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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Tandtagsivahlrecht in Sachsen

so vollständidig den Wünschen und Bedürfnissen einer großen Volksmehrheit
entsprochen hätten. Der Satz Haistg. non rnovErv war vielleicht niemals mehr
am Platze als hier. Es ist richtig, daß die Sozialdemokratie ans jeden Landtag
und so auch jetzt wieder mit dem Antrag auf Einführung des allgemeinen
gleichen Wahlrechts und auf Herabsetzung der Altersgrenze von 25 auf 21 Jahre
gekommen ist. Er war aber von jeher so aussichtslos, daß man ihn -- ganz
mit Recht -- gar keiner Diskussion gewürdigt hat. Wenn er diesmal mit
einem "Gegenstoß" erwidert worden ist, auf den die Taktiker der Kammer¬
mehrheit nicht wenig stolz sind, so kann man den Sozialdemokraten von Herzen
gönnen, das ihnen das Zweischneidige und Gefährliche, an dem bestehenden
Verfassungsrecht ohne alle Not herumzumodeln, einmal recht nachdrücklich zu
Gemüte geführt worden ist. Auf einen Theaterkoup einen andern, auf einen
Schelmen anderthnlben -- ganz damit einverstanden. Aber etwas ganz andres
ist es, aus so harmlosen Demonstrationen bittern Ernst zu machen, dem Gegner
nicht bloß die stumpfen Bühnenwaffen aus der Hand zu schlagen, sondern ihn
ein für allemal mundtot machen zu wollen. Am tiefsten zu bedauern ist aber,
daß nun auch die Regierung zu der vvrgeschlagnen Abänderung des Wahl¬
rechts die Hand bieten zu wollen erklärt hat.

Wir lassen uns hier auf die Theorie des besten und vollkommensten Wahl¬
rechts nicht ein. Jedenfalls gilt das Dreiklassenwahlrecht deshalb mit Recht
für das schlechteste, weil es in seiner unvermeidlichen plutokratischen Ausge¬
staltung so nackt und brutal wie kein andres die Absicht zur Schau trägt, mit
Hilfe der beiden obersten Klassen, sagen wir von fünf und fünfzehn Prozent der
Besitzenden, den Nest der achtzig Prozent Besitzlosen jederzeit niederzustimmen.
Glaubt man wirklich, in Zeiten eines überaus empfindlich gewordnen Rechts¬
gefühls mit diesem Wahlsystem einen Rechtszustand schaffen zu können, der
jemals Aussicht hat, anch nur von den ruhig urteilenden Staatsbürgern als
eine billige und gerechte Verteilung der öffentlichen Rechte anerkannt zu
werden?

Die sächsische Bevölkerung ist dnrch ihre Intelligenz, ihren Fleiß und ihre
Gutartigkeit bekannt. Sie ist politisch leicht erregt, aber auch leicht wieder er¬
schlafft. Lebhafte Teilnahme an der Reichspolitik steht in merkwürdigem Gegensatz
zu einer fast stumpfen Gleichgültigkeit gegen die eignen Landesangelegenheiten,
soweit sie über die nächsten Kirchturminteressen hinausragen. Diese Teilnahm¬
losigkeit und Unkenntms erklärt sich bis zu einem gewissen Grade daraus,
daß ein großer Teil der heutigen sächsischen Bevölkerung ans den angrenzenden
Reichsgebieten zugewandert ist. Sie wird aber namentlich auch gefördert
dnrch eine Lokalpresse, die, soweit sie überhaupt Politik treibt, sich beinahe
ängstlich hütet, Fragen von allgemeinem sächsischen Staatsinteresse auch nur
zu berühren. In der ganzen sächsischen bürgerlichen Presse kann eigentlich
nur ein einziges Blatt den Anspruch erheben, als sogenanntes großes Tages-


Das Tandtagsivahlrecht in Sachsen

so vollständidig den Wünschen und Bedürfnissen einer großen Volksmehrheit
entsprochen hätten. Der Satz Haistg. non rnovErv war vielleicht niemals mehr
am Platze als hier. Es ist richtig, daß die Sozialdemokratie ans jeden Landtag
und so auch jetzt wieder mit dem Antrag auf Einführung des allgemeinen
gleichen Wahlrechts und auf Herabsetzung der Altersgrenze von 25 auf 21 Jahre
gekommen ist. Er war aber von jeher so aussichtslos, daß man ihn — ganz
mit Recht — gar keiner Diskussion gewürdigt hat. Wenn er diesmal mit
einem „Gegenstoß" erwidert worden ist, auf den die Taktiker der Kammer¬
mehrheit nicht wenig stolz sind, so kann man den Sozialdemokraten von Herzen
gönnen, das ihnen das Zweischneidige und Gefährliche, an dem bestehenden
Verfassungsrecht ohne alle Not herumzumodeln, einmal recht nachdrücklich zu
Gemüte geführt worden ist. Auf einen Theaterkoup einen andern, auf einen
Schelmen anderthnlben — ganz damit einverstanden. Aber etwas ganz andres
ist es, aus so harmlosen Demonstrationen bittern Ernst zu machen, dem Gegner
nicht bloß die stumpfen Bühnenwaffen aus der Hand zu schlagen, sondern ihn
ein für allemal mundtot machen zu wollen. Am tiefsten zu bedauern ist aber,
daß nun auch die Regierung zu der vvrgeschlagnen Abänderung des Wahl¬
rechts die Hand bieten zu wollen erklärt hat.

Wir lassen uns hier auf die Theorie des besten und vollkommensten Wahl¬
rechts nicht ein. Jedenfalls gilt das Dreiklassenwahlrecht deshalb mit Recht
für das schlechteste, weil es in seiner unvermeidlichen plutokratischen Ausge¬
staltung so nackt und brutal wie kein andres die Absicht zur Schau trägt, mit
Hilfe der beiden obersten Klassen, sagen wir von fünf und fünfzehn Prozent der
Besitzenden, den Nest der achtzig Prozent Besitzlosen jederzeit niederzustimmen.
Glaubt man wirklich, in Zeiten eines überaus empfindlich gewordnen Rechts¬
gefühls mit diesem Wahlsystem einen Rechtszustand schaffen zu können, der
jemals Aussicht hat, anch nur von den ruhig urteilenden Staatsbürgern als
eine billige und gerechte Verteilung der öffentlichen Rechte anerkannt zu
werden?

Die sächsische Bevölkerung ist dnrch ihre Intelligenz, ihren Fleiß und ihre
Gutartigkeit bekannt. Sie ist politisch leicht erregt, aber auch leicht wieder er¬
schlafft. Lebhafte Teilnahme an der Reichspolitik steht in merkwürdigem Gegensatz
zu einer fast stumpfen Gleichgültigkeit gegen die eignen Landesangelegenheiten,
soweit sie über die nächsten Kirchturminteressen hinausragen. Diese Teilnahm¬
losigkeit und Unkenntms erklärt sich bis zu einem gewissen Grade daraus,
daß ein großer Teil der heutigen sächsischen Bevölkerung ans den angrenzenden
Reichsgebieten zugewandert ist. Sie wird aber namentlich auch gefördert
dnrch eine Lokalpresse, die, soweit sie überhaupt Politik treibt, sich beinahe
ängstlich hütet, Fragen von allgemeinem sächsischen Staatsinteresse auch nur
zu berühren. In der ganzen sächsischen bürgerlichen Presse kann eigentlich
nur ein einziges Blatt den Anspruch erheben, als sogenanntes großes Tages-


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[0139] Das Tandtagsivahlrecht in Sachsen so vollständidig den Wünschen und Bedürfnissen einer großen Volksmehrheit entsprochen hätten. Der Satz Haistg. non rnovErv war vielleicht niemals mehr am Platze als hier. Es ist richtig, daß die Sozialdemokratie ans jeden Landtag und so auch jetzt wieder mit dem Antrag auf Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts und auf Herabsetzung der Altersgrenze von 25 auf 21 Jahre gekommen ist. Er war aber von jeher so aussichtslos, daß man ihn — ganz mit Recht — gar keiner Diskussion gewürdigt hat. Wenn er diesmal mit einem „Gegenstoß" erwidert worden ist, auf den die Taktiker der Kammer¬ mehrheit nicht wenig stolz sind, so kann man den Sozialdemokraten von Herzen gönnen, das ihnen das Zweischneidige und Gefährliche, an dem bestehenden Verfassungsrecht ohne alle Not herumzumodeln, einmal recht nachdrücklich zu Gemüte geführt worden ist. Auf einen Theaterkoup einen andern, auf einen Schelmen anderthnlben — ganz damit einverstanden. Aber etwas ganz andres ist es, aus so harmlosen Demonstrationen bittern Ernst zu machen, dem Gegner nicht bloß die stumpfen Bühnenwaffen aus der Hand zu schlagen, sondern ihn ein für allemal mundtot machen zu wollen. Am tiefsten zu bedauern ist aber, daß nun auch die Regierung zu der vvrgeschlagnen Abänderung des Wahl¬ rechts die Hand bieten zu wollen erklärt hat. Wir lassen uns hier auf die Theorie des besten und vollkommensten Wahl¬ rechts nicht ein. Jedenfalls gilt das Dreiklassenwahlrecht deshalb mit Recht für das schlechteste, weil es in seiner unvermeidlichen plutokratischen Ausge¬ staltung so nackt und brutal wie kein andres die Absicht zur Schau trägt, mit Hilfe der beiden obersten Klassen, sagen wir von fünf und fünfzehn Prozent der Besitzenden, den Nest der achtzig Prozent Besitzlosen jederzeit niederzustimmen. Glaubt man wirklich, in Zeiten eines überaus empfindlich gewordnen Rechts¬ gefühls mit diesem Wahlsystem einen Rechtszustand schaffen zu können, der jemals Aussicht hat, anch nur von den ruhig urteilenden Staatsbürgern als eine billige und gerechte Verteilung der öffentlichen Rechte anerkannt zu werden? Die sächsische Bevölkerung ist dnrch ihre Intelligenz, ihren Fleiß und ihre Gutartigkeit bekannt. Sie ist politisch leicht erregt, aber auch leicht wieder er¬ schlafft. Lebhafte Teilnahme an der Reichspolitik steht in merkwürdigem Gegensatz zu einer fast stumpfen Gleichgültigkeit gegen die eignen Landesangelegenheiten, soweit sie über die nächsten Kirchturminteressen hinausragen. Diese Teilnahm¬ losigkeit und Unkenntms erklärt sich bis zu einem gewissen Grade daraus, daß ein großer Teil der heutigen sächsischen Bevölkerung ans den angrenzenden Reichsgebieten zugewandert ist. Sie wird aber namentlich auch gefördert dnrch eine Lokalpresse, die, soweit sie überhaupt Politik treibt, sich beinahe ängstlich hütet, Fragen von allgemeinem sächsischen Staatsinteresse auch nur zu berühren. In der ganzen sächsischen bürgerlichen Presse kann eigentlich nur ein einziges Blatt den Anspruch erheben, als sogenanntes großes Tages-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/139>, abgerufen am 01.09.2024.