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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

sich gehabt haben, wie wir es vor uns haben, und daß das, was sie daraus gemacht
haben, auf ihre Rechnung zu setzen ist.

Eine sehr heikle Sache ist es mit dem Kütnerschen Stich, dein Professor His
so große Bedeutung beilegt, und der auf irgend eine Weise mit dem Ölbilde der
Petersschen Musikbibliothek zusammenhängt. Das Peterssche Bild ist in ein Oval gemalt,
der Kütnersche Stich in einen Kreis gezeichnet, der von dem auf den Kupferstichen
jener Zeit üblichen steinernen Rahmen eingefaßt ist. Die Hände fehlen in beiden
Bildern. Unten auf dem steinernen Rahmen aber liegt ein Blatt Papier mit dem¬
selben "ÜÄllon ti'ixlsx, den Bach auf dem Bilde der Thomasschule in der rechten
Hand hält. Der Stecher muß also beide Bilder gekannt haben. Nun ist der Stich,
wie am untern Rande zu lesen ist, 1774 in Leipzig gefertigt, wo Kütuer -- da¬
mals 24 Jahre alt -- wahrscheinlich Schüler der Zeichenakademie, auf jeden Fall
aber Schüler des Kupferstechers Banse war.*) 1774 war aber weder das heutige
Thomasschulbild uoch das heutige Peterssche Bild in Leipzig. Das erste war da¬
mals in Berlin im Besitz Friedemann Bachs (s. das Osterprogramm der Thomas¬
schule von 1852), das zweite war in Hamburg im Besitz Philipp Emanuel Bachs.
Wie kam ein Leipziger Akademieschülcr dazu, ein Bildnis Bachs in Kupfer zu
stechen, das die Kenntnis jener beiden Bilder voraussetzt? Ich kann es mir nur
auf folgende Weise erklären. Der Sohn Philipp Emanuel Bachs, der Maler
Johann Sebastian Bach, der 1778 jung in Rom gestorben ist, war jedenfalls 1774
Mitschüler Kütners in Leipzig -- wie hätte sonst Öser, der Akademiedirektor,
sein Bildnis zeichnen können, das nach seinem frühen Tode 1791 in der Neuen
Bibliothek der schönen Wissenschaften erschien? Dann ist es aber sehr wahrscheinlich,
daß die Vorlage zu Kütners Stich Zeichnungen von der Hand des jungen Bach gewesen
sind, die dieser ans dem Vaterhause und dem Hause des Oheims mitgebracht hatte.

Eine ganze Novelle, nicht wahr? Aber erkläre es doch einmal einer anders.
Ist aber der Kütnersche Stich auf diesem oder einem ähnlichen Umweg entstanden,
dann kann er auch keine selbständige Bedeutung beanspruchen. Er würde es uoch
tonnen, wenn das Bild der Petersschen Musikbibliothek nicht das Hausmannsche Ori¬
ginal, sondern eine spätere Kopie dcwou wäre. Das ist aber doch zunächst nicht
anzunehmen. Das Peterssche Bild unterscheidet sich allerdings auffällig von den
zahlreichen Hausmcmnschcn Bildnissen, die wir in Leipzig haben. Aber es ist ent¬
schieden früher gemalt als das Thomasschulbild, denn es zeigt Bach wesentlich
jünger als dies, zeigt ihn auch uoch in der Allongeperrücke; wir werden nicht irren,
wenn wir es uns um 1730, vielleicht sogar bald nach Bachs Anstellung in Leipzig
(1723) entstanden denken. Dann könnte es aber sehr gut von dem ältern Haus¬
mann, dem Vater Elias Gottlob Hausmanns, gemalt sein, der in den zwanziger
Jahren mehrfach in Leipzig beschäftigt gewesen ist. Jedenfalls bedarf die Sache
G. w. noch weiterer Untersuchung.


Florian Geyer.

Sonnabend den 4. Januar ist das sogenannte litterarische
Berlin, oder was sich dort "litterarisch" zu sein dünkt, mit dem neuesten Werke
von Gerhnrt Hauptmann, dem "Bühnenspiel" Florian Geyer, bekannt gemacht
worden. Man war äußerst gespannt gewesen wie auf ein bedeutendes Ereignis,
und was ein Teil des Publikums erwartet hatte, bewies die Anwesenheit der
Herren Singer und Liebknecht um Abend der ersten Aufführung im Deutschen
Theater. Aber alle, die mit großen ästhetische" oder politischen Erwartungen ge-



*) Kütuer war 1750 geboren und erhielt 1775 eine Stelle als Zeichenlehrer am Gym¬
nasium in Mitau, die er bis zu seinem Tode, 1823, innegehabt hat.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

sich gehabt haben, wie wir es vor uns haben, und daß das, was sie daraus gemacht
haben, auf ihre Rechnung zu setzen ist.

Eine sehr heikle Sache ist es mit dem Kütnerschen Stich, dein Professor His
so große Bedeutung beilegt, und der auf irgend eine Weise mit dem Ölbilde der
Petersschen Musikbibliothek zusammenhängt. Das Peterssche Bild ist in ein Oval gemalt,
der Kütnersche Stich in einen Kreis gezeichnet, der von dem auf den Kupferstichen
jener Zeit üblichen steinernen Rahmen eingefaßt ist. Die Hände fehlen in beiden
Bildern. Unten auf dem steinernen Rahmen aber liegt ein Blatt Papier mit dem¬
selben «ÜÄllon ti'ixlsx, den Bach auf dem Bilde der Thomasschule in der rechten
Hand hält. Der Stecher muß also beide Bilder gekannt haben. Nun ist der Stich,
wie am untern Rande zu lesen ist, 1774 in Leipzig gefertigt, wo Kütuer — da¬
mals 24 Jahre alt — wahrscheinlich Schüler der Zeichenakademie, auf jeden Fall
aber Schüler des Kupferstechers Banse war.*) 1774 war aber weder das heutige
Thomasschulbild uoch das heutige Peterssche Bild in Leipzig. Das erste war da¬
mals in Berlin im Besitz Friedemann Bachs (s. das Osterprogramm der Thomas¬
schule von 1852), das zweite war in Hamburg im Besitz Philipp Emanuel Bachs.
Wie kam ein Leipziger Akademieschülcr dazu, ein Bildnis Bachs in Kupfer zu
stechen, das die Kenntnis jener beiden Bilder voraussetzt? Ich kann es mir nur
auf folgende Weise erklären. Der Sohn Philipp Emanuel Bachs, der Maler
Johann Sebastian Bach, der 1778 jung in Rom gestorben ist, war jedenfalls 1774
Mitschüler Kütners in Leipzig — wie hätte sonst Öser, der Akademiedirektor,
sein Bildnis zeichnen können, das nach seinem frühen Tode 1791 in der Neuen
Bibliothek der schönen Wissenschaften erschien? Dann ist es aber sehr wahrscheinlich,
daß die Vorlage zu Kütners Stich Zeichnungen von der Hand des jungen Bach gewesen
sind, die dieser ans dem Vaterhause und dem Hause des Oheims mitgebracht hatte.

Eine ganze Novelle, nicht wahr? Aber erkläre es doch einmal einer anders.
Ist aber der Kütnersche Stich auf diesem oder einem ähnlichen Umweg entstanden,
dann kann er auch keine selbständige Bedeutung beanspruchen. Er würde es uoch
tonnen, wenn das Bild der Petersschen Musikbibliothek nicht das Hausmannsche Ori¬
ginal, sondern eine spätere Kopie dcwou wäre. Das ist aber doch zunächst nicht
anzunehmen. Das Peterssche Bild unterscheidet sich allerdings auffällig von den
zahlreichen Hausmcmnschcn Bildnissen, die wir in Leipzig haben. Aber es ist ent¬
schieden früher gemalt als das Thomasschulbild, denn es zeigt Bach wesentlich
jünger als dies, zeigt ihn auch uoch in der Allongeperrücke; wir werden nicht irren,
wenn wir es uns um 1730, vielleicht sogar bald nach Bachs Anstellung in Leipzig
(1723) entstanden denken. Dann könnte es aber sehr gut von dem ältern Haus¬
mann, dem Vater Elias Gottlob Hausmanns, gemalt sein, der in den zwanziger
Jahren mehrfach in Leipzig beschäftigt gewesen ist. Jedenfalls bedarf die Sache
G. w. noch weiterer Untersuchung.


Florian Geyer.

Sonnabend den 4. Januar ist das sogenannte litterarische
Berlin, oder was sich dort „litterarisch" zu sein dünkt, mit dem neuesten Werke
von Gerhnrt Hauptmann, dem „Bühnenspiel" Florian Geyer, bekannt gemacht
worden. Man war äußerst gespannt gewesen wie auf ein bedeutendes Ereignis,
und was ein Teil des Publikums erwartet hatte, bewies die Anwesenheit der
Herren Singer und Liebknecht um Abend der ersten Aufführung im Deutschen
Theater. Aber alle, die mit großen ästhetische» oder politischen Erwartungen ge-



*) Kütuer war 1750 geboren und erhielt 1775 eine Stelle als Zeichenlehrer am Gym¬
nasium in Mitau, die er bis zu seinem Tode, 1823, innegehabt hat.
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[0162] Maßgebliches und Unmaßgebliches sich gehabt haben, wie wir es vor uns haben, und daß das, was sie daraus gemacht haben, auf ihre Rechnung zu setzen ist. Eine sehr heikle Sache ist es mit dem Kütnerschen Stich, dein Professor His so große Bedeutung beilegt, und der auf irgend eine Weise mit dem Ölbilde der Petersschen Musikbibliothek zusammenhängt. Das Peterssche Bild ist in ein Oval gemalt, der Kütnersche Stich in einen Kreis gezeichnet, der von dem auf den Kupferstichen jener Zeit üblichen steinernen Rahmen eingefaßt ist. Die Hände fehlen in beiden Bildern. Unten auf dem steinernen Rahmen aber liegt ein Blatt Papier mit dem¬ selben «ÜÄllon ti'ixlsx, den Bach auf dem Bilde der Thomasschule in der rechten Hand hält. Der Stecher muß also beide Bilder gekannt haben. Nun ist der Stich, wie am untern Rande zu lesen ist, 1774 in Leipzig gefertigt, wo Kütuer — da¬ mals 24 Jahre alt — wahrscheinlich Schüler der Zeichenakademie, auf jeden Fall aber Schüler des Kupferstechers Banse war.*) 1774 war aber weder das heutige Thomasschulbild uoch das heutige Peterssche Bild in Leipzig. Das erste war da¬ mals in Berlin im Besitz Friedemann Bachs (s. das Osterprogramm der Thomas¬ schule von 1852), das zweite war in Hamburg im Besitz Philipp Emanuel Bachs. Wie kam ein Leipziger Akademieschülcr dazu, ein Bildnis Bachs in Kupfer zu stechen, das die Kenntnis jener beiden Bilder voraussetzt? Ich kann es mir nur auf folgende Weise erklären. Der Sohn Philipp Emanuel Bachs, der Maler Johann Sebastian Bach, der 1778 jung in Rom gestorben ist, war jedenfalls 1774 Mitschüler Kütners in Leipzig — wie hätte sonst Öser, der Akademiedirektor, sein Bildnis zeichnen können, das nach seinem frühen Tode 1791 in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften erschien? Dann ist es aber sehr wahrscheinlich, daß die Vorlage zu Kütners Stich Zeichnungen von der Hand des jungen Bach gewesen sind, die dieser ans dem Vaterhause und dem Hause des Oheims mitgebracht hatte. Eine ganze Novelle, nicht wahr? Aber erkläre es doch einmal einer anders. Ist aber der Kütnersche Stich auf diesem oder einem ähnlichen Umweg entstanden, dann kann er auch keine selbständige Bedeutung beanspruchen. Er würde es uoch tonnen, wenn das Bild der Petersschen Musikbibliothek nicht das Hausmannsche Ori¬ ginal, sondern eine spätere Kopie dcwou wäre. Das ist aber doch zunächst nicht anzunehmen. Das Peterssche Bild unterscheidet sich allerdings auffällig von den zahlreichen Hausmcmnschcn Bildnissen, die wir in Leipzig haben. Aber es ist ent¬ schieden früher gemalt als das Thomasschulbild, denn es zeigt Bach wesentlich jünger als dies, zeigt ihn auch uoch in der Allongeperrücke; wir werden nicht irren, wenn wir es uns um 1730, vielleicht sogar bald nach Bachs Anstellung in Leipzig (1723) entstanden denken. Dann könnte es aber sehr gut von dem ältern Haus¬ mann, dem Vater Elias Gottlob Hausmanns, gemalt sein, der in den zwanziger Jahren mehrfach in Leipzig beschäftigt gewesen ist. Jedenfalls bedarf die Sache G. w. noch weiterer Untersuchung. Florian Geyer. Sonnabend den 4. Januar ist das sogenannte litterarische Berlin, oder was sich dort „litterarisch" zu sein dünkt, mit dem neuesten Werke von Gerhnrt Hauptmann, dem „Bühnenspiel" Florian Geyer, bekannt gemacht worden. Man war äußerst gespannt gewesen wie auf ein bedeutendes Ereignis, und was ein Teil des Publikums erwartet hatte, bewies die Anwesenheit der Herren Singer und Liebknecht um Abend der ersten Aufführung im Deutschen Theater. Aber alle, die mit großen ästhetische» oder politischen Erwartungen ge- *) Kütuer war 1750 geboren und erhielt 1775 eine Stelle als Zeichenlehrer am Gym¬ nasium in Mitau, die er bis zu seinem Tode, 1823, innegehabt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/162>, abgerufen am 24.11.2024.