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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

schiffe haben sich in allen Haupthafen Syriens und Kleinasiens in eine Stellung
neben oder unmittelbar nach den englischen hinaufgearbeitet. Endlich ist ihm
die großgriechische Bewegung in Cypern fatal, für das es lieber immer weiter
aus dem Sack der Cyprioten den Tribut von 1840000 Mark an den Sultan,
d. h. in Wirklichkeit an die Gläubiger eines von England und Frankreich ver¬
bürgten türkischen Urlebens von 1854 zahlt, als daß es die wenig einträgliche
aber glänzend gelegne Insel an König Georgios abträte.

Tiefer noch als der Gegensatz der zwei einzigen Großmächte Europa-
Asiens, die heute diesen Namen verdienen, reicht in dem Boden Vorder¬
asiens ein sast hoffnungsloses Kulturproblem. Man muß der Wirklichkeit in
die Augen sehen und die Schwere der Krankheit des türkischen Reiches zu¬
geben. Es giebt keinen Staat in der Welt, der fortbesteht, wenn das herrschende
Volk an Zahl, Bildung und Wohlstand immer mehr zurückgeht, während die
Unterworfnen aus allen diesen Quellen politischer Macht mit vollen Bechern
schöpfen. Unter dem Rassen- und Religionsunterschiede liegt auch in der Türkei
der viel wirksamere, an jedem Ort und zu jeder Stunde sich kundgebende Kultur¬
unterschied. Die Frage des türkischen Reichs ist eine Kulturfrage. Gerade
darum ist das Übel unheilbar, weil der Islam keine Religion, sondern eine
Kultur ist, und weil man den Islam aus diesem Boden nicht herausreißen
kann wie ein Unkraut.

Welche guten Eigenschaften der herrschenden Klasse bei den Türken auch
zu finden sein mögen, wie hell sich so mancher einzelne einfache, wahre, mut-
vvlle Aristokrat im türkischen Bauern- oder Lastträgerkittel oder im Herrscher-
gewmide abhebt vor der gedrückten, schlauen, verschlagnen, entmutigten Rajah,
das Entscheidende wird von diesem Unterschiede, wie überall und immer, nicht
berührt. Die Türken sind kulturarm im Vergleich mit ihren christlichen Unter¬
thanen, und an deren Kulturüberlegenheit werden sie zu Grunde gehen. Es
giebt nur ein herrschendes, den Kriegs- und Staatsdienst in allen Zweigen
in Anspruch nehmendes, den Handel und großenteils überhaupt die wirtschaft¬
liche Thätigkeit verachtendes Türkenvolk; fast alles Erwerbsleben, alle höhere
Bildung, das ganze, was von organischem, fruchtbarem Zusammenhang mit
Europa da ist, gehört den Christen. Wo die barbarisch-einfache türkische Me¬
thode, diesen Unterschied auszugleichen, nämlich die grausame Ausbeutung der
Christen, aufgehört hat, wie in Syrien seit den unter der europäischen
Okkupation eingeführten Reformen, ist der Wohlstand der Christen sichtlich
gestiegen, der der Türken in bedrohlichem Maße gesunken. Das erklärt viel
von der Spannung, die zwischen Muhammedanern und Christen immer mehr
wächst, und viele Unruhen der letzten Monate haben nur in dem gesteigerten
Haß und Neid der erstern ihren Grund. Das erklärt auch, warum die euro¬
päische Intervention immer wieder einmal unvermeidlich wird, wie sie in
Griechenland und Syrien unvermeidlich geworden war. Es liegt aber darin


Dardanellen und Nil

schiffe haben sich in allen Haupthafen Syriens und Kleinasiens in eine Stellung
neben oder unmittelbar nach den englischen hinaufgearbeitet. Endlich ist ihm
die großgriechische Bewegung in Cypern fatal, für das es lieber immer weiter
aus dem Sack der Cyprioten den Tribut von 1840000 Mark an den Sultan,
d. h. in Wirklichkeit an die Gläubiger eines von England und Frankreich ver¬
bürgten türkischen Urlebens von 1854 zahlt, als daß es die wenig einträgliche
aber glänzend gelegne Insel an König Georgios abträte.

Tiefer noch als der Gegensatz der zwei einzigen Großmächte Europa-
Asiens, die heute diesen Namen verdienen, reicht in dem Boden Vorder¬
asiens ein sast hoffnungsloses Kulturproblem. Man muß der Wirklichkeit in
die Augen sehen und die Schwere der Krankheit des türkischen Reiches zu¬
geben. Es giebt keinen Staat in der Welt, der fortbesteht, wenn das herrschende
Volk an Zahl, Bildung und Wohlstand immer mehr zurückgeht, während die
Unterworfnen aus allen diesen Quellen politischer Macht mit vollen Bechern
schöpfen. Unter dem Rassen- und Religionsunterschiede liegt auch in der Türkei
der viel wirksamere, an jedem Ort und zu jeder Stunde sich kundgebende Kultur¬
unterschied. Die Frage des türkischen Reichs ist eine Kulturfrage. Gerade
darum ist das Übel unheilbar, weil der Islam keine Religion, sondern eine
Kultur ist, und weil man den Islam aus diesem Boden nicht herausreißen
kann wie ein Unkraut.

Welche guten Eigenschaften der herrschenden Klasse bei den Türken auch
zu finden sein mögen, wie hell sich so mancher einzelne einfache, wahre, mut-
vvlle Aristokrat im türkischen Bauern- oder Lastträgerkittel oder im Herrscher-
gewmide abhebt vor der gedrückten, schlauen, verschlagnen, entmutigten Rajah,
das Entscheidende wird von diesem Unterschiede, wie überall und immer, nicht
berührt. Die Türken sind kulturarm im Vergleich mit ihren christlichen Unter¬
thanen, und an deren Kulturüberlegenheit werden sie zu Grunde gehen. Es
giebt nur ein herrschendes, den Kriegs- und Staatsdienst in allen Zweigen
in Anspruch nehmendes, den Handel und großenteils überhaupt die wirtschaft¬
liche Thätigkeit verachtendes Türkenvolk; fast alles Erwerbsleben, alle höhere
Bildung, das ganze, was von organischem, fruchtbarem Zusammenhang mit
Europa da ist, gehört den Christen. Wo die barbarisch-einfache türkische Me¬
thode, diesen Unterschied auszugleichen, nämlich die grausame Ausbeutung der
Christen, aufgehört hat, wie in Syrien seit den unter der europäischen
Okkupation eingeführten Reformen, ist der Wohlstand der Christen sichtlich
gestiegen, der der Türken in bedrohlichem Maße gesunken. Das erklärt viel
von der Spannung, die zwischen Muhammedanern und Christen immer mehr
wächst, und viele Unruhen der letzten Monate haben nur in dem gesteigerten
Haß und Neid der erstern ihren Grund. Das erklärt auch, warum die euro¬
päische Intervention immer wieder einmal unvermeidlich wird, wie sie in
Griechenland und Syrien unvermeidlich geworden war. Es liegt aber darin


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[0520] Dardanellen und Nil schiffe haben sich in allen Haupthafen Syriens und Kleinasiens in eine Stellung neben oder unmittelbar nach den englischen hinaufgearbeitet. Endlich ist ihm die großgriechische Bewegung in Cypern fatal, für das es lieber immer weiter aus dem Sack der Cyprioten den Tribut von 1840000 Mark an den Sultan, d. h. in Wirklichkeit an die Gläubiger eines von England und Frankreich ver¬ bürgten türkischen Urlebens von 1854 zahlt, als daß es die wenig einträgliche aber glänzend gelegne Insel an König Georgios abträte. Tiefer noch als der Gegensatz der zwei einzigen Großmächte Europa- Asiens, die heute diesen Namen verdienen, reicht in dem Boden Vorder¬ asiens ein sast hoffnungsloses Kulturproblem. Man muß der Wirklichkeit in die Augen sehen und die Schwere der Krankheit des türkischen Reiches zu¬ geben. Es giebt keinen Staat in der Welt, der fortbesteht, wenn das herrschende Volk an Zahl, Bildung und Wohlstand immer mehr zurückgeht, während die Unterworfnen aus allen diesen Quellen politischer Macht mit vollen Bechern schöpfen. Unter dem Rassen- und Religionsunterschiede liegt auch in der Türkei der viel wirksamere, an jedem Ort und zu jeder Stunde sich kundgebende Kultur¬ unterschied. Die Frage des türkischen Reichs ist eine Kulturfrage. Gerade darum ist das Übel unheilbar, weil der Islam keine Religion, sondern eine Kultur ist, und weil man den Islam aus diesem Boden nicht herausreißen kann wie ein Unkraut. Welche guten Eigenschaften der herrschenden Klasse bei den Türken auch zu finden sein mögen, wie hell sich so mancher einzelne einfache, wahre, mut- vvlle Aristokrat im türkischen Bauern- oder Lastträgerkittel oder im Herrscher- gewmide abhebt vor der gedrückten, schlauen, verschlagnen, entmutigten Rajah, das Entscheidende wird von diesem Unterschiede, wie überall und immer, nicht berührt. Die Türken sind kulturarm im Vergleich mit ihren christlichen Unter¬ thanen, und an deren Kulturüberlegenheit werden sie zu Grunde gehen. Es giebt nur ein herrschendes, den Kriegs- und Staatsdienst in allen Zweigen in Anspruch nehmendes, den Handel und großenteils überhaupt die wirtschaft¬ liche Thätigkeit verachtendes Türkenvolk; fast alles Erwerbsleben, alle höhere Bildung, das ganze, was von organischem, fruchtbarem Zusammenhang mit Europa da ist, gehört den Christen. Wo die barbarisch-einfache türkische Me¬ thode, diesen Unterschied auszugleichen, nämlich die grausame Ausbeutung der Christen, aufgehört hat, wie in Syrien seit den unter der europäischen Okkupation eingeführten Reformen, ist der Wohlstand der Christen sichtlich gestiegen, der der Türken in bedrohlichem Maße gesunken. Das erklärt viel von der Spannung, die zwischen Muhammedanern und Christen immer mehr wächst, und viele Unruhen der letzten Monate haben nur in dem gesteigerten Haß und Neid der erstern ihren Grund. Das erklärt auch, warum die euro¬ päische Intervention immer wieder einmal unvermeidlich wird, wie sie in Griechenland und Syrien unvermeidlich geworden war. Es liegt aber darin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/520>, abgerufen am 25.08.2024.