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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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"In der Bibel steht, es sei schwer, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe;
aber leichter noch geht das Kamel durch das Nadelöhr, als eine Nadel über
die französische Grenze." Die kleinen Staaten kujoniren einander aufs er¬
bärmlichste; oft ist der Rohstoff vom Fabrikat, das Halbfabrikat vom Ganz¬
fabrikat getrennt, die Manufaktur vom Markt, der Produzent vom Kon¬
sumenten.

Da kommt Napoleon und die Fremdherrschaft. Er ist es, der zuerst das
Land östlich und westlich von der Elbe auch politisch und ausdrücklich scheidet. Der
Rheinbund blüht empor, ein großes einheitliches Wirtschaftsgebiet. Der Kaiser
duldet keinerlei innere Schranken. Der Verkehr nimmt neuen Anlauf und braucht
an Frankreichs Grenzen nicht Halt zu machen. Ein Hauch der Freiheit weht
herein aus dem größern Lande, er giebt größern Blick, höhere Gesichtspunkte.
Die Kontinentalsperre schützt; rasch wächst Industrie heran, und das Land be¬
findet sich so wohl wie kaum zuvor. Wenn nur die Fremdherrschaft nicht
wäre! Aber die Fremdherrschaft fällt, sie fällt, noch ehe der große Kanal
von Paris über Maas und Scheide, Rhein, Weser und Elbe bis zum Schwarzen
Meer zur Ausführung kommt.

Nun war Osten und Westen ein Wirtschaftsgebiet, wenigstens soweit es
preußisch war. Aber das Antlitz des Westens blieb nach Frankreich gerichtet,
dessen Grenze sich ihm wieder schloß wie ein verbotenes Paradies. Wohl war
die nationale Begeisterung aufgeflammt, aber hinterher: was war hier der
Osten? Im Königreich Westfalen hatte man eine überaus einfache Verwaltung
gehabt, fern von jedem Bürokratismus. Hatten doch die großen Gründer
des Zollvereins, die Maaßen, Kühne, Motz, nach einander in König Jerümcs
Diensten gestanden; man hatte andern Wind um seiue Stirn gefühlt. Die
Kontinentalsperre fiel, und die junge Industrie kam in Not. Man schob es
auf den Osten. Der aber sah seinerseits scheel auf den Westen. Denn er hatte,
ausgesogen von kolossaler Kriegskontributivn, in höherm Maße die Opfer des
Freiheitskampfes getragen als der begüterte Westen. Und doch wandte sich
diesem zunächst das Interesse der Regierung zu. Zwar die Verordnung vom
16. Juni 1816 hatte auch für den Osten alle Wasser-, Binnen- und Prvvinzial-
zölle beseitigt, und er hatte seit dem Großen Kurfürsten und Friedrich II. ein
selbständiges gutes Kanalnetz. Aber sonst war ihm nichts geblieben, "als der
nackte thatkräftige Arm und die warme Sorge für den Rest der von Krieg
und Hunger verschonten Familienglieder."

Das gab nicht nur Fremdheit, das gab auch Gegensätze, die scharf genug
waren. Der berühmte preußische Tarif von 1818 schuf zwar Osten und Westen
endgiltig zu einem einzigen Wirtschaftsganzen. Aber es waren ungleiche Brüder,
die man zusammenschloß. Alle Feindschaft, die gegen diesen Tarif erstand, er¬
stand auch gegen seiue Geburtsstätte, den preußischen Osten. Der süddeutsche
Barde Biedermaier griff in die Saiten seiner württembergischen Leier und sang
im Stuttgarter Morgenblatt das schöne Distichon: "Hohenzollern, dn Schloß,


„In der Bibel steht, es sei schwer, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe;
aber leichter noch geht das Kamel durch das Nadelöhr, als eine Nadel über
die französische Grenze." Die kleinen Staaten kujoniren einander aufs er¬
bärmlichste; oft ist der Rohstoff vom Fabrikat, das Halbfabrikat vom Ganz¬
fabrikat getrennt, die Manufaktur vom Markt, der Produzent vom Kon¬
sumenten.

Da kommt Napoleon und die Fremdherrschaft. Er ist es, der zuerst das
Land östlich und westlich von der Elbe auch politisch und ausdrücklich scheidet. Der
Rheinbund blüht empor, ein großes einheitliches Wirtschaftsgebiet. Der Kaiser
duldet keinerlei innere Schranken. Der Verkehr nimmt neuen Anlauf und braucht
an Frankreichs Grenzen nicht Halt zu machen. Ein Hauch der Freiheit weht
herein aus dem größern Lande, er giebt größern Blick, höhere Gesichtspunkte.
Die Kontinentalsperre schützt; rasch wächst Industrie heran, und das Land be¬
findet sich so wohl wie kaum zuvor. Wenn nur die Fremdherrschaft nicht
wäre! Aber die Fremdherrschaft fällt, sie fällt, noch ehe der große Kanal
von Paris über Maas und Scheide, Rhein, Weser und Elbe bis zum Schwarzen
Meer zur Ausführung kommt.

Nun war Osten und Westen ein Wirtschaftsgebiet, wenigstens soweit es
preußisch war. Aber das Antlitz des Westens blieb nach Frankreich gerichtet,
dessen Grenze sich ihm wieder schloß wie ein verbotenes Paradies. Wohl war
die nationale Begeisterung aufgeflammt, aber hinterher: was war hier der
Osten? Im Königreich Westfalen hatte man eine überaus einfache Verwaltung
gehabt, fern von jedem Bürokratismus. Hatten doch die großen Gründer
des Zollvereins, die Maaßen, Kühne, Motz, nach einander in König Jerümcs
Diensten gestanden; man hatte andern Wind um seiue Stirn gefühlt. Die
Kontinentalsperre fiel, und die junge Industrie kam in Not. Man schob es
auf den Osten. Der aber sah seinerseits scheel auf den Westen. Denn er hatte,
ausgesogen von kolossaler Kriegskontributivn, in höherm Maße die Opfer des
Freiheitskampfes getragen als der begüterte Westen. Und doch wandte sich
diesem zunächst das Interesse der Regierung zu. Zwar die Verordnung vom
16. Juni 1816 hatte auch für den Osten alle Wasser-, Binnen- und Prvvinzial-
zölle beseitigt, und er hatte seit dem Großen Kurfürsten und Friedrich II. ein
selbständiges gutes Kanalnetz. Aber sonst war ihm nichts geblieben, „als der
nackte thatkräftige Arm und die warme Sorge für den Rest der von Krieg
und Hunger verschonten Familienglieder."

Das gab nicht nur Fremdheit, das gab auch Gegensätze, die scharf genug
waren. Der berühmte preußische Tarif von 1818 schuf zwar Osten und Westen
endgiltig zu einem einzigen Wirtschaftsganzen. Aber es waren ungleiche Brüder,
die man zusammenschloß. Alle Feindschaft, die gegen diesen Tarif erstand, er¬
stand auch gegen seiue Geburtsstätte, den preußischen Osten. Der süddeutsche
Barde Biedermaier griff in die Saiten seiner württembergischen Leier und sang
im Stuttgarter Morgenblatt das schöne Distichon: „Hohenzollern, dn Schloß,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/16>, abgerufen am 21.11.2024.