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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

schaften und ihr Glaube sind aber ungeschwächt. Nicht so leicht wie die ent¬
nervten Ägypter werden sie es zulassen, daß der Koran seine Geltung als
Gesetzbuch, und zwar als Gesetzbuch für alle Unterthanen des Sultans verliert.

Die Fruchtbarkeit Kleinasiens wird oft überschätzt. Man vergißt die
Steppen und Wüsten, die sich zwischen seine blühenden Stufenlünder, Fluß-
thüler und Gebirgshänge legen. Über seine Mineralschütze, die im Altertum
so berühmt waren, ist sich die Neuzeit nicht recht klar. An den Silber-
bergwerken von Karahissar haben noch in den letzten Jahren deutsche Unternehmer
üble Erfahrungen gemacht. Aber es ist keine Frage, daß es mindestens ein
östliches Spanien werden könnte. Dazu kommt seine außerordentlich vorteil¬
hafte Lage. Kein Wunder, daß sich so oft die Augen der Kolonialpolitiker
darauf gerichtet haben. Unter unsern Landsleuten nennen wir Roß, Fabri
und Schäffle als hervorragende Freunde deutscher Kolonisation in Kleinasien.
Jeder wird mit diesen Männern der Meinung sein, daß die Anlegung deutscher
Ackerbaukolonien in den fieberfreien, fruchtbaren Gegenden Kleinasiens ein er¬
strebenswertes Ziel sei, wenn ihnen Schutz und bestimmte Freiheiten ge¬
währleistet werden könnten. Von Fabri wissen wir gut genug, daß er prak¬
tisch nicht darüber hinaus dachte. Wenn ihm der Wunsch aufstieg, Deutsch¬
land möchte einmal ein Stück Kleinasien oder Syrien aus der türkischen Erb¬
teilung erlangen, so war er doch soweit praktischer Politiker, daß er für
das beste Mittel zur Verwirklichung eines so kühnen Gedankens die Schaffung
deutscher Interessen in der Levante erklärte. Daß es Thorheit wäre, großen
Plänen nachzuhängen, solange die englische Flagge in den Häfen des Ageischen
Meeres und selbst aus der untern Donau die deutsche so unbedingt in den
Schatten stellt, wie das noch heute geschieht, damit wird jeder einverstanden sein.
Dem wirtschaftlichen und geistigen Einfluß folgt der politische von selbst. In
dieser Beziehung wird mit jedem Jahre emsiger und, wir dürfen es freudig
rühmen, erfolgreicher vvrwürtsgearbeitet.

Für unsre auswärtige Politik liegt die kleinasiatische Frage aber gar nicht
so einfach. Diese muß an das Nächste zuerst denken, und da ist vor allem ein¬
leuchtend, daß das Gefühl Frankreichs, in Syrien und Ägypten so gut wie in
Hinterindien und Ostasien durch das Vorgehen und die Forderungen der Eng¬
länder bedroht zu sein, mehr zu der russisch-französischen Freundschaft beigetragen
hat als die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich. Auf den überwiegenden Ein¬


Standes lastet, an die häufigen Kriege und das Elend, in dem in Christenaufständen in Kreta
und in der europäischen Türkei oft Tausende von türkischen Frauen und Kindern umgekommen
sind. Die Gesamtzahl der Türken im türkischen Reiche wird bei der Pforte auf 14 Millionen
angegeben, Vändern glaubt sie nicht auf höher als 10 Millionen schätzen zu dürfen. In
Europa giebt es nur noch etwa 600000 Türken, sodaß nur etwa V? der Bevölkerung der
europäischen Türkei der herrschenden Rasse zugehört. Die Kernmasse der Türken sitzt in Klein¬
asien, und das verwickelt das kleinasiatische Problem noch mehr.
Dardanellen und Nil

schaften und ihr Glaube sind aber ungeschwächt. Nicht so leicht wie die ent¬
nervten Ägypter werden sie es zulassen, daß der Koran seine Geltung als
Gesetzbuch, und zwar als Gesetzbuch für alle Unterthanen des Sultans verliert.

Die Fruchtbarkeit Kleinasiens wird oft überschätzt. Man vergißt die
Steppen und Wüsten, die sich zwischen seine blühenden Stufenlünder, Fluß-
thüler und Gebirgshänge legen. Über seine Mineralschütze, die im Altertum
so berühmt waren, ist sich die Neuzeit nicht recht klar. An den Silber-
bergwerken von Karahissar haben noch in den letzten Jahren deutsche Unternehmer
üble Erfahrungen gemacht. Aber es ist keine Frage, daß es mindestens ein
östliches Spanien werden könnte. Dazu kommt seine außerordentlich vorteil¬
hafte Lage. Kein Wunder, daß sich so oft die Augen der Kolonialpolitiker
darauf gerichtet haben. Unter unsern Landsleuten nennen wir Roß, Fabri
und Schäffle als hervorragende Freunde deutscher Kolonisation in Kleinasien.
Jeder wird mit diesen Männern der Meinung sein, daß die Anlegung deutscher
Ackerbaukolonien in den fieberfreien, fruchtbaren Gegenden Kleinasiens ein er¬
strebenswertes Ziel sei, wenn ihnen Schutz und bestimmte Freiheiten ge¬
währleistet werden könnten. Von Fabri wissen wir gut genug, daß er prak¬
tisch nicht darüber hinaus dachte. Wenn ihm der Wunsch aufstieg, Deutsch¬
land möchte einmal ein Stück Kleinasien oder Syrien aus der türkischen Erb¬
teilung erlangen, so war er doch soweit praktischer Politiker, daß er für
das beste Mittel zur Verwirklichung eines so kühnen Gedankens die Schaffung
deutscher Interessen in der Levante erklärte. Daß es Thorheit wäre, großen
Plänen nachzuhängen, solange die englische Flagge in den Häfen des Ageischen
Meeres und selbst aus der untern Donau die deutsche so unbedingt in den
Schatten stellt, wie das noch heute geschieht, damit wird jeder einverstanden sein.
Dem wirtschaftlichen und geistigen Einfluß folgt der politische von selbst. In
dieser Beziehung wird mit jedem Jahre emsiger und, wir dürfen es freudig
rühmen, erfolgreicher vvrwürtsgearbeitet.

Für unsre auswärtige Politik liegt die kleinasiatische Frage aber gar nicht
so einfach. Diese muß an das Nächste zuerst denken, und da ist vor allem ein¬
leuchtend, daß das Gefühl Frankreichs, in Syrien und Ägypten so gut wie in
Hinterindien und Ostasien durch das Vorgehen und die Forderungen der Eng¬
länder bedroht zu sein, mehr zu der russisch-französischen Freundschaft beigetragen
hat als die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich. Auf den überwiegenden Ein¬


Standes lastet, an die häufigen Kriege und das Elend, in dem in Christenaufständen in Kreta
und in der europäischen Türkei oft Tausende von türkischen Frauen und Kindern umgekommen
sind. Die Gesamtzahl der Türken im türkischen Reiche wird bei der Pforte auf 14 Millionen
angegeben, Vändern glaubt sie nicht auf höher als 10 Millionen schätzen zu dürfen. In
Europa giebt es nur noch etwa 600000 Türken, sodaß nur etwa V? der Bevölkerung der
europäischen Türkei der herrschenden Rasse zugehört. Die Kernmasse der Türken sitzt in Klein¬
asien, und das verwickelt das kleinasiatische Problem noch mehr.
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[0522] Dardanellen und Nil schaften und ihr Glaube sind aber ungeschwächt. Nicht so leicht wie die ent¬ nervten Ägypter werden sie es zulassen, daß der Koran seine Geltung als Gesetzbuch, und zwar als Gesetzbuch für alle Unterthanen des Sultans verliert. Die Fruchtbarkeit Kleinasiens wird oft überschätzt. Man vergißt die Steppen und Wüsten, die sich zwischen seine blühenden Stufenlünder, Fluß- thüler und Gebirgshänge legen. Über seine Mineralschütze, die im Altertum so berühmt waren, ist sich die Neuzeit nicht recht klar. An den Silber- bergwerken von Karahissar haben noch in den letzten Jahren deutsche Unternehmer üble Erfahrungen gemacht. Aber es ist keine Frage, daß es mindestens ein östliches Spanien werden könnte. Dazu kommt seine außerordentlich vorteil¬ hafte Lage. Kein Wunder, daß sich so oft die Augen der Kolonialpolitiker darauf gerichtet haben. Unter unsern Landsleuten nennen wir Roß, Fabri und Schäffle als hervorragende Freunde deutscher Kolonisation in Kleinasien. Jeder wird mit diesen Männern der Meinung sein, daß die Anlegung deutscher Ackerbaukolonien in den fieberfreien, fruchtbaren Gegenden Kleinasiens ein er¬ strebenswertes Ziel sei, wenn ihnen Schutz und bestimmte Freiheiten ge¬ währleistet werden könnten. Von Fabri wissen wir gut genug, daß er prak¬ tisch nicht darüber hinaus dachte. Wenn ihm der Wunsch aufstieg, Deutsch¬ land möchte einmal ein Stück Kleinasien oder Syrien aus der türkischen Erb¬ teilung erlangen, so war er doch soweit praktischer Politiker, daß er für das beste Mittel zur Verwirklichung eines so kühnen Gedankens die Schaffung deutscher Interessen in der Levante erklärte. Daß es Thorheit wäre, großen Plänen nachzuhängen, solange die englische Flagge in den Häfen des Ageischen Meeres und selbst aus der untern Donau die deutsche so unbedingt in den Schatten stellt, wie das noch heute geschieht, damit wird jeder einverstanden sein. Dem wirtschaftlichen und geistigen Einfluß folgt der politische von selbst. In dieser Beziehung wird mit jedem Jahre emsiger und, wir dürfen es freudig rühmen, erfolgreicher vvrwürtsgearbeitet. Für unsre auswärtige Politik liegt die kleinasiatische Frage aber gar nicht so einfach. Diese muß an das Nächste zuerst denken, und da ist vor allem ein¬ leuchtend, daß das Gefühl Frankreichs, in Syrien und Ägypten so gut wie in Hinterindien und Ostasien durch das Vorgehen und die Forderungen der Eng¬ länder bedroht zu sein, mehr zu der russisch-französischen Freundschaft beigetragen hat als die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich. Auf den überwiegenden Ein¬ Standes lastet, an die häufigen Kriege und das Elend, in dem in Christenaufständen in Kreta und in der europäischen Türkei oft Tausende von türkischen Frauen und Kindern umgekommen sind. Die Gesamtzahl der Türken im türkischen Reiche wird bei der Pforte auf 14 Millionen angegeben, Vändern glaubt sie nicht auf höher als 10 Millionen schätzen zu dürfen. In Europa giebt es nur noch etwa 600000 Türken, sodaß nur etwa V? der Bevölkerung der europäischen Türkei der herrschenden Rasse zugehört. Die Kernmasse der Türken sitzt in Klein¬ asien, und das verwickelt das kleinasiatische Problem noch mehr.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/522>, abgerufen am 26.08.2024.