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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Entwurf zu eine", bürgerlichen Gesetzbuch vor dem Reichstage

braucht nur zuzugreifen, und die Rechtseinheit ist auf dem wichtigsten Gebiete
verwirklicht, der beklagenswerten Zersplitterung ist ein Ende gemacht. Ein
Hinausschieben des Entschlusses auf eine unbestimmte künftige Zeit, wo ein
vollkommner, von Mängeln freier Entwurf vorgelegt werden könne, stellt das
ganze Werk in Frage. Dieser Zeitpunkt ist vielleicht der schwäbische "Nim¬
merlestag," der nie erscheint; jedenfalls wird sich, wenn die jetzige Gelegenheit
nicht benutzt wird, nicht so bald wieder eine andre passende finden. Die Ein¬
führung aufzuschieben, weil das Gesetzbuch nicht in jeder Beziehung gefällt,
wäre fast so unverständig, als wenn die Begründung des deutschen Reichs
oder des norddeutschen Bundes verschoben worden wäre, weil die von Bismarck
vorgelegte Verfassung nicht allen Wünschen entsprach.

Auch die gegenwärtige Zusammensetzung des deutscheu Reichstags kann
eine Hinausschiebung nicht rechtfertigen. Es handelt sich nicht um eine An¬
gelegenheit einzelner Parteien, sondern um ein dringendes Interesse des ganzen
deutscheu Volks. Auch ist der Reichstag sehr wohl imstande, zu beurteilen,
ob der Entwurf im ganzen den Bedürfnissen und den vorhandnen Kräften
entspricht und den jetzigen Zuständen gegenüber einen Fortschritt bildet. Die
Ausführungen von Petrazyeki, auf die Lobe Bezug genommen hat, können
aber einen Aufschub am allerwenigsten rechtfertigen. Wenn sie richtig wären,
würden sie eher einen Grund zur Beschleunigung bilden.

Petrazyeki sagt allerdings, daß auch der zweite Entwurf trotz unleugbaren
Verbesserungen ein schlechtes Gesetzbuch sein wurde. Aber das gilt nach seiner
Auffassung von allen bisherigen Gesetzbüchern, weil die Wissenschaft noch nicht
erfunden sei, die lehre, wie ein gutes, die Verteilung des Volkseinkommens
und der vom Volk geschaffnen Güter regelndes bürgerliches Gesetzbuch her¬
gestellt werden könne. Er giebt ausdrücklich zu, daß die vou ihm gewünschte
Reform zur Zeit noch nicht durchgeführt werden könne, und der zweite Ent¬
wurf "diejenige Vollkommenheit aufweise, die nach den gesetzgeberischen
Kräften der heutigen Zeit überhaupt zu erreichen sei." Ja er spricht die
Überzeugung aus, daß dieser Entwurf Gesetzeskraft erhalten werde, obgleich
bei seiner Ausarbeitung die noch nicht vorhandne neue Wissenschaft der zivil-
rechtlichen Sozialpolitik oder Zivilpvlitik noch nicht habe benutzt werden können.
Er meint nur, ohne diese volkswirtschaftliche Wissenschaft, die im wesentlichen
"deduktiv" Verfahren, also von allgemeinen Sätzen ausgehen müsse, aber eine
Menge empirisches Kontrollmaterial brauche, könne ein gutes Gesetzbuch über¬
haupt nicht geschaffen werden. Übrigens ist Petrazyeki weit von der Meinung
entfernt, daß er selbst imstande sei, eine "Theorie der sozialpolitischen Me¬
thode" zu liefern; er hält das sür eine Aufgabe der Zukunft, die nur durch
die Mitarbeit vieler befriedigend gelöst werden könne. Er verlangt zu diesem
Zweck die Gründung von besondern Lehrstühlen, Vereinen und Kongressen,
die Beschaffung statistischer Unterlagen und Veranstaltung von Enqueten.


Der Entwurf zu eine», bürgerlichen Gesetzbuch vor dem Reichstage

braucht nur zuzugreifen, und die Rechtseinheit ist auf dem wichtigsten Gebiete
verwirklicht, der beklagenswerten Zersplitterung ist ein Ende gemacht. Ein
Hinausschieben des Entschlusses auf eine unbestimmte künftige Zeit, wo ein
vollkommner, von Mängeln freier Entwurf vorgelegt werden könne, stellt das
ganze Werk in Frage. Dieser Zeitpunkt ist vielleicht der schwäbische „Nim¬
merlestag," der nie erscheint; jedenfalls wird sich, wenn die jetzige Gelegenheit
nicht benutzt wird, nicht so bald wieder eine andre passende finden. Die Ein¬
führung aufzuschieben, weil das Gesetzbuch nicht in jeder Beziehung gefällt,
wäre fast so unverständig, als wenn die Begründung des deutschen Reichs
oder des norddeutschen Bundes verschoben worden wäre, weil die von Bismarck
vorgelegte Verfassung nicht allen Wünschen entsprach.

Auch die gegenwärtige Zusammensetzung des deutscheu Reichstags kann
eine Hinausschiebung nicht rechtfertigen. Es handelt sich nicht um eine An¬
gelegenheit einzelner Parteien, sondern um ein dringendes Interesse des ganzen
deutscheu Volks. Auch ist der Reichstag sehr wohl imstande, zu beurteilen,
ob der Entwurf im ganzen den Bedürfnissen und den vorhandnen Kräften
entspricht und den jetzigen Zuständen gegenüber einen Fortschritt bildet. Die
Ausführungen von Petrazyeki, auf die Lobe Bezug genommen hat, können
aber einen Aufschub am allerwenigsten rechtfertigen. Wenn sie richtig wären,
würden sie eher einen Grund zur Beschleunigung bilden.

Petrazyeki sagt allerdings, daß auch der zweite Entwurf trotz unleugbaren
Verbesserungen ein schlechtes Gesetzbuch sein wurde. Aber das gilt nach seiner
Auffassung von allen bisherigen Gesetzbüchern, weil die Wissenschaft noch nicht
erfunden sei, die lehre, wie ein gutes, die Verteilung des Volkseinkommens
und der vom Volk geschaffnen Güter regelndes bürgerliches Gesetzbuch her¬
gestellt werden könne. Er giebt ausdrücklich zu, daß die vou ihm gewünschte
Reform zur Zeit noch nicht durchgeführt werden könne, und der zweite Ent¬
wurf „diejenige Vollkommenheit aufweise, die nach den gesetzgeberischen
Kräften der heutigen Zeit überhaupt zu erreichen sei." Ja er spricht die
Überzeugung aus, daß dieser Entwurf Gesetzeskraft erhalten werde, obgleich
bei seiner Ausarbeitung die noch nicht vorhandne neue Wissenschaft der zivil-
rechtlichen Sozialpolitik oder Zivilpvlitik noch nicht habe benutzt werden können.
Er meint nur, ohne diese volkswirtschaftliche Wissenschaft, die im wesentlichen
„deduktiv" Verfahren, also von allgemeinen Sätzen ausgehen müsse, aber eine
Menge empirisches Kontrollmaterial brauche, könne ein gutes Gesetzbuch über¬
haupt nicht geschaffen werden. Übrigens ist Petrazyeki weit von der Meinung
entfernt, daß er selbst imstande sei, eine „Theorie der sozialpolitischen Me¬
thode" zu liefern; er hält das sür eine Aufgabe der Zukunft, die nur durch
die Mitarbeit vieler befriedigend gelöst werden könne. Er verlangt zu diesem
Zweck die Gründung von besondern Lehrstühlen, Vereinen und Kongressen,
die Beschaffung statistischer Unterlagen und Veranstaltung von Enqueten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/133>, abgerufen am 01.09.2024.