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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Gsten und der kochten des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

Es wird jetzt so viel geschmühlt über die Roheit der Interessenpolitik,
und doch ist das sehr falsch. Aus vielen Steinen baut man ein Haus, aus
vielen Interessen bildet sich der Staat. Aber die Steine müssen gegen
einander abgepaßt werden, sonst geben sie kein Ganzes; scharfe Kanten und
Ecken fallen dabei weg, sie schleifen sich von selber ab. Früher freilich liebte
man es, seinen Interessen ein Mäntelchen umzuhängen. Ich ziehe den
jetzigen Zustand vor: kehrt eure Interessen heraus und gleicht sie im Staate
gegen einander aus, und worüber ihr euch nicht einigen könnt, das wird un¬
erbittlich hinweggefegt von den wirtschaftlichen Gewalten, die auch ohne Zuthun
des Einzelnen unablässig arbeiten an dem Ausgleich, an der Herstellung des
Gleichgewichts, am sozialen Frieden.

Unstreitig ist die erste dieser Gewalten der Verkehr. Das ist so richtig,
daß man sagen kann: Interessengegensätze entstehen, wo kein Verkehr ist. Ober¬
deutschland blühte empor und zog nach der Levante; Niederdeutschland ward
stark und erbaute von der Hanse Gnaden seine Faktoreien im Norden. Keiner
wußte vom andern. Oberdeutschland zog nach Italien, nach Bologna, um
dort im römischen Geist seine Bildung zu suchen; Niederdeutschland studirte
in Leyden und schuf die Richtung des Humanismus, die den Reformatoren
die Wege geebnet hat. Sie wußten wenig von einander, und weil es am be¬
fruchtenden Verkehr zwischen ihnen fehlte, so ging ein Riß durch die Nation,
ein Riß im wirtschaftlichen, ein Riß im geistigen Leben. Hätte der alte Grundsatz
des Udsrum eominöi'vom, des freien Verkehrs, nicht bloß in Bullen und
Büchern gestanden, wäre er im alten deutschen Reich lebendig geblieben, es
Hütte nicht zerfallen können. Und erst als im Zollverein die Verkehrseinheit ge¬
funden war, konnte sich das neue Reich zusammenfinden. Als aber noch siebzehn
Zoll- und Verkehrsgrenzen zwischen Köln und Posen lagen, sagte mit Recht
der geistreiche Abb<z de Pratt: "Die Deutschen sind eingesperrt wie Menagerie¬
tiere in den Käfigen; sie können einander brüllen hören, aber nicht zu einander
gelangen, denn es sind Gitter im Wege."

Um im Bilde zu bleiben: es wird jetzt wieder gebrüllt. Die Käfige sind
größer, die Tiere sind größer, ihr Kampf würde folgenschwerer sein, wenn
sie einander in die Haare geraten sollten. Da kommt der Rhein-Weser-Elbe-
kanal und wird als Thür zwischen beiden Käfigen aufgezogen: was Wunder,
der schwächere fürchtet sich, er sucht sich zu schützen, die Thür wieder zu¬
zuschlagen, und das Ergebnis ist -- Ablehnung des Dortmund-Rheinkanals
im preußischen Landtage.

Doch lassen wir das häßliche Bild, und untersuchen wir den zwischen Osten
und Westen zu Tage getretenen Gegensatz auf seine Berechtigung. Wo kommt
er her? Wie ist er entstanden? Er besteht von Alters her, das wissen wir
alle, er ist geschichtlich geworden. Sehen wir zu, wie das gekommen ist.

Wenn man auf die deutschen Stämme zur Zeit der Völkerwanderung hin¬
blickt, auf das Chaos, das damals war, so kann man Deutschland mit einem


Der Gsten und der kochten des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

Es wird jetzt so viel geschmühlt über die Roheit der Interessenpolitik,
und doch ist das sehr falsch. Aus vielen Steinen baut man ein Haus, aus
vielen Interessen bildet sich der Staat. Aber die Steine müssen gegen
einander abgepaßt werden, sonst geben sie kein Ganzes; scharfe Kanten und
Ecken fallen dabei weg, sie schleifen sich von selber ab. Früher freilich liebte
man es, seinen Interessen ein Mäntelchen umzuhängen. Ich ziehe den
jetzigen Zustand vor: kehrt eure Interessen heraus und gleicht sie im Staate
gegen einander aus, und worüber ihr euch nicht einigen könnt, das wird un¬
erbittlich hinweggefegt von den wirtschaftlichen Gewalten, die auch ohne Zuthun
des Einzelnen unablässig arbeiten an dem Ausgleich, an der Herstellung des
Gleichgewichts, am sozialen Frieden.

Unstreitig ist die erste dieser Gewalten der Verkehr. Das ist so richtig,
daß man sagen kann: Interessengegensätze entstehen, wo kein Verkehr ist. Ober¬
deutschland blühte empor und zog nach der Levante; Niederdeutschland ward
stark und erbaute von der Hanse Gnaden seine Faktoreien im Norden. Keiner
wußte vom andern. Oberdeutschland zog nach Italien, nach Bologna, um
dort im römischen Geist seine Bildung zu suchen; Niederdeutschland studirte
in Leyden und schuf die Richtung des Humanismus, die den Reformatoren
die Wege geebnet hat. Sie wußten wenig von einander, und weil es am be¬
fruchtenden Verkehr zwischen ihnen fehlte, so ging ein Riß durch die Nation,
ein Riß im wirtschaftlichen, ein Riß im geistigen Leben. Hätte der alte Grundsatz
des Udsrum eominöi'vom, des freien Verkehrs, nicht bloß in Bullen und
Büchern gestanden, wäre er im alten deutschen Reich lebendig geblieben, es
Hütte nicht zerfallen können. Und erst als im Zollverein die Verkehrseinheit ge¬
funden war, konnte sich das neue Reich zusammenfinden. Als aber noch siebzehn
Zoll- und Verkehrsgrenzen zwischen Köln und Posen lagen, sagte mit Recht
der geistreiche Abb<z de Pratt: „Die Deutschen sind eingesperrt wie Menagerie¬
tiere in den Käfigen; sie können einander brüllen hören, aber nicht zu einander
gelangen, denn es sind Gitter im Wege."

Um im Bilde zu bleiben: es wird jetzt wieder gebrüllt. Die Käfige sind
größer, die Tiere sind größer, ihr Kampf würde folgenschwerer sein, wenn
sie einander in die Haare geraten sollten. Da kommt der Rhein-Weser-Elbe-
kanal und wird als Thür zwischen beiden Käfigen aufgezogen: was Wunder,
der schwächere fürchtet sich, er sucht sich zu schützen, die Thür wieder zu¬
zuschlagen, und das Ergebnis ist — Ablehnung des Dortmund-Rheinkanals
im preußischen Landtage.

Doch lassen wir das häßliche Bild, und untersuchen wir den zwischen Osten
und Westen zu Tage getretenen Gegensatz auf seine Berechtigung. Wo kommt
er her? Wie ist er entstanden? Er besteht von Alters her, das wissen wir
alle, er ist geschichtlich geworden. Sehen wir zu, wie das gekommen ist.

Wenn man auf die deutschen Stämme zur Zeit der Völkerwanderung hin¬
blickt, auf das Chaos, das damals war, so kann man Deutschland mit einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/14>, abgerufen am 28.11.2024.