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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Malerei und Zeichnung

auf uns macht. Wir sind genötigt, dem einfarbigen Eindruck die fehlende
Farbe nachzuschaffen, wie wir dem gelesenen Wort Ton und Rhythmus nach¬
schaffen." Später, nach einer Zwischenbemerkung, wird hinzugefügt, daß die
Zeichnung der Phantasie nicht bloß den weiten Spielraum lasse, das Dar¬
gestellte farbig zu ergänzen; "sie kann auch die nicht unmittelbar zur Haupt¬
sache gehörigen Formen, ja diese selbst mit derartiger Freiheit behandeln, daß
auch hier die Phantasie ergänzen muß; sie kann den Gegenstand ihrer Dar¬
stellung so isoliren, daß die Phantasie den Raum selbst schaffen muß, und
diese Mittel kann sie anwenden, einzeln oder zugleich, ohne daß die so aus¬
geführte Zeichnung an künstlerischem Wert oder an Vollendung einzubüßen
hätte."

Weil also die Zeichnung minder körperhaft wirkt als Werke der andern
Künste, weil sie, wie sich Klinger weiterhin ausdrückt, alles dargestellte mehr
als Erscheinung denn als Körper wirken läßt, und weil sie farblos ist,
deshalb soll sie die ergänzende Thätigkeit der Phantasie aufrufen, und eben
deshalb -- das ist die Hauptsache -- soll sie dem Unschönen anders gegenüber
stehn als andre Künste. "Die übrigen bildenden Künste, sagt Klinger, haben
das überwundne Unschöne, die redenden (die poetischen) Künste das zu über¬
windende Unschöne zur Grundlage (!). Dieses ist bei den redenden ein bald
einzelnes, bald wiederkehrendes Glied in der Kette der Handlung, in deren
Lause unser Gefühl (!) durch verschiedne gleichartige Empfindungen (!) und fort¬
rollende Wirkungen gegen das Widerwärtige geführt wird, wie ein Strom
gegen einen Pfeiler. Der Stoß bricht wohl den Lauf, verändert seine Rich¬
tung, aber der Strom wird vom Pfeiler nicht aufgehalten, nur von neuem
konzentrirt; Strom und Handlung haben neue Kraft. Ähnlich kann die
Zeichnung gegen das Unschöne führen. Die Unmöglichkeit, die Welt anders
als durch Farbe, Form, Raum zu sehen, zwingt unsre Phantasie, gleichzeitig
mit dem Erblicken des Abstoßenden jene drei Bedingungen zu ergänzen, und
in dieser Thätigkeit findet sie nicht nnr Ablenkung vom Unschönen, sondern
auch den Eindruck jenes Ringens mit der Widerwärtigkeit, das den Grund
der Dichtung ausmacht (!). Der Unterschied ist, daß der Eindruck bei dieser
ein fortschreitend wechselnder ist, bei der Zeichnung ein momentaner. Die
Malerei (auch die farbige Skulptur), für die die Feststellung jener drei Be¬
dingungen (gemeint sind Farbe, Form und Raum) ecmäitio An<z aug. von ist,
bietet unsrer Vorstellung nichts als das fertige Häßliche und seine Mache,
und hier staut sich das Gefühl wie ein Fluß an einer Mauer."

Sehr sonderbar! Was würde Lessing dazu sagen! Vorher wurde be¬
hauptet, für die Zeichnung als selbständiges Kunstwerk sei die Farblosigkeit
so wesentlich, daß ihre künstlerische Wirkung durch das Hinzutreten der Farbe
zerstört werden würde. Jetzt wird behauptet, beim Anblick einer Zeichnung wären
wir gezwungen, die Farbe hinzuzudenken und das Dargestellte außerdem noch nach


Grenzboten IV 1895 68
Malerei und Zeichnung

auf uns macht. Wir sind genötigt, dem einfarbigen Eindruck die fehlende
Farbe nachzuschaffen, wie wir dem gelesenen Wort Ton und Rhythmus nach¬
schaffen." Später, nach einer Zwischenbemerkung, wird hinzugefügt, daß die
Zeichnung der Phantasie nicht bloß den weiten Spielraum lasse, das Dar¬
gestellte farbig zu ergänzen; „sie kann auch die nicht unmittelbar zur Haupt¬
sache gehörigen Formen, ja diese selbst mit derartiger Freiheit behandeln, daß
auch hier die Phantasie ergänzen muß; sie kann den Gegenstand ihrer Dar¬
stellung so isoliren, daß die Phantasie den Raum selbst schaffen muß, und
diese Mittel kann sie anwenden, einzeln oder zugleich, ohne daß die so aus¬
geführte Zeichnung an künstlerischem Wert oder an Vollendung einzubüßen
hätte."

Weil also die Zeichnung minder körperhaft wirkt als Werke der andern
Künste, weil sie, wie sich Klinger weiterhin ausdrückt, alles dargestellte mehr
als Erscheinung denn als Körper wirken läßt, und weil sie farblos ist,
deshalb soll sie die ergänzende Thätigkeit der Phantasie aufrufen, und eben
deshalb — das ist die Hauptsache — soll sie dem Unschönen anders gegenüber
stehn als andre Künste. „Die übrigen bildenden Künste, sagt Klinger, haben
das überwundne Unschöne, die redenden (die poetischen) Künste das zu über¬
windende Unschöne zur Grundlage (!). Dieses ist bei den redenden ein bald
einzelnes, bald wiederkehrendes Glied in der Kette der Handlung, in deren
Lause unser Gefühl (!) durch verschiedne gleichartige Empfindungen (!) und fort¬
rollende Wirkungen gegen das Widerwärtige geführt wird, wie ein Strom
gegen einen Pfeiler. Der Stoß bricht wohl den Lauf, verändert seine Rich¬
tung, aber der Strom wird vom Pfeiler nicht aufgehalten, nur von neuem
konzentrirt; Strom und Handlung haben neue Kraft. Ähnlich kann die
Zeichnung gegen das Unschöne führen. Die Unmöglichkeit, die Welt anders
als durch Farbe, Form, Raum zu sehen, zwingt unsre Phantasie, gleichzeitig
mit dem Erblicken des Abstoßenden jene drei Bedingungen zu ergänzen, und
in dieser Thätigkeit findet sie nicht nnr Ablenkung vom Unschönen, sondern
auch den Eindruck jenes Ringens mit der Widerwärtigkeit, das den Grund
der Dichtung ausmacht (!). Der Unterschied ist, daß der Eindruck bei dieser
ein fortschreitend wechselnder ist, bei der Zeichnung ein momentaner. Die
Malerei (auch die farbige Skulptur), für die die Feststellung jener drei Be¬
dingungen (gemeint sind Farbe, Form und Raum) ecmäitio An<z aug. von ist,
bietet unsrer Vorstellung nichts als das fertige Häßliche und seine Mache,
und hier staut sich das Gefühl wie ein Fluß an einer Mauer."

Sehr sonderbar! Was würde Lessing dazu sagen! Vorher wurde be¬
hauptet, für die Zeichnung als selbständiges Kunstwerk sei die Farblosigkeit
so wesentlich, daß ihre künstlerische Wirkung durch das Hinzutreten der Farbe
zerstört werden würde. Jetzt wird behauptet, beim Anblick einer Zeichnung wären
wir gezwungen, die Farbe hinzuzudenken und das Dargestellte außerdem noch nach


Grenzboten IV 1895 68
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[0539] Malerei und Zeichnung auf uns macht. Wir sind genötigt, dem einfarbigen Eindruck die fehlende Farbe nachzuschaffen, wie wir dem gelesenen Wort Ton und Rhythmus nach¬ schaffen." Später, nach einer Zwischenbemerkung, wird hinzugefügt, daß die Zeichnung der Phantasie nicht bloß den weiten Spielraum lasse, das Dar¬ gestellte farbig zu ergänzen; „sie kann auch die nicht unmittelbar zur Haupt¬ sache gehörigen Formen, ja diese selbst mit derartiger Freiheit behandeln, daß auch hier die Phantasie ergänzen muß; sie kann den Gegenstand ihrer Dar¬ stellung so isoliren, daß die Phantasie den Raum selbst schaffen muß, und diese Mittel kann sie anwenden, einzeln oder zugleich, ohne daß die so aus¬ geführte Zeichnung an künstlerischem Wert oder an Vollendung einzubüßen hätte." Weil also die Zeichnung minder körperhaft wirkt als Werke der andern Künste, weil sie, wie sich Klinger weiterhin ausdrückt, alles dargestellte mehr als Erscheinung denn als Körper wirken läßt, und weil sie farblos ist, deshalb soll sie die ergänzende Thätigkeit der Phantasie aufrufen, und eben deshalb — das ist die Hauptsache — soll sie dem Unschönen anders gegenüber stehn als andre Künste. „Die übrigen bildenden Künste, sagt Klinger, haben das überwundne Unschöne, die redenden (die poetischen) Künste das zu über¬ windende Unschöne zur Grundlage (!). Dieses ist bei den redenden ein bald einzelnes, bald wiederkehrendes Glied in der Kette der Handlung, in deren Lause unser Gefühl (!) durch verschiedne gleichartige Empfindungen (!) und fort¬ rollende Wirkungen gegen das Widerwärtige geführt wird, wie ein Strom gegen einen Pfeiler. Der Stoß bricht wohl den Lauf, verändert seine Rich¬ tung, aber der Strom wird vom Pfeiler nicht aufgehalten, nur von neuem konzentrirt; Strom und Handlung haben neue Kraft. Ähnlich kann die Zeichnung gegen das Unschöne führen. Die Unmöglichkeit, die Welt anders als durch Farbe, Form, Raum zu sehen, zwingt unsre Phantasie, gleichzeitig mit dem Erblicken des Abstoßenden jene drei Bedingungen zu ergänzen, und in dieser Thätigkeit findet sie nicht nnr Ablenkung vom Unschönen, sondern auch den Eindruck jenes Ringens mit der Widerwärtigkeit, das den Grund der Dichtung ausmacht (!). Der Unterschied ist, daß der Eindruck bei dieser ein fortschreitend wechselnder ist, bei der Zeichnung ein momentaner. Die Malerei (auch die farbige Skulptur), für die die Feststellung jener drei Be¬ dingungen (gemeint sind Farbe, Form und Raum) ecmäitio An<z aug. von ist, bietet unsrer Vorstellung nichts als das fertige Häßliche und seine Mache, und hier staut sich das Gefühl wie ein Fluß an einer Mauer." Sehr sonderbar! Was würde Lessing dazu sagen! Vorher wurde be¬ hauptet, für die Zeichnung als selbständiges Kunstwerk sei die Farblosigkeit so wesentlich, daß ihre künstlerische Wirkung durch das Hinzutreten der Farbe zerstört werden würde. Jetzt wird behauptet, beim Anblick einer Zeichnung wären wir gezwungen, die Farbe hinzuzudenken und das Dargestellte außerdem noch nach Grenzboten IV 1895 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/539>, abgerufen am 25.08.2024.