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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Malerei und Zeichnung

der Seite des Körperhaften zu ergänzen, und dieses Hinzudenken und Ergänzen
soll eine Beschäftigung der Phantasie sein, die uns, wenn ein Häßliches dar¬
gestellt ist, von dem Häßlichen ablenkt. Da fragt doch jeder zunächst: Warum
ist denn das Häßliche, wenn wir davon abgelenkt werden sollen, überhaupt
dargestellt worden? Was ist das für ein seltsames Unternehmen, wenn einer
etwas in der Absicht darstellt, den Betrachter davon abzulenken? Und wenn
wir von dem dargestellten Häßlichen abgelenkt werden, kann da noch von
einem Ringen mit seiner widerwärtigen Erscheinung, von einer subjektiven
Überwindung des Häßlichen die Rede sein? Dann aber: wird denn, wie
Klinger behauptet, jene ergänzende Phantasiethätigkeit wirklich angeregt, und
wenn das der Fall wäre, kann sie die angegebne Wirkung haben? Wenn wir
gezwungen sind, in der Vorstellung die farblose Zeichnung ins Farbige und
Körperhafte zu ergänzen, muß dadurch der Eindruck des Häßlichen nicht viel¬
mehr gesteigert, verstärkt werden? Farbe und Körperlichkeit müßten doch auch
in der Vorstellung, in der Phantasie eine ähnliche Empfindung hervorrufen
wie in dem Wirklichkeitsschein der malerischen Schilderung. Je lebendiger die
Vorstellung der Farbe und des Körperhaften wäre, um so mehr müßte sie
eine ähnliche Wirkung haben wie das "fertige Häßliche" in der Malerei, von
dem es vorher hieß: da staut sich das Gefühl wie ein Fluß an der Mauer.
Die ergänzende Thätigkeit der Phantasie würde dann das Häßliche ja in
Wahrheit fertig machen. Vielleicht steigert sich bei stark nervösen Naturen der
Eindruck eiuer farblosen Zeichnung, wenn sie ein Häßliches und Erschreckendes
recht drastisch darstellt, bisweilen in der That zu farbigen Hallucinationen;
dann werden sie eben das gerade Gegenteil von dem bewirken, was Klinger
von der ergänzenden Phantasiethätigkeit behauptet. Auf welchen dunkeln
Wegen der Reflexion ist diese Rechtfertigung des Häßlichen ergrübelt! Soll
man sie wirklich ernst nehmen?

Die folgenden Abschnitte der Klingerschen Schrift haben mit der hier auf¬
gestellten Behauptung durchaus keinen nähern Zusammenhang, sie stehen zu ihr
vielmehr insofern in Widerspruch, als alles, was Klinger jetzt noch über den
Charakter der Zeichnung und ihre Wirkung, über das zur Darstellung in zeichne¬
rischer Form geeignete oder das allein zeichnerisch darstellbare bemerkt, ledig¬
lich daraus hergeleitet wird, daß die Zeichnung eben farblos ist. Daß wir
genötigt seien, die Farbe zur Zeichnung hinzuzudenken, davon ist nicht weiter
die Rede. Was jetzt das ideelle Wesen der Zeichnung genannt wird, beruht
ganz allein darauf, daß sie nicht farbig ist. Hier begegnet man nun viel¬
fach sehr bekannten Gedanken. Da die Formen der Zeichnung, des Kupfer¬
stichs, des Holzschnitts im Verhältnis zur Sprache der Malerei etwas abstraktes
haben, so kann auch ein in gewissem Sinne abstrakter Inhalt in ihnen dar¬
gestellt werden. "Die Zeichnung, sagt Bischer in seiner Ästhetik, entspricht
solchen Stoffen, worin die Idee den festen Körper gewissermaßen durchbricht


Malerei und Zeichnung

der Seite des Körperhaften zu ergänzen, und dieses Hinzudenken und Ergänzen
soll eine Beschäftigung der Phantasie sein, die uns, wenn ein Häßliches dar¬
gestellt ist, von dem Häßlichen ablenkt. Da fragt doch jeder zunächst: Warum
ist denn das Häßliche, wenn wir davon abgelenkt werden sollen, überhaupt
dargestellt worden? Was ist das für ein seltsames Unternehmen, wenn einer
etwas in der Absicht darstellt, den Betrachter davon abzulenken? Und wenn
wir von dem dargestellten Häßlichen abgelenkt werden, kann da noch von
einem Ringen mit seiner widerwärtigen Erscheinung, von einer subjektiven
Überwindung des Häßlichen die Rede sein? Dann aber: wird denn, wie
Klinger behauptet, jene ergänzende Phantasiethätigkeit wirklich angeregt, und
wenn das der Fall wäre, kann sie die angegebne Wirkung haben? Wenn wir
gezwungen sind, in der Vorstellung die farblose Zeichnung ins Farbige und
Körperhafte zu ergänzen, muß dadurch der Eindruck des Häßlichen nicht viel¬
mehr gesteigert, verstärkt werden? Farbe und Körperlichkeit müßten doch auch
in der Vorstellung, in der Phantasie eine ähnliche Empfindung hervorrufen
wie in dem Wirklichkeitsschein der malerischen Schilderung. Je lebendiger die
Vorstellung der Farbe und des Körperhaften wäre, um so mehr müßte sie
eine ähnliche Wirkung haben wie das „fertige Häßliche" in der Malerei, von
dem es vorher hieß: da staut sich das Gefühl wie ein Fluß an der Mauer.
Die ergänzende Thätigkeit der Phantasie würde dann das Häßliche ja in
Wahrheit fertig machen. Vielleicht steigert sich bei stark nervösen Naturen der
Eindruck eiuer farblosen Zeichnung, wenn sie ein Häßliches und Erschreckendes
recht drastisch darstellt, bisweilen in der That zu farbigen Hallucinationen;
dann werden sie eben das gerade Gegenteil von dem bewirken, was Klinger
von der ergänzenden Phantasiethätigkeit behauptet. Auf welchen dunkeln
Wegen der Reflexion ist diese Rechtfertigung des Häßlichen ergrübelt! Soll
man sie wirklich ernst nehmen?

Die folgenden Abschnitte der Klingerschen Schrift haben mit der hier auf¬
gestellten Behauptung durchaus keinen nähern Zusammenhang, sie stehen zu ihr
vielmehr insofern in Widerspruch, als alles, was Klinger jetzt noch über den
Charakter der Zeichnung und ihre Wirkung, über das zur Darstellung in zeichne¬
rischer Form geeignete oder das allein zeichnerisch darstellbare bemerkt, ledig¬
lich daraus hergeleitet wird, daß die Zeichnung eben farblos ist. Daß wir
genötigt seien, die Farbe zur Zeichnung hinzuzudenken, davon ist nicht weiter
die Rede. Was jetzt das ideelle Wesen der Zeichnung genannt wird, beruht
ganz allein darauf, daß sie nicht farbig ist. Hier begegnet man nun viel¬
fach sehr bekannten Gedanken. Da die Formen der Zeichnung, des Kupfer¬
stichs, des Holzschnitts im Verhältnis zur Sprache der Malerei etwas abstraktes
haben, so kann auch ein in gewissem Sinne abstrakter Inhalt in ihnen dar¬
gestellt werden. „Die Zeichnung, sagt Bischer in seiner Ästhetik, entspricht
solchen Stoffen, worin die Idee den festen Körper gewissermaßen durchbricht


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[0540] Malerei und Zeichnung der Seite des Körperhaften zu ergänzen, und dieses Hinzudenken und Ergänzen soll eine Beschäftigung der Phantasie sein, die uns, wenn ein Häßliches dar¬ gestellt ist, von dem Häßlichen ablenkt. Da fragt doch jeder zunächst: Warum ist denn das Häßliche, wenn wir davon abgelenkt werden sollen, überhaupt dargestellt worden? Was ist das für ein seltsames Unternehmen, wenn einer etwas in der Absicht darstellt, den Betrachter davon abzulenken? Und wenn wir von dem dargestellten Häßlichen abgelenkt werden, kann da noch von einem Ringen mit seiner widerwärtigen Erscheinung, von einer subjektiven Überwindung des Häßlichen die Rede sein? Dann aber: wird denn, wie Klinger behauptet, jene ergänzende Phantasiethätigkeit wirklich angeregt, und wenn das der Fall wäre, kann sie die angegebne Wirkung haben? Wenn wir gezwungen sind, in der Vorstellung die farblose Zeichnung ins Farbige und Körperhafte zu ergänzen, muß dadurch der Eindruck des Häßlichen nicht viel¬ mehr gesteigert, verstärkt werden? Farbe und Körperlichkeit müßten doch auch in der Vorstellung, in der Phantasie eine ähnliche Empfindung hervorrufen wie in dem Wirklichkeitsschein der malerischen Schilderung. Je lebendiger die Vorstellung der Farbe und des Körperhaften wäre, um so mehr müßte sie eine ähnliche Wirkung haben wie das „fertige Häßliche" in der Malerei, von dem es vorher hieß: da staut sich das Gefühl wie ein Fluß an der Mauer. Die ergänzende Thätigkeit der Phantasie würde dann das Häßliche ja in Wahrheit fertig machen. Vielleicht steigert sich bei stark nervösen Naturen der Eindruck eiuer farblosen Zeichnung, wenn sie ein Häßliches und Erschreckendes recht drastisch darstellt, bisweilen in der That zu farbigen Hallucinationen; dann werden sie eben das gerade Gegenteil von dem bewirken, was Klinger von der ergänzenden Phantasiethätigkeit behauptet. Auf welchen dunkeln Wegen der Reflexion ist diese Rechtfertigung des Häßlichen ergrübelt! Soll man sie wirklich ernst nehmen? Die folgenden Abschnitte der Klingerschen Schrift haben mit der hier auf¬ gestellten Behauptung durchaus keinen nähern Zusammenhang, sie stehen zu ihr vielmehr insofern in Widerspruch, als alles, was Klinger jetzt noch über den Charakter der Zeichnung und ihre Wirkung, über das zur Darstellung in zeichne¬ rischer Form geeignete oder das allein zeichnerisch darstellbare bemerkt, ledig¬ lich daraus hergeleitet wird, daß die Zeichnung eben farblos ist. Daß wir genötigt seien, die Farbe zur Zeichnung hinzuzudenken, davon ist nicht weiter die Rede. Was jetzt das ideelle Wesen der Zeichnung genannt wird, beruht ganz allein darauf, daß sie nicht farbig ist. Hier begegnet man nun viel¬ fach sehr bekannten Gedanken. Da die Formen der Zeichnung, des Kupfer¬ stichs, des Holzschnitts im Verhältnis zur Sprache der Malerei etwas abstraktes haben, so kann auch ein in gewissem Sinne abstrakter Inhalt in ihnen dar¬ gestellt werden. „Die Zeichnung, sagt Bischer in seiner Ästhetik, entspricht solchen Stoffen, worin die Idee den festen Körper gewissermaßen durchbricht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/540>, abgerufen am 25.08.2024.