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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

der Türkei. Die Armenier sind eine der geschlossensten, einheitlichsten Nassen und
eines der selbstbewußtesten, aufstrebendsten Völker Asiens. In der Türkei wie
in Rußland haben sie sich unter ganz verschiednen, hier wie dort ungünstigen
Verhältnissen zur Geltung zu bringen gewußt. Sie tragen ihren Teil an der
Last der Türkenherrschaft, sie ziehen aber auch ihren Gewinnanteil davon. Sie
sind bis in die neueste Zeit das jüdisch schmiegsamste Volk des türkischen Reichs
gewesen, das gar nichts für sich zu fordern schien als das Recht, geduckt seinem
Erwerb nachzugehen. Vor den Griechen verschaffte ihnen das den großen
Vorzug, daß keine großen geschichtlichen Erinnerungen sie stolz und hoffnungs¬
voll machten. Darum waren sie dem türkischen Herrn als Diener angenehmer
als alle andern Christen. Sie schlössen sich ihm an, wurden in niedern Be¬
amtenstellungen, besonders in Schreibstuben und Zollstätten zugelassen und er¬
warben als Geldleute noch mehr Einfluß. Besonders in Kleinasien zwang sie
ihre Stellung zwischen Türken und Griechen, deren Sprachen zu lernen, und
sie wurden unentbehrliche Vermittler. Zwischen Russen, Grusinern und Persern
war ihre Stellung im Kaukasuslande und Hochmedien ähnlich. Immer häu¬
figer sind die Fälle geworden, wo sich Armenier selbst bei der Pforte unent¬
behrlich machten. Nubar Pascha ist ja auch ein in Smyrna geborner Armenier.

In Nußland sind es mehr ihre wirtschaftlichen Eigenschaften, denen sie
Erfolge verdanken, wiewohl in hohen militärischen und Beamtenstellungen auch
hier Armenier oft genug hervortreten. Sie wohnen in Rußland mit Völkern
zusammen, zu deren nationalen Eigentümlichkeiten vor allem die Trägheit und
Genußsucht gehört. Dem ritterlichen Nichtsthuer in Georgien gegenüber spielen
sie die Rolle, die der Jude in Polen oder Rumänien übernommen hat. Selbst
vom Russen heißt es, er habe weniger Menschenkenntnis als ein armenischer
Knabe. Rußland brachte die Armenier den abendländischen Bildungsquellen
näher. Die Armenier haben sich der Presse, der Litteratur, sogar des Theaters
mit einer überraschenden Schnelligkeit bemächtigt, und Rußland hat dem National¬
gefühl, das sich darin äußert, schon manchen Dämpfer aufsetzen müssen. Tiflis
wird mit etwa 100000 Armeniern immer mehr die weltliche Hauptstadt der
Armenier, wie Etschmiadsin die geistliche ist. Die alten Hauptstädte Erzerum,
Eriwcm, Trapezunt, Wan treten dahinter zurück. Rußland ist immer empfind¬
lich gewesen gegenüber der leidenschaftlichen nationalen Bewegung unter den
türkischen Armeniern, die ein Großarmenien zwischen dem Schwarzen Meere
und dem Kaspisee, und vom Kaukasus bis zum Zagrosgebirge träumen. Als
ich jüngst einem sehr intelligenten Armenier bemerkte, die Verteilung der
Armenier zwischen Russen, Türken, Persern, Grusinern und Kurden werde
ihnen immer den Zusammenschluß als Völkerfamilie erschweren, ja er müsse
vielleicht für unmöglich gelten, war die rasche Antwort: das sehen unsre
Führer alle ein, darum eben geht unser Streben dahin, als das gebildetste
und mächtigste Volk in den alten Grenzen Armeniens anerkannt zu sein und


Dardanellen und Nil

der Türkei. Die Armenier sind eine der geschlossensten, einheitlichsten Nassen und
eines der selbstbewußtesten, aufstrebendsten Völker Asiens. In der Türkei wie
in Rußland haben sie sich unter ganz verschiednen, hier wie dort ungünstigen
Verhältnissen zur Geltung zu bringen gewußt. Sie tragen ihren Teil an der
Last der Türkenherrschaft, sie ziehen aber auch ihren Gewinnanteil davon. Sie
sind bis in die neueste Zeit das jüdisch schmiegsamste Volk des türkischen Reichs
gewesen, das gar nichts für sich zu fordern schien als das Recht, geduckt seinem
Erwerb nachzugehen. Vor den Griechen verschaffte ihnen das den großen
Vorzug, daß keine großen geschichtlichen Erinnerungen sie stolz und hoffnungs¬
voll machten. Darum waren sie dem türkischen Herrn als Diener angenehmer
als alle andern Christen. Sie schlössen sich ihm an, wurden in niedern Be¬
amtenstellungen, besonders in Schreibstuben und Zollstätten zugelassen und er¬
warben als Geldleute noch mehr Einfluß. Besonders in Kleinasien zwang sie
ihre Stellung zwischen Türken und Griechen, deren Sprachen zu lernen, und
sie wurden unentbehrliche Vermittler. Zwischen Russen, Grusinern und Persern
war ihre Stellung im Kaukasuslande und Hochmedien ähnlich. Immer häu¬
figer sind die Fälle geworden, wo sich Armenier selbst bei der Pforte unent¬
behrlich machten. Nubar Pascha ist ja auch ein in Smyrna geborner Armenier.

In Nußland sind es mehr ihre wirtschaftlichen Eigenschaften, denen sie
Erfolge verdanken, wiewohl in hohen militärischen und Beamtenstellungen auch
hier Armenier oft genug hervortreten. Sie wohnen in Rußland mit Völkern
zusammen, zu deren nationalen Eigentümlichkeiten vor allem die Trägheit und
Genußsucht gehört. Dem ritterlichen Nichtsthuer in Georgien gegenüber spielen
sie die Rolle, die der Jude in Polen oder Rumänien übernommen hat. Selbst
vom Russen heißt es, er habe weniger Menschenkenntnis als ein armenischer
Knabe. Rußland brachte die Armenier den abendländischen Bildungsquellen
näher. Die Armenier haben sich der Presse, der Litteratur, sogar des Theaters
mit einer überraschenden Schnelligkeit bemächtigt, und Rußland hat dem National¬
gefühl, das sich darin äußert, schon manchen Dämpfer aufsetzen müssen. Tiflis
wird mit etwa 100000 Armeniern immer mehr die weltliche Hauptstadt der
Armenier, wie Etschmiadsin die geistliche ist. Die alten Hauptstädte Erzerum,
Eriwcm, Trapezunt, Wan treten dahinter zurück. Rußland ist immer empfind¬
lich gewesen gegenüber der leidenschaftlichen nationalen Bewegung unter den
türkischen Armeniern, die ein Großarmenien zwischen dem Schwarzen Meere
und dem Kaspisee, und vom Kaukasus bis zum Zagrosgebirge träumen. Als
ich jüngst einem sehr intelligenten Armenier bemerkte, die Verteilung der
Armenier zwischen Russen, Türken, Persern, Grusinern und Kurden werde
ihnen immer den Zusammenschluß als Völkerfamilie erschweren, ja er müsse
vielleicht für unmöglich gelten, war die rasche Antwort: das sehen unsre
Führer alle ein, darum eben geht unser Streben dahin, als das gebildetste
und mächtigste Volk in den alten Grenzen Armeniens anerkannt zu sein und


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[0517] Dardanellen und Nil der Türkei. Die Armenier sind eine der geschlossensten, einheitlichsten Nassen und eines der selbstbewußtesten, aufstrebendsten Völker Asiens. In der Türkei wie in Rußland haben sie sich unter ganz verschiednen, hier wie dort ungünstigen Verhältnissen zur Geltung zu bringen gewußt. Sie tragen ihren Teil an der Last der Türkenherrschaft, sie ziehen aber auch ihren Gewinnanteil davon. Sie sind bis in die neueste Zeit das jüdisch schmiegsamste Volk des türkischen Reichs gewesen, das gar nichts für sich zu fordern schien als das Recht, geduckt seinem Erwerb nachzugehen. Vor den Griechen verschaffte ihnen das den großen Vorzug, daß keine großen geschichtlichen Erinnerungen sie stolz und hoffnungs¬ voll machten. Darum waren sie dem türkischen Herrn als Diener angenehmer als alle andern Christen. Sie schlössen sich ihm an, wurden in niedern Be¬ amtenstellungen, besonders in Schreibstuben und Zollstätten zugelassen und er¬ warben als Geldleute noch mehr Einfluß. Besonders in Kleinasien zwang sie ihre Stellung zwischen Türken und Griechen, deren Sprachen zu lernen, und sie wurden unentbehrliche Vermittler. Zwischen Russen, Grusinern und Persern war ihre Stellung im Kaukasuslande und Hochmedien ähnlich. Immer häu¬ figer sind die Fälle geworden, wo sich Armenier selbst bei der Pforte unent¬ behrlich machten. Nubar Pascha ist ja auch ein in Smyrna geborner Armenier. In Nußland sind es mehr ihre wirtschaftlichen Eigenschaften, denen sie Erfolge verdanken, wiewohl in hohen militärischen und Beamtenstellungen auch hier Armenier oft genug hervortreten. Sie wohnen in Rußland mit Völkern zusammen, zu deren nationalen Eigentümlichkeiten vor allem die Trägheit und Genußsucht gehört. Dem ritterlichen Nichtsthuer in Georgien gegenüber spielen sie die Rolle, die der Jude in Polen oder Rumänien übernommen hat. Selbst vom Russen heißt es, er habe weniger Menschenkenntnis als ein armenischer Knabe. Rußland brachte die Armenier den abendländischen Bildungsquellen näher. Die Armenier haben sich der Presse, der Litteratur, sogar des Theaters mit einer überraschenden Schnelligkeit bemächtigt, und Rußland hat dem National¬ gefühl, das sich darin äußert, schon manchen Dämpfer aufsetzen müssen. Tiflis wird mit etwa 100000 Armeniern immer mehr die weltliche Hauptstadt der Armenier, wie Etschmiadsin die geistliche ist. Die alten Hauptstädte Erzerum, Eriwcm, Trapezunt, Wan treten dahinter zurück. Rußland ist immer empfind¬ lich gewesen gegenüber der leidenschaftlichen nationalen Bewegung unter den türkischen Armeniern, die ein Großarmenien zwischen dem Schwarzen Meere und dem Kaspisee, und vom Kaukasus bis zum Zagrosgebirge träumen. Als ich jüngst einem sehr intelligenten Armenier bemerkte, die Verteilung der Armenier zwischen Russen, Türken, Persern, Grusinern und Kurden werde ihnen immer den Zusammenschluß als Völkerfamilie erschweren, ja er müsse vielleicht für unmöglich gelten, war die rasche Antwort: das sehen unsre Führer alle ein, darum eben geht unser Streben dahin, als das gebildetste und mächtigste Volk in den alten Grenzen Armeniens anerkannt zu sein und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/517>, abgerufen am 22.07.2024.