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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

die andern zu führen. Rußland will die Leitung der Armenier in der Hand
behalten, nicht einem anonymen Komitee in London oder Athen überlassen, und
besonders hält es für seine armenischen Unterthanen viele Freiheiten für über¬
flüssig, die es denen der Türkei zu gönnen scheint. Da es das Tempo seiner
Politik bestimmen und die guten Gelegenheiten selbst schaffen will, ist ihm die
beständige Wachhaltung der nationalen Erregung der Armenier durch England
im höchsten Grade unbequem, und doppelt jetzt, wo es in Ostasien alle Hände
voll zu thun hat. So hat sich denn die russische Presse durchaus nicht dankbar
gezeigt, als ein armenisches Komitee Nußland zum Einrücken in Türkisch-
Armenien aufforderte, und die ^ovo^'s ^Vrsmja, lehnte die armen Armenier
mit einer Kälte ab, der man die Absicht anmerkte.

Armenien rein als Land böte Rußland die beherrschende Stellung in Vorder¬
asien, Persien und Mesopotamien. Es ist zugleich ein Durchgangsland zum
Indischen Ozean, in dessen Besitz Nußland eine etwaige Sperrung der Dar¬
danellen nicht mehr so weh thun könnte, wie die Engländer glauben. Russisch-
Armenien umschließt weit über die Hälfte des alten Königreichs Armenien mit
dem Patriarchenklvster Etschmiadsin, dem kirchlichen Mittelpunkt der Armenier.
Unmittelbar an diese in Türken- und Perserkriegen 1826, 1829 und 1877 er-
worbnen Gebiete schließt sich Türkisch-Armenien an, das einzige Gebiet kompakter
christlicher Bevölkerung in der asiatischen Türkei, und ein nicht geringer Teil
der Armenier sitzt in der angrenzenden persischen Provinz Aserbeidschcm. Sind
auch diese Teile des alten Hochmedien und Armenien nur Bruchstücke, so liegen
doch gerade in ihnen die ausschlaggebenden Stellungen Vorderasiens: das obere
Halys- und Euphratgebiet würde Rußland zum Herren Kleinasiens machen,
das Wandecken liegt beherrschend zwischen Kurdistan, Persien und Mesopotamien.
Über diese Höhe muß die Euphrat- oder Tigrisbahn ihren Weg zum Indischen
Ozean nehmen.

England muß ununterbrochen auf dem Platze sein, um Rußlands Fort¬
schreiten zu überwachen, um so mehr als durch die moralische Eroberung
Persiens vom Kaspisee her der linke Flügel dieser großen Stellung unter
russische Führung gelangt ist. An Machtmitteln und unmittelbarem Einfluß
kann sich England in diesem Gebiet nicht mit Nußland messen. Um so ent-
schiedner verfolgt es das Ziel, sich unter den Völkern Vorderasiens Sympathien
zu erwerben. Nußland imponirt diesen Völkern und hat ihnen mehr greifbare
Segnungen gebracht, als wenn England tausend Missionare, Kommissare und
Zeitungskorrespondenten geschickt hätte. England weiß nun von Indien her zu
gut, was der Ruf eines Volks im Orient bedeutet. Es will überall in der Welt
der Beschützer der Freiheiten und der Anwalt der Unterdrückten sein. Es ist
eine Thorheit, das als eine Sentimentalität zu belächeln. Es steckt eine höchst
praktische Auffassung des Werth der politischen "Imponderabilien" dahinter
und eine Selbsterkenntnis, die man bewundern muß. Wo die Schiffe nicht


Dardanellen und Nil

die andern zu führen. Rußland will die Leitung der Armenier in der Hand
behalten, nicht einem anonymen Komitee in London oder Athen überlassen, und
besonders hält es für seine armenischen Unterthanen viele Freiheiten für über¬
flüssig, die es denen der Türkei zu gönnen scheint. Da es das Tempo seiner
Politik bestimmen und die guten Gelegenheiten selbst schaffen will, ist ihm die
beständige Wachhaltung der nationalen Erregung der Armenier durch England
im höchsten Grade unbequem, und doppelt jetzt, wo es in Ostasien alle Hände
voll zu thun hat. So hat sich denn die russische Presse durchaus nicht dankbar
gezeigt, als ein armenisches Komitee Nußland zum Einrücken in Türkisch-
Armenien aufforderte, und die ^ovo^'s ^Vrsmja, lehnte die armen Armenier
mit einer Kälte ab, der man die Absicht anmerkte.

Armenien rein als Land böte Rußland die beherrschende Stellung in Vorder¬
asien, Persien und Mesopotamien. Es ist zugleich ein Durchgangsland zum
Indischen Ozean, in dessen Besitz Nußland eine etwaige Sperrung der Dar¬
danellen nicht mehr so weh thun könnte, wie die Engländer glauben. Russisch-
Armenien umschließt weit über die Hälfte des alten Königreichs Armenien mit
dem Patriarchenklvster Etschmiadsin, dem kirchlichen Mittelpunkt der Armenier.
Unmittelbar an diese in Türken- und Perserkriegen 1826, 1829 und 1877 er-
worbnen Gebiete schließt sich Türkisch-Armenien an, das einzige Gebiet kompakter
christlicher Bevölkerung in der asiatischen Türkei, und ein nicht geringer Teil
der Armenier sitzt in der angrenzenden persischen Provinz Aserbeidschcm. Sind
auch diese Teile des alten Hochmedien und Armenien nur Bruchstücke, so liegen
doch gerade in ihnen die ausschlaggebenden Stellungen Vorderasiens: das obere
Halys- und Euphratgebiet würde Rußland zum Herren Kleinasiens machen,
das Wandecken liegt beherrschend zwischen Kurdistan, Persien und Mesopotamien.
Über diese Höhe muß die Euphrat- oder Tigrisbahn ihren Weg zum Indischen
Ozean nehmen.

England muß ununterbrochen auf dem Platze sein, um Rußlands Fort¬
schreiten zu überwachen, um so mehr als durch die moralische Eroberung
Persiens vom Kaspisee her der linke Flügel dieser großen Stellung unter
russische Führung gelangt ist. An Machtmitteln und unmittelbarem Einfluß
kann sich England in diesem Gebiet nicht mit Nußland messen. Um so ent-
schiedner verfolgt es das Ziel, sich unter den Völkern Vorderasiens Sympathien
zu erwerben. Nußland imponirt diesen Völkern und hat ihnen mehr greifbare
Segnungen gebracht, als wenn England tausend Missionare, Kommissare und
Zeitungskorrespondenten geschickt hätte. England weiß nun von Indien her zu
gut, was der Ruf eines Volks im Orient bedeutet. Es will überall in der Welt
der Beschützer der Freiheiten und der Anwalt der Unterdrückten sein. Es ist
eine Thorheit, das als eine Sentimentalität zu belächeln. Es steckt eine höchst
praktische Auffassung des Werth der politischen „Imponderabilien" dahinter
und eine Selbsterkenntnis, die man bewundern muß. Wo die Schiffe nicht


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[0518] Dardanellen und Nil die andern zu führen. Rußland will die Leitung der Armenier in der Hand behalten, nicht einem anonymen Komitee in London oder Athen überlassen, und besonders hält es für seine armenischen Unterthanen viele Freiheiten für über¬ flüssig, die es denen der Türkei zu gönnen scheint. Da es das Tempo seiner Politik bestimmen und die guten Gelegenheiten selbst schaffen will, ist ihm die beständige Wachhaltung der nationalen Erregung der Armenier durch England im höchsten Grade unbequem, und doppelt jetzt, wo es in Ostasien alle Hände voll zu thun hat. So hat sich denn die russische Presse durchaus nicht dankbar gezeigt, als ein armenisches Komitee Nußland zum Einrücken in Türkisch- Armenien aufforderte, und die ^ovo^'s ^Vrsmja, lehnte die armen Armenier mit einer Kälte ab, der man die Absicht anmerkte. Armenien rein als Land böte Rußland die beherrschende Stellung in Vorder¬ asien, Persien und Mesopotamien. Es ist zugleich ein Durchgangsland zum Indischen Ozean, in dessen Besitz Nußland eine etwaige Sperrung der Dar¬ danellen nicht mehr so weh thun könnte, wie die Engländer glauben. Russisch- Armenien umschließt weit über die Hälfte des alten Königreichs Armenien mit dem Patriarchenklvster Etschmiadsin, dem kirchlichen Mittelpunkt der Armenier. Unmittelbar an diese in Türken- und Perserkriegen 1826, 1829 und 1877 er- worbnen Gebiete schließt sich Türkisch-Armenien an, das einzige Gebiet kompakter christlicher Bevölkerung in der asiatischen Türkei, und ein nicht geringer Teil der Armenier sitzt in der angrenzenden persischen Provinz Aserbeidschcm. Sind auch diese Teile des alten Hochmedien und Armenien nur Bruchstücke, so liegen doch gerade in ihnen die ausschlaggebenden Stellungen Vorderasiens: das obere Halys- und Euphratgebiet würde Rußland zum Herren Kleinasiens machen, das Wandecken liegt beherrschend zwischen Kurdistan, Persien und Mesopotamien. Über diese Höhe muß die Euphrat- oder Tigrisbahn ihren Weg zum Indischen Ozean nehmen. England muß ununterbrochen auf dem Platze sein, um Rußlands Fort¬ schreiten zu überwachen, um so mehr als durch die moralische Eroberung Persiens vom Kaspisee her der linke Flügel dieser großen Stellung unter russische Führung gelangt ist. An Machtmitteln und unmittelbarem Einfluß kann sich England in diesem Gebiet nicht mit Nußland messen. Um so ent- schiedner verfolgt es das Ziel, sich unter den Völkern Vorderasiens Sympathien zu erwerben. Nußland imponirt diesen Völkern und hat ihnen mehr greifbare Segnungen gebracht, als wenn England tausend Missionare, Kommissare und Zeitungskorrespondenten geschickt hätte. England weiß nun von Indien her zu gut, was der Ruf eines Volks im Orient bedeutet. Es will überall in der Welt der Beschützer der Freiheiten und der Anwalt der Unterdrückten sein. Es ist eine Thorheit, das als eine Sentimentalität zu belächeln. Es steckt eine höchst praktische Auffassung des Werth der politischen „Imponderabilien" dahinter und eine Selbsterkenntnis, die man bewundern muß. Wo die Schiffe nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/518>, abgerufen am 24.08.2024.