Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hinab I

Wurf gemacht worden. Zwingli erschien in seinen Thränen über die gescheiterte
Hoffnung humaner, man möchte fast sagen christlicher. Und doch trug Zwingli
die Hauptschuld, daß es zum unheilbaren Vrnche kam. Die Kluft zwischen
ihm und Luther, die er selbst künstlich geschaffen und durch sein ganzes Ver¬
halten immer mehr erweitert hatte, ließ sich nicht mehr durch einen Hände¬
druck überbrücken. Es war tragisch, daß er, der die "Einhelligkeit des Geistes"
erwiesen haben wollte, schließlich von Luther selbst das Urteil hören mußte:
"Ihr habt einen andern Geist als wir."




Hinab!
2

le lange war das her? Jahre waren vergangen, und doch war es
erst gestern gewesen! Zu Zeiten wich es zurück und verschleierte sich
und war nur wie ein unklares, verschwommnes Traumgefühl, nur
noch das unbestimmte Bewußtsein eines Druckes, von dem man sich
nicht befreien tuum, ohne sich doch bewußt zu werden: was ist es,
das dich auält? Plötzlich aber stand es wieder da in furchtbarer
Klarheit, jede Einzelheit lebte auf: die unselige That, das namenlose Entsetzen;
es half ihm nichts, daß er die Augen verschloß, es stand ihm vor der Seele, es
packte ihn wie ein Fieber, bis er dem Wahnsinn nahe war.

Dann gab es nur eins, was ihn betäubte und auf Stunden von der Marter
befreite, das war, daß er arbeitete wie verzweifelt.

So mochte er in der Glut des Sommertags deu Berg hincmgemäht haben,
allen andern voran. Der Schweiß rann ihm am Leibe herunter, aber es wurde
'hin doch leichter auf der Brust. Er konnte sich wieder beherrschen und wurde
auch sei"es cnuilendcn Gewissens wieder Herr. Und stand er dann verschnaufend
oben auf der Höhe und sah die Welt rings um sich im Sonnenschein liegen, dann
waren die Gespenster geflohen. Er fühlte, daß er auf festem Boden stand. Was
war es denn auch? Geschehen war es, darnu konnte niemand etwas ändern, aber
es lag weit hinter ihm, und niemand wußte es außer ihm selbst. Ein Mensch
muß sterben; den einen triffts so, den andern so, und dem Haust war es be¬
stimmt gewesen, daß er sterben mußte. Wäre es nicht so gekommen, wäre es
""f eine andre Weise geschehen. Hatte es der Xaver denn gewollt?

Hatte er es gewollt? Schon wieder legte sichs wie ein schwerer Druck auf
leine Gedanken, und er grübelte, wie es gekommen war. Hätte ihm ein andrer
antworten können: Nein, Xaver, das hast du nicht gewollt! er wäre so frei, so


Hinab I

Wurf gemacht worden. Zwingli erschien in seinen Thränen über die gescheiterte
Hoffnung humaner, man möchte fast sagen christlicher. Und doch trug Zwingli
die Hauptschuld, daß es zum unheilbaren Vrnche kam. Die Kluft zwischen
ihm und Luther, die er selbst künstlich geschaffen und durch sein ganzes Ver¬
halten immer mehr erweitert hatte, ließ sich nicht mehr durch einen Hände¬
druck überbrücken. Es war tragisch, daß er, der die „Einhelligkeit des Geistes"
erwiesen haben wollte, schließlich von Luther selbst das Urteil hören mußte:
„Ihr habt einen andern Geist als wir."




Hinab!
2

le lange war das her? Jahre waren vergangen, und doch war es
erst gestern gewesen! Zu Zeiten wich es zurück und verschleierte sich
und war nur wie ein unklares, verschwommnes Traumgefühl, nur
noch das unbestimmte Bewußtsein eines Druckes, von dem man sich
nicht befreien tuum, ohne sich doch bewußt zu werden: was ist es,
das dich auält? Plötzlich aber stand es wieder da in furchtbarer
Klarheit, jede Einzelheit lebte auf: die unselige That, das namenlose Entsetzen;
es half ihm nichts, daß er die Augen verschloß, es stand ihm vor der Seele, es
packte ihn wie ein Fieber, bis er dem Wahnsinn nahe war.

Dann gab es nur eins, was ihn betäubte und auf Stunden von der Marter
befreite, das war, daß er arbeitete wie verzweifelt.

So mochte er in der Glut des Sommertags deu Berg hincmgemäht haben,
allen andern voran. Der Schweiß rann ihm am Leibe herunter, aber es wurde
'hin doch leichter auf der Brust. Er konnte sich wieder beherrschen und wurde
auch sei„es cnuilendcn Gewissens wieder Herr. Und stand er dann verschnaufend
oben auf der Höhe und sah die Welt rings um sich im Sonnenschein liegen, dann
waren die Gespenster geflohen. Er fühlte, daß er auf festem Boden stand. Was
war es denn auch? Geschehen war es, darnu konnte niemand etwas ändern, aber
es lag weit hinter ihm, und niemand wußte es außer ihm selbst. Ein Mensch
muß sterben; den einen triffts so, den andern so, und dem Haust war es be¬
stimmt gewesen, daß er sterben mußte. Wäre es nicht so gekommen, wäre es
""f eine andre Weise geschehen. Hatte es der Xaver denn gewollt?

Hatte er es gewollt? Schon wieder legte sichs wie ein schwerer Druck auf
leine Gedanken, und er grübelte, wie es gekommen war. Hätte ihm ein andrer
antworten können: Nein, Xaver, das hast du nicht gewollt! er wäre so frei, so


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0585" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221559"/>
          <fw type="header" place="top"> Hinab I</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1925" prev="#ID_1924"> Wurf gemacht worden. Zwingli erschien in seinen Thränen über die gescheiterte<lb/>
Hoffnung humaner, man möchte fast sagen christlicher. Und doch trug Zwingli<lb/>
die Hauptschuld, daß es zum unheilbaren Vrnche kam. Die Kluft zwischen<lb/>
ihm und Luther, die er selbst künstlich geschaffen und durch sein ganzes Ver¬<lb/>
halten immer mehr erweitert hatte, ließ sich nicht mehr durch einen Hände¬<lb/>
druck überbrücken. Es war tragisch, daß er, der die &#x201E;Einhelligkeit des Geistes"<lb/>
erwiesen haben wollte, schließlich von Luther selbst das Urteil hören mußte:<lb/>
&#x201E;Ihr habt einen andern Geist als wir."</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Hinab!<lb/>
2 </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1926"> le lange war das her? Jahre waren vergangen, und doch war es<lb/>
erst gestern gewesen! Zu Zeiten wich es zurück und verschleierte sich<lb/>
und war nur wie ein unklares, verschwommnes Traumgefühl, nur<lb/>
noch das unbestimmte Bewußtsein eines Druckes, von dem man sich<lb/>
nicht befreien tuum, ohne sich doch bewußt zu werden: was ist es,<lb/>
das dich auält? Plötzlich aber stand es wieder da in furchtbarer<lb/>
Klarheit, jede Einzelheit lebte auf: die unselige That, das namenlose Entsetzen;<lb/>
es half ihm nichts, daß er die Augen verschloß, es stand ihm vor der Seele, es<lb/>
packte ihn wie ein Fieber, bis er dem Wahnsinn nahe war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1927"> Dann gab es nur eins, was ihn betäubte und auf Stunden von der Marter<lb/>
befreite, das war, daß er arbeitete wie verzweifelt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1928"> So mochte er in der Glut des Sommertags deu Berg hincmgemäht haben,<lb/>
allen andern voran. Der Schweiß rann ihm am Leibe herunter, aber es wurde<lb/>
'hin doch leichter auf der Brust. Er konnte sich wieder beherrschen und wurde<lb/>
auch sei&#x201E;es cnuilendcn Gewissens wieder Herr. Und stand er dann verschnaufend<lb/>
oben auf der Höhe und sah die Welt rings um sich im Sonnenschein liegen, dann<lb/>
waren die Gespenster geflohen. Er fühlte, daß er auf festem Boden stand. Was<lb/>
war es denn auch? Geschehen war es, darnu konnte niemand etwas ändern, aber<lb/>
es lag weit hinter ihm, und niemand wußte es außer ihm selbst. Ein Mensch<lb/>
muß sterben; den einen triffts so, den andern so, und dem Haust war es be¬<lb/>
stimmt gewesen, daß er sterben mußte. Wäre es nicht so gekommen, wäre es<lb/>
""f eine andre Weise geschehen.  Hatte es der Xaver denn gewollt?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1929" next="#ID_1930"> Hatte er es gewollt? Schon wieder legte sichs wie ein schwerer Druck auf<lb/>
leine Gedanken, und er grübelte, wie es gekommen war. Hätte ihm ein andrer<lb/>
antworten können: Nein, Xaver, das hast du nicht gewollt! er wäre so frei, so</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0585] Hinab I Wurf gemacht worden. Zwingli erschien in seinen Thränen über die gescheiterte Hoffnung humaner, man möchte fast sagen christlicher. Und doch trug Zwingli die Hauptschuld, daß es zum unheilbaren Vrnche kam. Die Kluft zwischen ihm und Luther, die er selbst künstlich geschaffen und durch sein ganzes Ver¬ halten immer mehr erweitert hatte, ließ sich nicht mehr durch einen Hände¬ druck überbrücken. Es war tragisch, daß er, der die „Einhelligkeit des Geistes" erwiesen haben wollte, schließlich von Luther selbst das Urteil hören mußte: „Ihr habt einen andern Geist als wir." Hinab! 2 le lange war das her? Jahre waren vergangen, und doch war es erst gestern gewesen! Zu Zeiten wich es zurück und verschleierte sich und war nur wie ein unklares, verschwommnes Traumgefühl, nur noch das unbestimmte Bewußtsein eines Druckes, von dem man sich nicht befreien tuum, ohne sich doch bewußt zu werden: was ist es, das dich auält? Plötzlich aber stand es wieder da in furchtbarer Klarheit, jede Einzelheit lebte auf: die unselige That, das namenlose Entsetzen; es half ihm nichts, daß er die Augen verschloß, es stand ihm vor der Seele, es packte ihn wie ein Fieber, bis er dem Wahnsinn nahe war. Dann gab es nur eins, was ihn betäubte und auf Stunden von der Marter befreite, das war, daß er arbeitete wie verzweifelt. So mochte er in der Glut des Sommertags deu Berg hincmgemäht haben, allen andern voran. Der Schweiß rann ihm am Leibe herunter, aber es wurde 'hin doch leichter auf der Brust. Er konnte sich wieder beherrschen und wurde auch sei„es cnuilendcn Gewissens wieder Herr. Und stand er dann verschnaufend oben auf der Höhe und sah die Welt rings um sich im Sonnenschein liegen, dann waren die Gespenster geflohen. Er fühlte, daß er auf festem Boden stand. Was war es denn auch? Geschehen war es, darnu konnte niemand etwas ändern, aber es lag weit hinter ihm, und niemand wußte es außer ihm selbst. Ein Mensch muß sterben; den einen triffts so, den andern so, und dem Haust war es be¬ stimmt gewesen, daß er sterben mußte. Wäre es nicht so gekommen, wäre es ""f eine andre Weise geschehen. Hatte es der Xaver denn gewollt? Hatte er es gewollt? Schon wieder legte sichs wie ein schwerer Druck auf leine Gedanken, und er grübelte, wie es gekommen war. Hätte ihm ein andrer antworten können: Nein, Xaver, das hast du nicht gewollt! er wäre so frei, so

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/585
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/585>, abgerufen am 24.07.2024.