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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Politische Zeitbetrachtungeu

zäher Abwehr verteidigt werden müssen, ehe sie als wirklicher, unentziehbarer
Besitz der Nation gelten können. Die Engländer wären heute nicht schon zwei¬
hundert Jahre lang im ruhigen Genusse bürgerlicher Freiheit, wenn sie nicht
im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts gezwungen gewesen wären, die wieder¬
holten Übergriffe eines verblendeten Herrscherhauses zurückzuweisen.

Wir dürfen in Deutschland zu der Loyalität der Krone volles Vertrauen
haben. Aber Wunder nehmen darf es nicht, wenn wir die einst zurückgedrängten
alten Gewalthaber und im Bunde mit ihnen die satten Mächte des gro߬
kapitalistischen Bürgertums die gegenwärtige Erschlaffung des nationalen Ge¬
dankens benutzen sehen, um den verloren gegangnen Einfluß zurückzugewinnen
oder die neugewonnene wirtschaftliche Übermacht zu befestigen. Das Schicksal
Deutschlands hängt vielleicht davon ab, ob es jenen Mächten gelingen wird,
auch die Krone in ihre Händel zu verflechten. Die Logik der Hamburger
Nachrichten müßte zu dem Wunsche führen, daß sie dabei vor dem Äußersten
nicht zurückschrecken möchten. Um so einmütiger und energischer würde der
Widerstand, um so kürzer die Katastrophe, um so rascher und gründlicher die
Genesung sein. Wir selbst vertrauen auf Deutschlands guten Stern, daß wir
vor dem größte"? nationalen Unglück, dem Bürgerkrieg, bewahrt bleiben werden.
Wir setzen dabei unsre Hoffnung auch darauf, daß im deutschen Bürgertum
die Bewegung immer mehr erstarken werde, die man als die soziale zu bezeichnen
sich gewöhnt hat. Sie fällt, wie heute sich die Dinge anschicken, immer mehr
zusammen mit verfasfungstreuer, mit konservativer, d. h. für Aufrechterhaltung
des bestehenden öffentlichen Rechtszustandes eintretender Denkweise. Sie kam
zuerst in größerm Umfange zur Erscheinung während der Beratung über die
verflossene Umsturzvorlage. Sie hat sich damals wegen ihrer Schwerfälligkeit
von rechts wie von links viel verspotten lassen müssen. Aber gerade aus
dem Beharrungsvermögen schöpft der Widerstand seine Kraft, und fast scheint
es, als wenn nnn auch noch das Element in die Geister hineingeworfen werden
sollte, das, einmal erfaßt, die germanischen Nationen allezeit in die leiden¬
schaftlichste Bewegung gebracht hat, wir meinen die religiöse Frage.

Wir geben von vornherein zu, daß der kürzlich veröffentlichte Erlaß des
preußischen Oberkirchenrath, wenn man ihn Satz für Satz durchliest, manche
Wahrheiten enthält, die von den evangelischen Geistlichen beherzigt zu werden
verdienen, und wollen an einzelnen anfechtbaren Wendungen hier nicht mäkeln.
Schwerlich aber wird man sich, wenn man die Zeichen der Zeit bedenkt, des
Eindrucks erwehren können, daß aus ihm nicht sowohl die Kirche, die Gemein¬
schaft der Gläubigen oder anch nur die Hierarchie, als vielmehr der Staat
und die Vürecmkratie zur Kirche reden. Es ist der erste, wiewohl sehr vor¬
sichtige und beinahe ängstliche Versuch, der Kirche vorzuschreiben, was sie in
des Staates Interesse thun oder lassen soll. Wir fürchten, daß dabei der
Staat nichts gewinnen, die evangelische Kirche aber schweren Schaden leiden
wird. Man darf gespannt sein, wie sich die Geistlichen und die kirchlich ge-


Politische Zeitbetrachtungeu

zäher Abwehr verteidigt werden müssen, ehe sie als wirklicher, unentziehbarer
Besitz der Nation gelten können. Die Engländer wären heute nicht schon zwei¬
hundert Jahre lang im ruhigen Genusse bürgerlicher Freiheit, wenn sie nicht
im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts gezwungen gewesen wären, die wieder¬
holten Übergriffe eines verblendeten Herrscherhauses zurückzuweisen.

Wir dürfen in Deutschland zu der Loyalität der Krone volles Vertrauen
haben. Aber Wunder nehmen darf es nicht, wenn wir die einst zurückgedrängten
alten Gewalthaber und im Bunde mit ihnen die satten Mächte des gro߬
kapitalistischen Bürgertums die gegenwärtige Erschlaffung des nationalen Ge¬
dankens benutzen sehen, um den verloren gegangnen Einfluß zurückzugewinnen
oder die neugewonnene wirtschaftliche Übermacht zu befestigen. Das Schicksal
Deutschlands hängt vielleicht davon ab, ob es jenen Mächten gelingen wird,
auch die Krone in ihre Händel zu verflechten. Die Logik der Hamburger
Nachrichten müßte zu dem Wunsche führen, daß sie dabei vor dem Äußersten
nicht zurückschrecken möchten. Um so einmütiger und energischer würde der
Widerstand, um so kürzer die Katastrophe, um so rascher und gründlicher die
Genesung sein. Wir selbst vertrauen auf Deutschlands guten Stern, daß wir
vor dem größte«? nationalen Unglück, dem Bürgerkrieg, bewahrt bleiben werden.
Wir setzen dabei unsre Hoffnung auch darauf, daß im deutschen Bürgertum
die Bewegung immer mehr erstarken werde, die man als die soziale zu bezeichnen
sich gewöhnt hat. Sie fällt, wie heute sich die Dinge anschicken, immer mehr
zusammen mit verfasfungstreuer, mit konservativer, d. h. für Aufrechterhaltung
des bestehenden öffentlichen Rechtszustandes eintretender Denkweise. Sie kam
zuerst in größerm Umfange zur Erscheinung während der Beratung über die
verflossene Umsturzvorlage. Sie hat sich damals wegen ihrer Schwerfälligkeit
von rechts wie von links viel verspotten lassen müssen. Aber gerade aus
dem Beharrungsvermögen schöpft der Widerstand seine Kraft, und fast scheint
es, als wenn nnn auch noch das Element in die Geister hineingeworfen werden
sollte, das, einmal erfaßt, die germanischen Nationen allezeit in die leiden¬
schaftlichste Bewegung gebracht hat, wir meinen die religiöse Frage.

Wir geben von vornherein zu, daß der kürzlich veröffentlichte Erlaß des
preußischen Oberkirchenrath, wenn man ihn Satz für Satz durchliest, manche
Wahrheiten enthält, die von den evangelischen Geistlichen beherzigt zu werden
verdienen, und wollen an einzelnen anfechtbaren Wendungen hier nicht mäkeln.
Schwerlich aber wird man sich, wenn man die Zeichen der Zeit bedenkt, des
Eindrucks erwehren können, daß aus ihm nicht sowohl die Kirche, die Gemein¬
schaft der Gläubigen oder anch nur die Hierarchie, als vielmehr der Staat
und die Vürecmkratie zur Kirche reden. Es ist der erste, wiewohl sehr vor¬
sichtige und beinahe ängstliche Versuch, der Kirche vorzuschreiben, was sie in
des Staates Interesse thun oder lassen soll. Wir fürchten, daß dabei der
Staat nichts gewinnen, die evangelische Kirche aber schweren Schaden leiden
wird. Man darf gespannt sein, wie sich die Geistlichen und die kirchlich ge-


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[0012] Politische Zeitbetrachtungeu zäher Abwehr verteidigt werden müssen, ehe sie als wirklicher, unentziehbarer Besitz der Nation gelten können. Die Engländer wären heute nicht schon zwei¬ hundert Jahre lang im ruhigen Genusse bürgerlicher Freiheit, wenn sie nicht im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts gezwungen gewesen wären, die wieder¬ holten Übergriffe eines verblendeten Herrscherhauses zurückzuweisen. Wir dürfen in Deutschland zu der Loyalität der Krone volles Vertrauen haben. Aber Wunder nehmen darf es nicht, wenn wir die einst zurückgedrängten alten Gewalthaber und im Bunde mit ihnen die satten Mächte des gro߬ kapitalistischen Bürgertums die gegenwärtige Erschlaffung des nationalen Ge¬ dankens benutzen sehen, um den verloren gegangnen Einfluß zurückzugewinnen oder die neugewonnene wirtschaftliche Übermacht zu befestigen. Das Schicksal Deutschlands hängt vielleicht davon ab, ob es jenen Mächten gelingen wird, auch die Krone in ihre Händel zu verflechten. Die Logik der Hamburger Nachrichten müßte zu dem Wunsche führen, daß sie dabei vor dem Äußersten nicht zurückschrecken möchten. Um so einmütiger und energischer würde der Widerstand, um so kürzer die Katastrophe, um so rascher und gründlicher die Genesung sein. Wir selbst vertrauen auf Deutschlands guten Stern, daß wir vor dem größte«? nationalen Unglück, dem Bürgerkrieg, bewahrt bleiben werden. Wir setzen dabei unsre Hoffnung auch darauf, daß im deutschen Bürgertum die Bewegung immer mehr erstarken werde, die man als die soziale zu bezeichnen sich gewöhnt hat. Sie fällt, wie heute sich die Dinge anschicken, immer mehr zusammen mit verfasfungstreuer, mit konservativer, d. h. für Aufrechterhaltung des bestehenden öffentlichen Rechtszustandes eintretender Denkweise. Sie kam zuerst in größerm Umfange zur Erscheinung während der Beratung über die verflossene Umsturzvorlage. Sie hat sich damals wegen ihrer Schwerfälligkeit von rechts wie von links viel verspotten lassen müssen. Aber gerade aus dem Beharrungsvermögen schöpft der Widerstand seine Kraft, und fast scheint es, als wenn nnn auch noch das Element in die Geister hineingeworfen werden sollte, das, einmal erfaßt, die germanischen Nationen allezeit in die leiden¬ schaftlichste Bewegung gebracht hat, wir meinen die religiöse Frage. Wir geben von vornherein zu, daß der kürzlich veröffentlichte Erlaß des preußischen Oberkirchenrath, wenn man ihn Satz für Satz durchliest, manche Wahrheiten enthält, die von den evangelischen Geistlichen beherzigt zu werden verdienen, und wollen an einzelnen anfechtbaren Wendungen hier nicht mäkeln. Schwerlich aber wird man sich, wenn man die Zeichen der Zeit bedenkt, des Eindrucks erwehren können, daß aus ihm nicht sowohl die Kirche, die Gemein¬ schaft der Gläubigen oder anch nur die Hierarchie, als vielmehr der Staat und die Vürecmkratie zur Kirche reden. Es ist der erste, wiewohl sehr vor¬ sichtige und beinahe ängstliche Versuch, der Kirche vorzuschreiben, was sie in des Staates Interesse thun oder lassen soll. Wir fürchten, daß dabei der Staat nichts gewinnen, die evangelische Kirche aber schweren Schaden leiden wird. Man darf gespannt sein, wie sich die Geistlichen und die kirchlich ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/12>, abgerufen am 24.11.2024.