliche Patrizier paßten schlecht zu einander. Um diese Zeit war der Gegensatz zwischen Osten und Westen am stärksten. Da beginnt spinnengleich die Eisenbahn das Land zu bestricken. Eine neue Zeit bricht an: Verkehr drängt Verkehr. Der Westen wird aufmerksam; die engherzige Wupperthaler Patriziergesellschaft blickt auf nach Osten, wo sie ver¬ dienen kann, sie gründet in Breslau Filialen. Von Aachen, von Düren geht man hinüber und kommt herüber. Freundschaften und Verwandtschaften bleiben nicht aus. Noch heute finden sich dieselben Namen am Rhein und in Schlesien. Der Osten ist noch roh, aber er verspricht doch viel. Es wandert Kapital hin und schlägt die Brücke. Der Westen ist Industrieland, der Osten soll es langsam werden. Es kommt die Vermittlung Stück für Stück: erst 1854 treten Hannover, Oldenburg, der „Steuerverein" dem Zollverein bei. Da wird noch in den „Bemerkungen über die Zollvereinsergebnisse für das siebente Semester 1854" die größere Wohlhabenheit Hannovers ausdrücklich angeführt, insbesondre seine Abneigung gegen Surrogate, namentlich den Rübenzucker. (!) Es folgt die Schweißuug von 1866. Sie war so segensreich, weil sie nicht nur ein örtliches, sondern auch ein wirtschaftliches Mittelglied schuf zwischen Osten und Westen und bei Frankfurt die Brücke nach Süden hin schlug. Hannover war etwas besondres; es war nicht Industrieland, aber auch nicht Agrarstcmt. Jedenfalls war es wohlhabend und aufnahmefähig. Da zeigte sich ein neues Absatzgebiet für beide Enden des Reichs. Noch ist die Scheidung stark, denn die Natur giebt sie. Aber sie giebt auch die Vermittlung. Mitten zwischen der oberschlesischen und der rheinischen Kohle liegt die sächsische, und zwischen beiden schiebt sich die böhmische Braun¬ kohle ein. Im Königreich Sachsen entwickelt sich rasch eine Großindustrie, die sich allmählich bis in die Lausitz fortpflanzt und den agrarischen Charakter des Ostens verändert. Der Handel schlüge Brücken. Von der Ostsee geht das Getreide nach Mannheim; aus Dcinzig und Königsberg kommt nicht nur russische, sondern anch deutsche Fracht. Breslau, die alte Handelsstadt, hat freilich die Artikel gewechselt, die es früher als Stapelplatz der slawischen Gaue führte, aber sie handelt doch nach dem Westen. Schlesien, das „reiche Land, die Perle in der Krone Preußens," exportirt, und zwar uicht nur Getreide und uicht nur Produkte des oberschlesischen Hüttenreviers. Neue Gewerbs- thütigkeit bricht sich Bahn: die Zuckerindnstrie, die chemische Industrie, die Textilindustrie, die Industrie der Erde und der Steine. Und die Hauptsache: es Grenzboten I 1396 U

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/17
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/17>, abgerufen am 01.09.2024.