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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Über allen Gipfeln

Wir wissen uns frei von der bleichen Furcht vor dem jetzt wieder um¬
gehenden Umstnrzgespenste. Wir glauben auch nicht, daß die sächsische Sozial-
demokratie nun schleunigst ihr Heimatland umstürzen werde, selbst wenn sie eine
tiefeinschncidende Verkümmerung ihrer politischen Rechte erlitten haben wird. Es
kann aber doch, so sollten wir meinen, den Staatsmännern eines deutschen Einzel¬
staates nicht ganz gleichgiltig sein, wenn seine Sonderexistenz etwa von der Hälfte
der eignen Unterthanen angefeindet wird. Wir leben im Zeitalter der politischen
Überraschungen. Glaubt man ungestraft die Axt an die eine Bestimmung der
Reichsverfassung, z. B. an das allgemeine Wahlrecht legen zu können, so können
leicht auch andre, so kann der ganze bundesstaatliche Aufbau des Reiches
ins Warte" kommen. Wir bezweifeln, daß die Volksvertretung eines Einzel¬
staates, die nur von etwa 20 Prozent des Volkes berufen über ihm gewisser¬
maßen in der Lust schwebt, eine zuverlässige Stütze auch des staatsrechtlichen
Verhältnisses zum Reiche sein werde. Man sollte nicht vergessen, daß sich die
ehemaligen "Annexionisten" seiner Zeit fast ausschießlich aus den besitzenden
Klassen rekrutirten. Ein so hoch entwickelter Industriestaat wie Sachsen sollte
doch, wie es z. B. in dem hochindustriellen England gelungen ist, zu dem
Hauptstock seiner Bevölkerung, den Industriearbeitern, ein Verhältnis finden
können, daß sie ihn liebgewinnen und auf Gedeih und Verderb auch mit ihn:
und nicht bloß mit dem Neichsgmizen verbunden bleiben wollen.

Wir glauben ja nicht, daß unsre Worte die staatserhaltenden der säch¬
sischen Kammer von ihrem Vorhaben abbringen werden. Wir wünschen nur,
daß sie sich dabei der unter Umständen sehr weittragenden Folgen ihres
Schrittes bewußt bleiben möchten. Die äußerliche Ruhe, die der nichtsozial-
demvkratische Teil der Bevölkerung jetzt noch ausweist, ist trügerisch. Die
Entfernung des einen oder des andern Nadauredners aus den behaglichen
Räumen des Dresdner Landhauses könnte mit der dauernden Entfremdung
bis jetzt zufriedner und gut sächsisch gesinnter Volksteile leicht zu derer be¬
zahlt sein.




Über allen Gipfeln")

el Gelegenheit eines Protestes gegen die glücklicherweise zu Grabe
getragne Umsturzvorlage hat Paul Heyse in der Zukunft erklärt,
daß, da er bereits in seinein letzten großen Roman, dem "Merlin,"
sein Glaubensbekenntnis dentlich genug ausgesprochen habe, dies
doch wohl den Zionswächtern der neuen Vorlage gegenüber nicht
mehr nötig sei. Hieran kann den unbefangnen Leser zweierlei Wunder nehmen.



") Roman von Paul Heyse. Berlin, W. Hertz, 1395.
Über allen Gipfeln

Wir wissen uns frei von der bleichen Furcht vor dem jetzt wieder um¬
gehenden Umstnrzgespenste. Wir glauben auch nicht, daß die sächsische Sozial-
demokratie nun schleunigst ihr Heimatland umstürzen werde, selbst wenn sie eine
tiefeinschncidende Verkümmerung ihrer politischen Rechte erlitten haben wird. Es
kann aber doch, so sollten wir meinen, den Staatsmännern eines deutschen Einzel¬
staates nicht ganz gleichgiltig sein, wenn seine Sonderexistenz etwa von der Hälfte
der eignen Unterthanen angefeindet wird. Wir leben im Zeitalter der politischen
Überraschungen. Glaubt man ungestraft die Axt an die eine Bestimmung der
Reichsverfassung, z. B. an das allgemeine Wahlrecht legen zu können, so können
leicht auch andre, so kann der ganze bundesstaatliche Aufbau des Reiches
ins Warte« kommen. Wir bezweifeln, daß die Volksvertretung eines Einzel¬
staates, die nur von etwa 20 Prozent des Volkes berufen über ihm gewisser¬
maßen in der Lust schwebt, eine zuverlässige Stütze auch des staatsrechtlichen
Verhältnisses zum Reiche sein werde. Man sollte nicht vergessen, daß sich die
ehemaligen „Annexionisten" seiner Zeit fast ausschießlich aus den besitzenden
Klassen rekrutirten. Ein so hoch entwickelter Industriestaat wie Sachsen sollte
doch, wie es z. B. in dem hochindustriellen England gelungen ist, zu dem
Hauptstock seiner Bevölkerung, den Industriearbeitern, ein Verhältnis finden
können, daß sie ihn liebgewinnen und auf Gedeih und Verderb auch mit ihn:
und nicht bloß mit dem Neichsgmizen verbunden bleiben wollen.

Wir glauben ja nicht, daß unsre Worte die staatserhaltenden der säch¬
sischen Kammer von ihrem Vorhaben abbringen werden. Wir wünschen nur,
daß sie sich dabei der unter Umständen sehr weittragenden Folgen ihres
Schrittes bewußt bleiben möchten. Die äußerliche Ruhe, die der nichtsozial-
demvkratische Teil der Bevölkerung jetzt noch ausweist, ist trügerisch. Die
Entfernung des einen oder des andern Nadauredners aus den behaglichen
Räumen des Dresdner Landhauses könnte mit der dauernden Entfremdung
bis jetzt zufriedner und gut sächsisch gesinnter Volksteile leicht zu derer be¬
zahlt sein.




Über allen Gipfeln")

el Gelegenheit eines Protestes gegen die glücklicherweise zu Grabe
getragne Umsturzvorlage hat Paul Heyse in der Zukunft erklärt,
daß, da er bereits in seinein letzten großen Roman, dem „Merlin,"
sein Glaubensbekenntnis dentlich genug ausgesprochen habe, dies
doch wohl den Zionswächtern der neuen Vorlage gegenüber nicht
mehr nötig sei. Hieran kann den unbefangnen Leser zweierlei Wunder nehmen.



») Roman von Paul Heyse. Berlin, W. Hertz, 1395.
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[0142] Über allen Gipfeln Wir wissen uns frei von der bleichen Furcht vor dem jetzt wieder um¬ gehenden Umstnrzgespenste. Wir glauben auch nicht, daß die sächsische Sozial- demokratie nun schleunigst ihr Heimatland umstürzen werde, selbst wenn sie eine tiefeinschncidende Verkümmerung ihrer politischen Rechte erlitten haben wird. Es kann aber doch, so sollten wir meinen, den Staatsmännern eines deutschen Einzel¬ staates nicht ganz gleichgiltig sein, wenn seine Sonderexistenz etwa von der Hälfte der eignen Unterthanen angefeindet wird. Wir leben im Zeitalter der politischen Überraschungen. Glaubt man ungestraft die Axt an die eine Bestimmung der Reichsverfassung, z. B. an das allgemeine Wahlrecht legen zu können, so können leicht auch andre, so kann der ganze bundesstaatliche Aufbau des Reiches ins Warte« kommen. Wir bezweifeln, daß die Volksvertretung eines Einzel¬ staates, die nur von etwa 20 Prozent des Volkes berufen über ihm gewisser¬ maßen in der Lust schwebt, eine zuverlässige Stütze auch des staatsrechtlichen Verhältnisses zum Reiche sein werde. Man sollte nicht vergessen, daß sich die ehemaligen „Annexionisten" seiner Zeit fast ausschießlich aus den besitzenden Klassen rekrutirten. Ein so hoch entwickelter Industriestaat wie Sachsen sollte doch, wie es z. B. in dem hochindustriellen England gelungen ist, zu dem Hauptstock seiner Bevölkerung, den Industriearbeitern, ein Verhältnis finden können, daß sie ihn liebgewinnen und auf Gedeih und Verderb auch mit ihn: und nicht bloß mit dem Neichsgmizen verbunden bleiben wollen. Wir glauben ja nicht, daß unsre Worte die staatserhaltenden der säch¬ sischen Kammer von ihrem Vorhaben abbringen werden. Wir wünschen nur, daß sie sich dabei der unter Umständen sehr weittragenden Folgen ihres Schrittes bewußt bleiben möchten. Die äußerliche Ruhe, die der nichtsozial- demvkratische Teil der Bevölkerung jetzt noch ausweist, ist trügerisch. Die Entfernung des einen oder des andern Nadauredners aus den behaglichen Räumen des Dresdner Landhauses könnte mit der dauernden Entfremdung bis jetzt zufriedner und gut sächsisch gesinnter Volksteile leicht zu derer be¬ zahlt sein. Über allen Gipfeln") el Gelegenheit eines Protestes gegen die glücklicherweise zu Grabe getragne Umsturzvorlage hat Paul Heyse in der Zukunft erklärt, daß, da er bereits in seinein letzten großen Roman, dem „Merlin," sein Glaubensbekenntnis dentlich genug ausgesprochen habe, dies doch wohl den Zionswächtern der neuen Vorlage gegenüber nicht mehr nötig sei. Hieran kann den unbefangnen Leser zweierlei Wunder nehmen. ») Roman von Paul Heyse. Berlin, W. Hertz, 1395.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/142>, abgerufen am 27.11.2024.