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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Über allen Gipfeln

den romantischen Kern des Buches bildet eine Liebesgeschichte, die sich zwischen
dem preußischen Legationsrat Erk von Friesen und der Malerin Madeleine
Valentin abspielt. Um ihn steht ein Kranz von handelnden Personen, die,
ebenso wie den Protagonisten und seine Geliebte, die Hauptstadt eines thürin¬
gischen Fürstentums aus dem Adel und den ersten Kreisen des Vürgerstaudes
hergiebt. So kurz die Liebesgeschichte ist -- sie hat allerdings ein Vorspiel
von sieben Jahren, die aber außerhalb ihres Rahmens liegt--, so hat sie doch
ihre ernsten Gefahren. Leider treten die Hindernisse, die sich der Vereinigung
der beiden Liebenden entgegenstellen, nicht von außen an sie heran, sondern
wachsen aus ihrem eignen thörichten Herzen hervor. Thorheiten werden nun
freilich überall in der Liebe gemacht, aber hier ist es denn doch zu schlimm.
Wenn sich die beiden nach ihrer siebenjährigen Trennung nur einmal recht
fest ins Auge hätten sehen wollen, so wäre all der Spektakel nicht notwendig
gewesen. Aber da das nicht geschieht, so wird die Entfremdung zwischen ihnen
immer größer, und Lene, die sonst, wie uns der Dichter versichert, ein ganz
vernünftiges Frauenzimmer ist, verlobt sich sogar mit einem Gelehrten, dem
fürstlichen Gartendirektor Dr. MI. Steinbach, der darüber fast sprachlos wird
und -- das ist ein wirklicher und wahrer Zug in der Zeichnung der Cha¬
raktere -- mit seinem Glücke nichts anzufangen weiß. Wenn er das gewußt
Hütte, so würde er aus die Verlobung möglichst bald die Hochzeit haben folgen
lassen, und der Legationsrat hätte das Nachsehen gehabt. Aber wo wäre
wohl jemals ein Gelehrter auf die Dauer einem Diplomaten überlegen ge¬
wesen! Dieser besinnt sich, nachdem er viele unkluge Streiche gemacht hat, auf
sein Handwerk und drangt, was er gleich von Anfang hätte thun sollen, seinen
Nebenbuhler noch im letzten Augenblick aus dein Wege. Durch eine geschickt
angelegte Intrigue -- moralisch ist sie nicht lockt er den Gelehrten auf ein
Schiff, das von der Regierung zur Verfolgung wissenschaftlicher Zwecke in den
Tropen ausgerüstet worden ist, und schickt ihn so ans vier Jahre in alle vier
Winde. Dadurch wird die Bahn wieder frei, und Lene, die zu der Einsicht
gelangt, daß mit dem für seine Pflanzen schwärmenden Botaniker besser Wissen¬
schaft zu treiben als Hochzeit zu halten ist, thut nnn auch dem Zuge ihres
Herzens nicht lange mehr Zwang an.

Wenn Heyse nur mit dieser Liebesgeschichte das Interesse Hütte fesseln
wollen, so würde er bei dem verstündigen Teile der Leser noch weniger Glück
haben, als er so schon hat. Aber der Dichter weiß, daß sich der Mensch mit
bloßer Romantik ebenso wenig abspeisen läßt wie mit trockner Philosophie,
und so muß eins dem andern helfen. Das eigentliche Spiel im Stück haben
die beiden Personen in den Händen, die nach dem Willen des Dichters die
Vertreter des "Nietzscheanismus" sind. Die eine kennt der Leser schon, es ist
der Legationsrat. Aber er ist noch nicht der vollständige Übermensch, der soll
er erst noch werden. Trotzdem, daß er vieler Menschen Länder gesehen und


Über allen Gipfeln

den romantischen Kern des Buches bildet eine Liebesgeschichte, die sich zwischen
dem preußischen Legationsrat Erk von Friesen und der Malerin Madeleine
Valentin abspielt. Um ihn steht ein Kranz von handelnden Personen, die,
ebenso wie den Protagonisten und seine Geliebte, die Hauptstadt eines thürin¬
gischen Fürstentums aus dem Adel und den ersten Kreisen des Vürgerstaudes
hergiebt. So kurz die Liebesgeschichte ist — sie hat allerdings ein Vorspiel
von sieben Jahren, die aber außerhalb ihres Rahmens liegt—, so hat sie doch
ihre ernsten Gefahren. Leider treten die Hindernisse, die sich der Vereinigung
der beiden Liebenden entgegenstellen, nicht von außen an sie heran, sondern
wachsen aus ihrem eignen thörichten Herzen hervor. Thorheiten werden nun
freilich überall in der Liebe gemacht, aber hier ist es denn doch zu schlimm.
Wenn sich die beiden nach ihrer siebenjährigen Trennung nur einmal recht
fest ins Auge hätten sehen wollen, so wäre all der Spektakel nicht notwendig
gewesen. Aber da das nicht geschieht, so wird die Entfremdung zwischen ihnen
immer größer, und Lene, die sonst, wie uns der Dichter versichert, ein ganz
vernünftiges Frauenzimmer ist, verlobt sich sogar mit einem Gelehrten, dem
fürstlichen Gartendirektor Dr. MI. Steinbach, der darüber fast sprachlos wird
und — das ist ein wirklicher und wahrer Zug in der Zeichnung der Cha¬
raktere — mit seinem Glücke nichts anzufangen weiß. Wenn er das gewußt
Hütte, so würde er aus die Verlobung möglichst bald die Hochzeit haben folgen
lassen, und der Legationsrat hätte das Nachsehen gehabt. Aber wo wäre
wohl jemals ein Gelehrter auf die Dauer einem Diplomaten überlegen ge¬
wesen! Dieser besinnt sich, nachdem er viele unkluge Streiche gemacht hat, auf
sein Handwerk und drangt, was er gleich von Anfang hätte thun sollen, seinen
Nebenbuhler noch im letzten Augenblick aus dein Wege. Durch eine geschickt
angelegte Intrigue — moralisch ist sie nicht lockt er den Gelehrten auf ein
Schiff, das von der Regierung zur Verfolgung wissenschaftlicher Zwecke in den
Tropen ausgerüstet worden ist, und schickt ihn so ans vier Jahre in alle vier
Winde. Dadurch wird die Bahn wieder frei, und Lene, die zu der Einsicht
gelangt, daß mit dem für seine Pflanzen schwärmenden Botaniker besser Wissen¬
schaft zu treiben als Hochzeit zu halten ist, thut nnn auch dem Zuge ihres
Herzens nicht lange mehr Zwang an.

Wenn Heyse nur mit dieser Liebesgeschichte das Interesse Hütte fesseln
wollen, so würde er bei dem verstündigen Teile der Leser noch weniger Glück
haben, als er so schon hat. Aber der Dichter weiß, daß sich der Mensch mit
bloßer Romantik ebenso wenig abspeisen läßt wie mit trockner Philosophie,
und so muß eins dem andern helfen. Das eigentliche Spiel im Stück haben
die beiden Personen in den Händen, die nach dem Willen des Dichters die
Vertreter des „Nietzscheanismus" sind. Die eine kennt der Leser schon, es ist
der Legationsrat. Aber er ist noch nicht der vollständige Übermensch, der soll
er erst noch werden. Trotzdem, daß er vieler Menschen Länder gesehen und


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[0146] Über allen Gipfeln den romantischen Kern des Buches bildet eine Liebesgeschichte, die sich zwischen dem preußischen Legationsrat Erk von Friesen und der Malerin Madeleine Valentin abspielt. Um ihn steht ein Kranz von handelnden Personen, die, ebenso wie den Protagonisten und seine Geliebte, die Hauptstadt eines thürin¬ gischen Fürstentums aus dem Adel und den ersten Kreisen des Vürgerstaudes hergiebt. So kurz die Liebesgeschichte ist — sie hat allerdings ein Vorspiel von sieben Jahren, die aber außerhalb ihres Rahmens liegt—, so hat sie doch ihre ernsten Gefahren. Leider treten die Hindernisse, die sich der Vereinigung der beiden Liebenden entgegenstellen, nicht von außen an sie heran, sondern wachsen aus ihrem eignen thörichten Herzen hervor. Thorheiten werden nun freilich überall in der Liebe gemacht, aber hier ist es denn doch zu schlimm. Wenn sich die beiden nach ihrer siebenjährigen Trennung nur einmal recht fest ins Auge hätten sehen wollen, so wäre all der Spektakel nicht notwendig gewesen. Aber da das nicht geschieht, so wird die Entfremdung zwischen ihnen immer größer, und Lene, die sonst, wie uns der Dichter versichert, ein ganz vernünftiges Frauenzimmer ist, verlobt sich sogar mit einem Gelehrten, dem fürstlichen Gartendirektor Dr. MI. Steinbach, der darüber fast sprachlos wird und — das ist ein wirklicher und wahrer Zug in der Zeichnung der Cha¬ raktere — mit seinem Glücke nichts anzufangen weiß. Wenn er das gewußt Hütte, so würde er aus die Verlobung möglichst bald die Hochzeit haben folgen lassen, und der Legationsrat hätte das Nachsehen gehabt. Aber wo wäre wohl jemals ein Gelehrter auf die Dauer einem Diplomaten überlegen ge¬ wesen! Dieser besinnt sich, nachdem er viele unkluge Streiche gemacht hat, auf sein Handwerk und drangt, was er gleich von Anfang hätte thun sollen, seinen Nebenbuhler noch im letzten Augenblick aus dein Wege. Durch eine geschickt angelegte Intrigue — moralisch ist sie nicht lockt er den Gelehrten auf ein Schiff, das von der Regierung zur Verfolgung wissenschaftlicher Zwecke in den Tropen ausgerüstet worden ist, und schickt ihn so ans vier Jahre in alle vier Winde. Dadurch wird die Bahn wieder frei, und Lene, die zu der Einsicht gelangt, daß mit dem für seine Pflanzen schwärmenden Botaniker besser Wissen¬ schaft zu treiben als Hochzeit zu halten ist, thut nnn auch dem Zuge ihres Herzens nicht lange mehr Zwang an. Wenn Heyse nur mit dieser Liebesgeschichte das Interesse Hütte fesseln wollen, so würde er bei dem verstündigen Teile der Leser noch weniger Glück haben, als er so schon hat. Aber der Dichter weiß, daß sich der Mensch mit bloßer Romantik ebenso wenig abspeisen läßt wie mit trockner Philosophie, und so muß eins dem andern helfen. Das eigentliche Spiel im Stück haben die beiden Personen in den Händen, die nach dem Willen des Dichters die Vertreter des „Nietzscheanismus" sind. Die eine kennt der Leser schon, es ist der Legationsrat. Aber er ist noch nicht der vollständige Übermensch, der soll er erst noch werden. Trotzdem, daß er vieler Menschen Länder gesehen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/146>, abgerufen am 01.09.2024.