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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zu Leopold Rankes hundertstein Geburtstag

etwas; was der hart arbeitende Bauer oder Handwerker dachte und empfand,
that und litt, wie die Staatskunst der leitenden Kreise dort wirkte und von dort
beeinflußt wurde, was blinde Leidenschaft, Dummheit, Roheit und Aberglaube der
Massen in der Welt bedeuten, davon erfährt man nur wenig. Die furchtbare
Bewegung des deutschen Bauernkriegs, die der lutherischen Reformation eine
ganz andre Richtung gab und dem Fürstentum endgiltig zum Siege verhalf,
also auch von der größten politischen Bedeutung wurde, ist in der "Deutschen
Geschichte" geradezu ungenügend, fast dürftig dargestellt; dasselbe gilt von der
demokratischen Erhebung in den Hansestädten, die sich an Jürgen Wullen-
wevers Namen knüpft, und die schönste und reinste aller Volkserhebungen, die
von 1813, kommt bei Ranke schlechterdings nicht zu ihrem Rechte, sie, wo
jeder mindestens menschliche Teilnahme des Geschichtschreibers erwartet. Es
hängt wohl mit dieser Abneigung gegen Massenbewegungen zusammen, daß
anch die Schilderung von Schlachten, die nun einmal nicht nur von Generalen
geschlagen zu werden Pflegen, nicht Rankes Stärke ist. Endlich die Kehrseite
seiner wesentlich politischen Auffassung ist die fast grundsätzliche Ablehnung
jedes nähern Eingehens zwar nicht auf Litteratur und Kunst, die vielmehr
sehr feinsinnig behandelt werden, Wohl aber auf die wirtschaftliche Entwicklung
der Völker. Nicht als ob ihm das Verständnis dafür abginge! Seine Schil¬
derung des wirtschaftlichen und finanziellen Verfalls der spanischen Monarchie
seit Philipp II. ist in ihrer Art klassisch, und die Darstellung der wirtschaft¬
lichen Verhältnisse Deutschlands in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahr¬
hunderts war lange Zeit das beste, was es darüber gab. Aber diese Dinge
bilden für ihn doch keinen unentbehrlichen Teil seines Welt- und Zeitbildes,
sogar die Gründe der französischen Revolution sucht er nicht in erster Linie
in der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Sie sind ihm zu unpersönlich, zu
wenig faßbar. Und mag man nun auch der Ansicht sein, daß die wirtschaft¬
lichen Verhältnisse für den Historiker nicht schlechtweg das Wichtigste seien,
daß die Dampfmaschine für ihn nicht im Mittelpunkte der Geschichte des neun¬
zehnten Jahrhunderts stehe, daß vielmehr nach wie vor sein eigentlichster Gegen¬
stand das Leben der Staaten als der großen, organistrten, bewußt handelnden
Gruppen der Menschheit sei, daß die Geschichte von Männern gemacht werde
und die Menschen die Zeiten seien, sodaß beispielsweise unsre mittelalterlichen
Kaiser mit den schwerfälligen Mitteln der Naturalwirtschaft eine viel gro߬
artigere Politik geführt haben als unser neues Reich mit Dampf und Elek¬
trizität, das wird doch jedermann heute zugeben, daß ohne die eingehende Be¬
rücksichtigung der Volkswirtschaft und der breiten untern Schichten der Gesellschaft,
ohne Soziologie, jedes Geschichtsbild ebenso unvollständig ist als bei der Ver¬
nachlässigung dessen, was Ranke in den Vordergrund gestellt hat. Nur die
Vereinigung aller dieser Elemente giebt das vollständige, also das wahre Bild.

Doch was folgt daraus? Nimmt das etwas der Größe Rankes, bleibt
er nicht trotzdem der größte Historiker der deutschen Nation? Gewiß. Denn


Zu Leopold Rankes hundertstein Geburtstag

etwas; was der hart arbeitende Bauer oder Handwerker dachte und empfand,
that und litt, wie die Staatskunst der leitenden Kreise dort wirkte und von dort
beeinflußt wurde, was blinde Leidenschaft, Dummheit, Roheit und Aberglaube der
Massen in der Welt bedeuten, davon erfährt man nur wenig. Die furchtbare
Bewegung des deutschen Bauernkriegs, die der lutherischen Reformation eine
ganz andre Richtung gab und dem Fürstentum endgiltig zum Siege verhalf,
also auch von der größten politischen Bedeutung wurde, ist in der „Deutschen
Geschichte" geradezu ungenügend, fast dürftig dargestellt; dasselbe gilt von der
demokratischen Erhebung in den Hansestädten, die sich an Jürgen Wullen-
wevers Namen knüpft, und die schönste und reinste aller Volkserhebungen, die
von 1813, kommt bei Ranke schlechterdings nicht zu ihrem Rechte, sie, wo
jeder mindestens menschliche Teilnahme des Geschichtschreibers erwartet. Es
hängt wohl mit dieser Abneigung gegen Massenbewegungen zusammen, daß
anch die Schilderung von Schlachten, die nun einmal nicht nur von Generalen
geschlagen zu werden Pflegen, nicht Rankes Stärke ist. Endlich die Kehrseite
seiner wesentlich politischen Auffassung ist die fast grundsätzliche Ablehnung
jedes nähern Eingehens zwar nicht auf Litteratur und Kunst, die vielmehr
sehr feinsinnig behandelt werden, Wohl aber auf die wirtschaftliche Entwicklung
der Völker. Nicht als ob ihm das Verständnis dafür abginge! Seine Schil¬
derung des wirtschaftlichen und finanziellen Verfalls der spanischen Monarchie
seit Philipp II. ist in ihrer Art klassisch, und die Darstellung der wirtschaft¬
lichen Verhältnisse Deutschlands in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahr¬
hunderts war lange Zeit das beste, was es darüber gab. Aber diese Dinge
bilden für ihn doch keinen unentbehrlichen Teil seines Welt- und Zeitbildes,
sogar die Gründe der französischen Revolution sucht er nicht in erster Linie
in der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Sie sind ihm zu unpersönlich, zu
wenig faßbar. Und mag man nun auch der Ansicht sein, daß die wirtschaft¬
lichen Verhältnisse für den Historiker nicht schlechtweg das Wichtigste seien,
daß die Dampfmaschine für ihn nicht im Mittelpunkte der Geschichte des neun¬
zehnten Jahrhunderts stehe, daß vielmehr nach wie vor sein eigentlichster Gegen¬
stand das Leben der Staaten als der großen, organistrten, bewußt handelnden
Gruppen der Menschheit sei, daß die Geschichte von Männern gemacht werde
und die Menschen die Zeiten seien, sodaß beispielsweise unsre mittelalterlichen
Kaiser mit den schwerfälligen Mitteln der Naturalwirtschaft eine viel gro߬
artigere Politik geführt haben als unser neues Reich mit Dampf und Elek¬
trizität, das wird doch jedermann heute zugeben, daß ohne die eingehende Be¬
rücksichtigung der Volkswirtschaft und der breiten untern Schichten der Gesellschaft,
ohne Soziologie, jedes Geschichtsbild ebenso unvollständig ist als bei der Ver¬
nachlässigung dessen, was Ranke in den Vordergrund gestellt hat. Nur die
Vereinigung aller dieser Elemente giebt das vollständige, also das wahre Bild.

Doch was folgt daraus? Nimmt das etwas der Größe Rankes, bleibt
er nicht trotzdem der größte Historiker der deutschen Nation? Gewiß. Denn


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[0618] Zu Leopold Rankes hundertstein Geburtstag etwas; was der hart arbeitende Bauer oder Handwerker dachte und empfand, that und litt, wie die Staatskunst der leitenden Kreise dort wirkte und von dort beeinflußt wurde, was blinde Leidenschaft, Dummheit, Roheit und Aberglaube der Massen in der Welt bedeuten, davon erfährt man nur wenig. Die furchtbare Bewegung des deutschen Bauernkriegs, die der lutherischen Reformation eine ganz andre Richtung gab und dem Fürstentum endgiltig zum Siege verhalf, also auch von der größten politischen Bedeutung wurde, ist in der „Deutschen Geschichte" geradezu ungenügend, fast dürftig dargestellt; dasselbe gilt von der demokratischen Erhebung in den Hansestädten, die sich an Jürgen Wullen- wevers Namen knüpft, und die schönste und reinste aller Volkserhebungen, die von 1813, kommt bei Ranke schlechterdings nicht zu ihrem Rechte, sie, wo jeder mindestens menschliche Teilnahme des Geschichtschreibers erwartet. Es hängt wohl mit dieser Abneigung gegen Massenbewegungen zusammen, daß anch die Schilderung von Schlachten, die nun einmal nicht nur von Generalen geschlagen zu werden Pflegen, nicht Rankes Stärke ist. Endlich die Kehrseite seiner wesentlich politischen Auffassung ist die fast grundsätzliche Ablehnung jedes nähern Eingehens zwar nicht auf Litteratur und Kunst, die vielmehr sehr feinsinnig behandelt werden, Wohl aber auf die wirtschaftliche Entwicklung der Völker. Nicht als ob ihm das Verständnis dafür abginge! Seine Schil¬ derung des wirtschaftlichen und finanziellen Verfalls der spanischen Monarchie seit Philipp II. ist in ihrer Art klassisch, und die Darstellung der wirtschaft¬ lichen Verhältnisse Deutschlands in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahr¬ hunderts war lange Zeit das beste, was es darüber gab. Aber diese Dinge bilden für ihn doch keinen unentbehrlichen Teil seines Welt- und Zeitbildes, sogar die Gründe der französischen Revolution sucht er nicht in erster Linie in der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Sie sind ihm zu unpersönlich, zu wenig faßbar. Und mag man nun auch der Ansicht sein, daß die wirtschaft¬ lichen Verhältnisse für den Historiker nicht schlechtweg das Wichtigste seien, daß die Dampfmaschine für ihn nicht im Mittelpunkte der Geschichte des neun¬ zehnten Jahrhunderts stehe, daß vielmehr nach wie vor sein eigentlichster Gegen¬ stand das Leben der Staaten als der großen, organistrten, bewußt handelnden Gruppen der Menschheit sei, daß die Geschichte von Männern gemacht werde und die Menschen die Zeiten seien, sodaß beispielsweise unsre mittelalterlichen Kaiser mit den schwerfälligen Mitteln der Naturalwirtschaft eine viel gro߬ artigere Politik geführt haben als unser neues Reich mit Dampf und Elek¬ trizität, das wird doch jedermann heute zugeben, daß ohne die eingehende Be¬ rücksichtigung der Volkswirtschaft und der breiten untern Schichten der Gesellschaft, ohne Soziologie, jedes Geschichtsbild ebenso unvollständig ist als bei der Ver¬ nachlässigung dessen, was Ranke in den Vordergrund gestellt hat. Nur die Vereinigung aller dieser Elemente giebt das vollständige, also das wahre Bild. Doch was folgt daraus? Nimmt das etwas der Größe Rankes, bleibt er nicht trotzdem der größte Historiker der deutschen Nation? Gewiß. Denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/618>, abgerufen am 24.07.2024.