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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

klugen, aber man muß ihm sagen, daß, nachdem er sein Maß gefunden hat,
fernere Überschreitungen grobe Pflichtverletzung sind, und daß ihm täglicher
reichlicher Biergenuß auch dann schadet, wenn die Berauschung vermieden wird.
Ich lasse daher die Trunkenheit auch nicht als mildernden Umstand bei Ver¬
brechen gelten: wer sich mit Bewußtsein seines Bewußtseins beraubt, der ist
für alle Folgen verantwortlich, und ich billige es, daß man Trunkenbolde unter
Vormundschaft stellt; sobald ein Familienvater durch Trunk seine Familie zu
ruiniren anfängt, sollte bei Wohlhabenheit die Vermögensverwaltung der Frau
übergeben, bei Armut der Mann zwangsweise zur Arbeit angehalten und der
Möglichkeit, Geld auf Branntwein zu vergeuden, beraubt werden. Dagegen
halte ich die auf gänzliche Ausrottung des Alkoholgenusses gerichtete Bewegung
für unsinnig und schädlich. Für unsinnig deswegen, weil ihre Übertreibungen
mit der ganzen Weltgeschichte und mit der täglichen Erfahrung im Widerspruch
stehen. Auf Noahs Rausch sind Milliarden Räusche gefolgt; trotzdem ist das
Menschengeschlecht nicht ausgestorben, hat in den 5000 Jahren, die seitdem
allermindestens verflossen sind, gar manchen Puff ausgehalten und vermehrt
sich jetzt in so bedenklicher Weise, daß der Malthusianismus täglich neue An¬
hänger gewinnt. Und daß mäßiger Alkoholgenuß ein Volk nicht degenerirt,
beweist das Aussehen der Männer der höchsten Stände, die fast ausnahmslos
täglich Wein trinken. An der proletarischen Entartung sind die bekannten Ur¬
sachen schuld, zu denen allerdings gewöhnlich der Alkoholismus, das Verderben
beschleunigend, hinzutritt. In den Zeiten unvernünftigster und unanständigster
Unmäßigkeit, so von 1500 bis 1700, wäre eine großartige Mäßigkeits¬
bewegung angezeigt gewesen, heutzutage aber ist eigentlich nur noch der über¬
mäßige Biergenuß mancher Studentenverbindungen bedenklich. Wo in Prole¬
tarierkreisen der Schnapsteufel Unheil anrichtet, da können nicht Mäßigkeits¬
vereine helfen (sie haben, trotz der aufopfernden und wahrhaft heldenmütigen
Thätigkeit ihrer Begründer, auch in Oberschlesien auf die Dauer nicht geholfen),
sondern nur jene durchgreifende Änderung der wirtschaftlichen Lage des Prole¬
tariats, die schon zu oft beschrieben worden ist, als daß es nötig wäre, sie
noch einmal zu beschreiben. Von bäuerlichen Kreisen sind mir nur einige
Weingegenden bekannt, wo am Sonntagabend die ganze Gemeinde berauscht
ist, aber da betrinken sie sich eben nicht ein Schnaps, sondern an Wein. Daß
von Bauern dem Schnaps im Übermaß gehuldigt würde, kommt wohl nur in
verarmten Gegenden vor, wo also wiederum nur eine durchgreifende Umgestal¬
tung der wirtschaftlichen Lage helfen kann. Daß von den sogenannten ge-
bornen Verbrechern sehr viele Alkoholiker zu Vüteru haben, glaube ich gern,
denn verkommne Proletarier sind fast immer auch Alkoholiker. Aber nicht so¬
wohl deswegen sind die Kinder verdorben, weil ihre Väter Schnaps getrunken
haben, als weil sie einem ungesunden Stamm entsprossen und in einer ver¬
pesteten Umgebung aufgewachsen sind. Das durch Alkoholgenuß zerrüttete


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

klugen, aber man muß ihm sagen, daß, nachdem er sein Maß gefunden hat,
fernere Überschreitungen grobe Pflichtverletzung sind, und daß ihm täglicher
reichlicher Biergenuß auch dann schadet, wenn die Berauschung vermieden wird.
Ich lasse daher die Trunkenheit auch nicht als mildernden Umstand bei Ver¬
brechen gelten: wer sich mit Bewußtsein seines Bewußtseins beraubt, der ist
für alle Folgen verantwortlich, und ich billige es, daß man Trunkenbolde unter
Vormundschaft stellt; sobald ein Familienvater durch Trunk seine Familie zu
ruiniren anfängt, sollte bei Wohlhabenheit die Vermögensverwaltung der Frau
übergeben, bei Armut der Mann zwangsweise zur Arbeit angehalten und der
Möglichkeit, Geld auf Branntwein zu vergeuden, beraubt werden. Dagegen
halte ich die auf gänzliche Ausrottung des Alkoholgenusses gerichtete Bewegung
für unsinnig und schädlich. Für unsinnig deswegen, weil ihre Übertreibungen
mit der ganzen Weltgeschichte und mit der täglichen Erfahrung im Widerspruch
stehen. Auf Noahs Rausch sind Milliarden Räusche gefolgt; trotzdem ist das
Menschengeschlecht nicht ausgestorben, hat in den 5000 Jahren, die seitdem
allermindestens verflossen sind, gar manchen Puff ausgehalten und vermehrt
sich jetzt in so bedenklicher Weise, daß der Malthusianismus täglich neue An¬
hänger gewinnt. Und daß mäßiger Alkoholgenuß ein Volk nicht degenerirt,
beweist das Aussehen der Männer der höchsten Stände, die fast ausnahmslos
täglich Wein trinken. An der proletarischen Entartung sind die bekannten Ur¬
sachen schuld, zu denen allerdings gewöhnlich der Alkoholismus, das Verderben
beschleunigend, hinzutritt. In den Zeiten unvernünftigster und unanständigster
Unmäßigkeit, so von 1500 bis 1700, wäre eine großartige Mäßigkeits¬
bewegung angezeigt gewesen, heutzutage aber ist eigentlich nur noch der über¬
mäßige Biergenuß mancher Studentenverbindungen bedenklich. Wo in Prole¬
tarierkreisen der Schnapsteufel Unheil anrichtet, da können nicht Mäßigkeits¬
vereine helfen (sie haben, trotz der aufopfernden und wahrhaft heldenmütigen
Thätigkeit ihrer Begründer, auch in Oberschlesien auf die Dauer nicht geholfen),
sondern nur jene durchgreifende Änderung der wirtschaftlichen Lage des Prole¬
tariats, die schon zu oft beschrieben worden ist, als daß es nötig wäre, sie
noch einmal zu beschreiben. Von bäuerlichen Kreisen sind mir nur einige
Weingegenden bekannt, wo am Sonntagabend die ganze Gemeinde berauscht
ist, aber da betrinken sie sich eben nicht ein Schnaps, sondern an Wein. Daß
von Bauern dem Schnaps im Übermaß gehuldigt würde, kommt wohl nur in
verarmten Gegenden vor, wo also wiederum nur eine durchgreifende Umgestal¬
tung der wirtschaftlichen Lage helfen kann. Daß von den sogenannten ge-
bornen Verbrechern sehr viele Alkoholiker zu Vüteru haben, glaube ich gern,
denn verkommne Proletarier sind fast immer auch Alkoholiker. Aber nicht so¬
wohl deswegen sind die Kinder verdorben, weil ihre Väter Schnaps getrunken
haben, als weil sie einem ungesunden Stamm entsprossen und in einer ver¬
pesteten Umgebung aufgewachsen sind. Das durch Alkoholgenuß zerrüttete


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[0496] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome klugen, aber man muß ihm sagen, daß, nachdem er sein Maß gefunden hat, fernere Überschreitungen grobe Pflichtverletzung sind, und daß ihm täglicher reichlicher Biergenuß auch dann schadet, wenn die Berauschung vermieden wird. Ich lasse daher die Trunkenheit auch nicht als mildernden Umstand bei Ver¬ brechen gelten: wer sich mit Bewußtsein seines Bewußtseins beraubt, der ist für alle Folgen verantwortlich, und ich billige es, daß man Trunkenbolde unter Vormundschaft stellt; sobald ein Familienvater durch Trunk seine Familie zu ruiniren anfängt, sollte bei Wohlhabenheit die Vermögensverwaltung der Frau übergeben, bei Armut der Mann zwangsweise zur Arbeit angehalten und der Möglichkeit, Geld auf Branntwein zu vergeuden, beraubt werden. Dagegen halte ich die auf gänzliche Ausrottung des Alkoholgenusses gerichtete Bewegung für unsinnig und schädlich. Für unsinnig deswegen, weil ihre Übertreibungen mit der ganzen Weltgeschichte und mit der täglichen Erfahrung im Widerspruch stehen. Auf Noahs Rausch sind Milliarden Räusche gefolgt; trotzdem ist das Menschengeschlecht nicht ausgestorben, hat in den 5000 Jahren, die seitdem allermindestens verflossen sind, gar manchen Puff ausgehalten und vermehrt sich jetzt in so bedenklicher Weise, daß der Malthusianismus täglich neue An¬ hänger gewinnt. Und daß mäßiger Alkoholgenuß ein Volk nicht degenerirt, beweist das Aussehen der Männer der höchsten Stände, die fast ausnahmslos täglich Wein trinken. An der proletarischen Entartung sind die bekannten Ur¬ sachen schuld, zu denen allerdings gewöhnlich der Alkoholismus, das Verderben beschleunigend, hinzutritt. In den Zeiten unvernünftigster und unanständigster Unmäßigkeit, so von 1500 bis 1700, wäre eine großartige Mäßigkeits¬ bewegung angezeigt gewesen, heutzutage aber ist eigentlich nur noch der über¬ mäßige Biergenuß mancher Studentenverbindungen bedenklich. Wo in Prole¬ tarierkreisen der Schnapsteufel Unheil anrichtet, da können nicht Mäßigkeits¬ vereine helfen (sie haben, trotz der aufopfernden und wahrhaft heldenmütigen Thätigkeit ihrer Begründer, auch in Oberschlesien auf die Dauer nicht geholfen), sondern nur jene durchgreifende Änderung der wirtschaftlichen Lage des Prole¬ tariats, die schon zu oft beschrieben worden ist, als daß es nötig wäre, sie noch einmal zu beschreiben. Von bäuerlichen Kreisen sind mir nur einige Weingegenden bekannt, wo am Sonntagabend die ganze Gemeinde berauscht ist, aber da betrinken sie sich eben nicht ein Schnaps, sondern an Wein. Daß von Bauern dem Schnaps im Übermaß gehuldigt würde, kommt wohl nur in verarmten Gegenden vor, wo also wiederum nur eine durchgreifende Umgestal¬ tung der wirtschaftlichen Lage helfen kann. Daß von den sogenannten ge- bornen Verbrechern sehr viele Alkoholiker zu Vüteru haben, glaube ich gern, denn verkommne Proletarier sind fast immer auch Alkoholiker. Aber nicht so¬ wohl deswegen sind die Kinder verdorben, weil ihre Väter Schnaps getrunken haben, als weil sie einem ungesunden Stamm entsprossen und in einer ver¬ pesteten Umgebung aufgewachsen sind. Das durch Alkoholgenuß zerrüttete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/496>, abgerufen am 26.07.2024.