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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

fluß der politischen Lage im Mittelmeer auf die heutige Gruppirung der Mächte
in Europa haben die Grenzboten schon vor Jahren hingewiesen. Wir hoben
immer den Vorzug Deutschlands hervor, unter allen Großmächten am wenigsten
unmittelbar an den mittelmeerischen Problemen beteiligt zu sein. So wie
dort heute die Einflüsse, Ansprüche oder Hoffnungen verteilt sind, vertritt
Deutschland ein gesamteuropäisches Interesse am türkischen Reich, mit dem
sich sein wirtschaftliches zur Zeit noch vollständig deckt. Als eine zu großen
Land- und Völkerteilungen zu spät gekommne Macht strebt Deutschland überall
auf der Erde zunächst die Offenhaltung der Wirtschaftsgebiete an, die noch nicht
von Kolonialgrenzpfählen umsteckt sind. Was die Türkei, China, Korea, Trans¬
vaal usw. an Boden verlieren, verliert auch Deutschlands Industrie, Handel
und Auswanderung. Insofern kann man auch von seiner Politik gegenüber
der Türkei mit vollem Recht sagen, daß sie die ehrlichste Politik der Ver¬
mittlung und Erhaltung sei, deren politische Vorteile nur in der Stellung
Deutschlands in Europa liegen können. "Was andre denken oder thun, ist im
Grunde von geringer Wichtigkeit," sagte Kaiser Nikolaus 1853 zu dem eng¬
lischen Botschafter, als er ihm für den Fall des schon damals nahe geglaubten
Hinscheidens des kranken Mannes ein gemeinsames Vorgehen vorschlug. Dann
fügte er hinzu: "Wenn wir einig sind, bin ich ohne Sorge über den Westen
Europas."*) Diese Gefahr ist auch noch später an Europa vorbeigegangen.
Eine Einigung der beiden Weltmächte aus Kosten der mittlern Mächte Europas,
der sogenannten Großmächte, die neben jenen beiden verschwinden, ist auch vor der
Noseberryschen Ruhmredigkeit über die diplomatischen Erfolge des Prinzen von
Wales in Se. Petersburg im Herbst 1894 angestrebt worden. Natürlich sind
aber die Forderungen auf beiden Seiten so, daß sie nicht neben einander be¬
stehen können. Die Vorherrschaft Rußlands in Kleinasien und an den Euphrat-
quellen ist nicht vereinbar mit Englands Sicherheit in Ägypten. Hier nützen
diplomatisch abgegrenzte Einflußsphären nichts. Die Macht der Thatsachen
treibt die beiden Mächte einander entgegen. Zum Überfluß hat aber nun die
russisch-französische Freundschaft diese Gefahr für lauge Zeit gründlich ver¬
scheucht. Seitdem zum Erstaunen Europas die erbitterten Feinde von 1855
im Jahre 1858 Hand in Hand in den montenegrinischen Angelegenheiten gegen
die Türkei, England und Österreich zugleich aufgetreten sind, steht Frankreich
im Orient zwischen Rußland und England. Was man von dieser Freund¬
schaft in Deutschland und Österreich-Ungarn denken, was man von ihr fürchten
mag, das Verdienst bleibt Frankreich, daß es die drohende Einengung und
Bedrückung Europas zwischen den zwei Kolossen unmöglich gemacht hat. Der
letzte große Staatsmann der Türkei, Ali Pascha, soll 1870 gesagt haben, Frank¬
reichs Freundschaft sei das Unheil der Türkei, Frankreich nur der Weg-



*) Bamberg, Geschichte der orientalischen Angelegenheit. 1892, S. 40.
Grenzboten IV 1895 6K
Dardanellen und Nil

fluß der politischen Lage im Mittelmeer auf die heutige Gruppirung der Mächte
in Europa haben die Grenzboten schon vor Jahren hingewiesen. Wir hoben
immer den Vorzug Deutschlands hervor, unter allen Großmächten am wenigsten
unmittelbar an den mittelmeerischen Problemen beteiligt zu sein. So wie
dort heute die Einflüsse, Ansprüche oder Hoffnungen verteilt sind, vertritt
Deutschland ein gesamteuropäisches Interesse am türkischen Reich, mit dem
sich sein wirtschaftliches zur Zeit noch vollständig deckt. Als eine zu großen
Land- und Völkerteilungen zu spät gekommne Macht strebt Deutschland überall
auf der Erde zunächst die Offenhaltung der Wirtschaftsgebiete an, die noch nicht
von Kolonialgrenzpfählen umsteckt sind. Was die Türkei, China, Korea, Trans¬
vaal usw. an Boden verlieren, verliert auch Deutschlands Industrie, Handel
und Auswanderung. Insofern kann man auch von seiner Politik gegenüber
der Türkei mit vollem Recht sagen, daß sie die ehrlichste Politik der Ver¬
mittlung und Erhaltung sei, deren politische Vorteile nur in der Stellung
Deutschlands in Europa liegen können. „Was andre denken oder thun, ist im
Grunde von geringer Wichtigkeit," sagte Kaiser Nikolaus 1853 zu dem eng¬
lischen Botschafter, als er ihm für den Fall des schon damals nahe geglaubten
Hinscheidens des kranken Mannes ein gemeinsames Vorgehen vorschlug. Dann
fügte er hinzu: „Wenn wir einig sind, bin ich ohne Sorge über den Westen
Europas."*) Diese Gefahr ist auch noch später an Europa vorbeigegangen.
Eine Einigung der beiden Weltmächte aus Kosten der mittlern Mächte Europas,
der sogenannten Großmächte, die neben jenen beiden verschwinden, ist auch vor der
Noseberryschen Ruhmredigkeit über die diplomatischen Erfolge des Prinzen von
Wales in Se. Petersburg im Herbst 1894 angestrebt worden. Natürlich sind
aber die Forderungen auf beiden Seiten so, daß sie nicht neben einander be¬
stehen können. Die Vorherrschaft Rußlands in Kleinasien und an den Euphrat-
quellen ist nicht vereinbar mit Englands Sicherheit in Ägypten. Hier nützen
diplomatisch abgegrenzte Einflußsphären nichts. Die Macht der Thatsachen
treibt die beiden Mächte einander entgegen. Zum Überfluß hat aber nun die
russisch-französische Freundschaft diese Gefahr für lauge Zeit gründlich ver¬
scheucht. Seitdem zum Erstaunen Europas die erbitterten Feinde von 1855
im Jahre 1858 Hand in Hand in den montenegrinischen Angelegenheiten gegen
die Türkei, England und Österreich zugleich aufgetreten sind, steht Frankreich
im Orient zwischen Rußland und England. Was man von dieser Freund¬
schaft in Deutschland und Österreich-Ungarn denken, was man von ihr fürchten
mag, das Verdienst bleibt Frankreich, daß es die drohende Einengung und
Bedrückung Europas zwischen den zwei Kolossen unmöglich gemacht hat. Der
letzte große Staatsmann der Türkei, Ali Pascha, soll 1870 gesagt haben, Frank¬
reichs Freundschaft sei das Unheil der Türkei, Frankreich nur der Weg-



*) Bamberg, Geschichte der orientalischen Angelegenheit. 1892, S. 40.
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[0523] Dardanellen und Nil fluß der politischen Lage im Mittelmeer auf die heutige Gruppirung der Mächte in Europa haben die Grenzboten schon vor Jahren hingewiesen. Wir hoben immer den Vorzug Deutschlands hervor, unter allen Großmächten am wenigsten unmittelbar an den mittelmeerischen Problemen beteiligt zu sein. So wie dort heute die Einflüsse, Ansprüche oder Hoffnungen verteilt sind, vertritt Deutschland ein gesamteuropäisches Interesse am türkischen Reich, mit dem sich sein wirtschaftliches zur Zeit noch vollständig deckt. Als eine zu großen Land- und Völkerteilungen zu spät gekommne Macht strebt Deutschland überall auf der Erde zunächst die Offenhaltung der Wirtschaftsgebiete an, die noch nicht von Kolonialgrenzpfählen umsteckt sind. Was die Türkei, China, Korea, Trans¬ vaal usw. an Boden verlieren, verliert auch Deutschlands Industrie, Handel und Auswanderung. Insofern kann man auch von seiner Politik gegenüber der Türkei mit vollem Recht sagen, daß sie die ehrlichste Politik der Ver¬ mittlung und Erhaltung sei, deren politische Vorteile nur in der Stellung Deutschlands in Europa liegen können. „Was andre denken oder thun, ist im Grunde von geringer Wichtigkeit," sagte Kaiser Nikolaus 1853 zu dem eng¬ lischen Botschafter, als er ihm für den Fall des schon damals nahe geglaubten Hinscheidens des kranken Mannes ein gemeinsames Vorgehen vorschlug. Dann fügte er hinzu: „Wenn wir einig sind, bin ich ohne Sorge über den Westen Europas."*) Diese Gefahr ist auch noch später an Europa vorbeigegangen. Eine Einigung der beiden Weltmächte aus Kosten der mittlern Mächte Europas, der sogenannten Großmächte, die neben jenen beiden verschwinden, ist auch vor der Noseberryschen Ruhmredigkeit über die diplomatischen Erfolge des Prinzen von Wales in Se. Petersburg im Herbst 1894 angestrebt worden. Natürlich sind aber die Forderungen auf beiden Seiten so, daß sie nicht neben einander be¬ stehen können. Die Vorherrschaft Rußlands in Kleinasien und an den Euphrat- quellen ist nicht vereinbar mit Englands Sicherheit in Ägypten. Hier nützen diplomatisch abgegrenzte Einflußsphären nichts. Die Macht der Thatsachen treibt die beiden Mächte einander entgegen. Zum Überfluß hat aber nun die russisch-französische Freundschaft diese Gefahr für lauge Zeit gründlich ver¬ scheucht. Seitdem zum Erstaunen Europas die erbitterten Feinde von 1855 im Jahre 1858 Hand in Hand in den montenegrinischen Angelegenheiten gegen die Türkei, England und Österreich zugleich aufgetreten sind, steht Frankreich im Orient zwischen Rußland und England. Was man von dieser Freund¬ schaft in Deutschland und Österreich-Ungarn denken, was man von ihr fürchten mag, das Verdienst bleibt Frankreich, daß es die drohende Einengung und Bedrückung Europas zwischen den zwei Kolossen unmöglich gemacht hat. Der letzte große Staatsmann der Türkei, Ali Pascha, soll 1870 gesagt haben, Frank¬ reichs Freundschaft sei das Unheil der Türkei, Frankreich nur der Weg- *) Bamberg, Geschichte der orientalischen Angelegenheit. 1892, S. 40. Grenzboten IV 1895 6K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/523>, abgerufen am 26.08.2024.