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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Was immer für Lebenszwecke auch die Theologen, Moralisten und Staats¬
männer dem Menschen aufdrängen mögen, dieser hat keinen andern Daseins¬
zweck als sein eignes Glück. Einen höhern und höchsten Lebenszweck mag
der Mensch immerhin als Christ und Patriot im Auge behalten, aber fürs
Handeln giebt der nicht den Ausschlag. Wäre es anders, so würden sich die
Geistlichen nicht um die besten, sondern um die schlechtesten Stellen reißen
und niemals eine Gehaltsaufbesserung verlangen. Die Bestandteile des Glücks
sind bei den verschiednen Menschen sehr verschieden, und der Gebildete und
Wohlhabende erfreut sich einer reichen Fülle solcher Bestandteile, während dem
gemeinen Manne nur wenige zur Verfügung stehen. Wenn nun schon der
vornehme Mann auf die Verbesserung und Hebung seiner Stimmung durch
einen guten Trunk nicht ganz verzichten mag, welche Grausamkeit würde es
da sein, diesen Glücksbestandteil dem gemeinen Manne zu entziehen! Will man
ihm etwas gutes erweisen, so sorge man nur für einen bessern Stoff und
liefere ihm Wein statt Schnaps! In der Stadt und in den Industriebezirken
Hütte ja noch sehr viel andres für das Glück der Bevölkerung zu geschehen,
die Häuslichkeit und die Räume für Geselligkeit und Erholung wären so zu
gestalten, daß der Alkohol keine wesentliche Bedingung mehr für die Gemüt¬
lichkeit wäre, auf dem Laude aber ist weiter nichts nötig, als daß man die
Leute ungeschoren läßt. Es läßt sich nichts widerlicheres denken als die Zu¬
stände in den nordamerikanischen Temperenzstaaten: diese Herrschaft dummer
Fanatiker und Fanatikerinnen, diese Heuchelei, mit der der heimliche süss ver¬
borge" wird, diese groben Betrügereien, mit denen die unvernünftigen Verbote
unter Beihilfe der Behörden umgangen werden, und schließlich die entsetzliche
Öde eines wirklich nüchternen Volkes, das weder durch Kunst, uoch durch
Wissenschaft, noch durch edlere Leidenschaften, noch vom Weine, sondern nur
noch durch den Kurs der Aktien aufgeregt wird! Alle großen Entschließungen
werden im Rausche der Begeisterung gefaßt, der freilich kein Weinrausch zu
sein braucht, den aber ein Glas Wein auch nicht beeinträchtigt. Die Aus¬
führung dann freilich erfordert einen klaren Kopf, aber die Köpfe sind ver¬
schieden; der des Sokrates war noch klar, wenn schon alle seine Schüler unter
dem Tische -- oder vielmehr bewußtlos auf ihrem Triuksofa lagen. Und
haben sich Luther, Goethe, Bismarck mit Wasser begnügt? Man denke sich
bei allen patriotischen Festen und Kommersen, bei allen Parteiversammlungcn,
bei allen Hochzeiten und Bällen der vornehmen Welt, bei allen Hofgesell¬
schaften die Tische mit nichts als Wasser und Buttermilch versehen -- ein
wie andres Gesicht würde die ganze Gesellschaft und auch die Politik an¬
nehmen! Weit stiller würde es zugehen im alten Europa, aber würde viel
klügeres und besseres dabei herauskommen?

In geschlechtlicher Beziehung herrschte nicht jene Zügellosigkeit, die beim
Pommersche" Hofgäugerwesen, in den er^sentis mancher Großgrundbesitzer und


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Was immer für Lebenszwecke auch die Theologen, Moralisten und Staats¬
männer dem Menschen aufdrängen mögen, dieser hat keinen andern Daseins¬
zweck als sein eignes Glück. Einen höhern und höchsten Lebenszweck mag
der Mensch immerhin als Christ und Patriot im Auge behalten, aber fürs
Handeln giebt der nicht den Ausschlag. Wäre es anders, so würden sich die
Geistlichen nicht um die besten, sondern um die schlechtesten Stellen reißen
und niemals eine Gehaltsaufbesserung verlangen. Die Bestandteile des Glücks
sind bei den verschiednen Menschen sehr verschieden, und der Gebildete und
Wohlhabende erfreut sich einer reichen Fülle solcher Bestandteile, während dem
gemeinen Manne nur wenige zur Verfügung stehen. Wenn nun schon der
vornehme Mann auf die Verbesserung und Hebung seiner Stimmung durch
einen guten Trunk nicht ganz verzichten mag, welche Grausamkeit würde es
da sein, diesen Glücksbestandteil dem gemeinen Manne zu entziehen! Will man
ihm etwas gutes erweisen, so sorge man nur für einen bessern Stoff und
liefere ihm Wein statt Schnaps! In der Stadt und in den Industriebezirken
Hütte ja noch sehr viel andres für das Glück der Bevölkerung zu geschehen,
die Häuslichkeit und die Räume für Geselligkeit und Erholung wären so zu
gestalten, daß der Alkohol keine wesentliche Bedingung mehr für die Gemüt¬
lichkeit wäre, auf dem Laude aber ist weiter nichts nötig, als daß man die
Leute ungeschoren läßt. Es läßt sich nichts widerlicheres denken als die Zu¬
stände in den nordamerikanischen Temperenzstaaten: diese Herrschaft dummer
Fanatiker und Fanatikerinnen, diese Heuchelei, mit der der heimliche süss ver¬
borge» wird, diese groben Betrügereien, mit denen die unvernünftigen Verbote
unter Beihilfe der Behörden umgangen werden, und schließlich die entsetzliche
Öde eines wirklich nüchternen Volkes, das weder durch Kunst, uoch durch
Wissenschaft, noch durch edlere Leidenschaften, noch vom Weine, sondern nur
noch durch den Kurs der Aktien aufgeregt wird! Alle großen Entschließungen
werden im Rausche der Begeisterung gefaßt, der freilich kein Weinrausch zu
sein braucht, den aber ein Glas Wein auch nicht beeinträchtigt. Die Aus¬
führung dann freilich erfordert einen klaren Kopf, aber die Köpfe sind ver¬
schieden; der des Sokrates war noch klar, wenn schon alle seine Schüler unter
dem Tische — oder vielmehr bewußtlos auf ihrem Triuksofa lagen. Und
haben sich Luther, Goethe, Bismarck mit Wasser begnügt? Man denke sich
bei allen patriotischen Festen und Kommersen, bei allen Parteiversammlungcn,
bei allen Hochzeiten und Bällen der vornehmen Welt, bei allen Hofgesell¬
schaften die Tische mit nichts als Wasser und Buttermilch versehen — ein
wie andres Gesicht würde die ganze Gesellschaft und auch die Politik an¬
nehmen! Weit stiller würde es zugehen im alten Europa, aber würde viel
klügeres und besseres dabei herauskommen?

In geschlechtlicher Beziehung herrschte nicht jene Zügellosigkeit, die beim
Pommersche» Hofgäugerwesen, in den er^sentis mancher Großgrundbesitzer und


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[0498] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Was immer für Lebenszwecke auch die Theologen, Moralisten und Staats¬ männer dem Menschen aufdrängen mögen, dieser hat keinen andern Daseins¬ zweck als sein eignes Glück. Einen höhern und höchsten Lebenszweck mag der Mensch immerhin als Christ und Patriot im Auge behalten, aber fürs Handeln giebt der nicht den Ausschlag. Wäre es anders, so würden sich die Geistlichen nicht um die besten, sondern um die schlechtesten Stellen reißen und niemals eine Gehaltsaufbesserung verlangen. Die Bestandteile des Glücks sind bei den verschiednen Menschen sehr verschieden, und der Gebildete und Wohlhabende erfreut sich einer reichen Fülle solcher Bestandteile, während dem gemeinen Manne nur wenige zur Verfügung stehen. Wenn nun schon der vornehme Mann auf die Verbesserung und Hebung seiner Stimmung durch einen guten Trunk nicht ganz verzichten mag, welche Grausamkeit würde es da sein, diesen Glücksbestandteil dem gemeinen Manne zu entziehen! Will man ihm etwas gutes erweisen, so sorge man nur für einen bessern Stoff und liefere ihm Wein statt Schnaps! In der Stadt und in den Industriebezirken Hütte ja noch sehr viel andres für das Glück der Bevölkerung zu geschehen, die Häuslichkeit und die Räume für Geselligkeit und Erholung wären so zu gestalten, daß der Alkohol keine wesentliche Bedingung mehr für die Gemüt¬ lichkeit wäre, auf dem Laude aber ist weiter nichts nötig, als daß man die Leute ungeschoren läßt. Es läßt sich nichts widerlicheres denken als die Zu¬ stände in den nordamerikanischen Temperenzstaaten: diese Herrschaft dummer Fanatiker und Fanatikerinnen, diese Heuchelei, mit der der heimliche süss ver¬ borge» wird, diese groben Betrügereien, mit denen die unvernünftigen Verbote unter Beihilfe der Behörden umgangen werden, und schließlich die entsetzliche Öde eines wirklich nüchternen Volkes, das weder durch Kunst, uoch durch Wissenschaft, noch durch edlere Leidenschaften, noch vom Weine, sondern nur noch durch den Kurs der Aktien aufgeregt wird! Alle großen Entschließungen werden im Rausche der Begeisterung gefaßt, der freilich kein Weinrausch zu sein braucht, den aber ein Glas Wein auch nicht beeinträchtigt. Die Aus¬ führung dann freilich erfordert einen klaren Kopf, aber die Köpfe sind ver¬ schieden; der des Sokrates war noch klar, wenn schon alle seine Schüler unter dem Tische — oder vielmehr bewußtlos auf ihrem Triuksofa lagen. Und haben sich Luther, Goethe, Bismarck mit Wasser begnügt? Man denke sich bei allen patriotischen Festen und Kommersen, bei allen Parteiversammlungcn, bei allen Hochzeiten und Bällen der vornehmen Welt, bei allen Hofgesell¬ schaften die Tische mit nichts als Wasser und Buttermilch versehen — ein wie andres Gesicht würde die ganze Gesellschaft und auch die Politik an¬ nehmen! Weit stiller würde es zugehen im alten Europa, aber würde viel klügeres und besseres dabei herauskommen? In geschlechtlicher Beziehung herrschte nicht jene Zügellosigkeit, die beim Pommersche» Hofgäugerwesen, in den er^sentis mancher Großgrundbesitzer und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/498>, abgerufen am 26.07.2024.