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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

mit Eiswasser und Fruchtsäften. In den nördlichen Ländern, wo das Ein¬
heizen nötig ist, sind es außer dem Proletarierelend besonders zwei Ursachen,
die immer wieder zeit- und stellenweise zur Überschreitung des Maßes im
Alkoholgenuß drängen. Die eine ist das Wetter, das an 200 von 365 Tagen
die Erholung im Freien entweder unmöglich oder unangenehm macht und dazu
zwingt, sie in geschlossenen Räumen zu suchen. Da nun zur Erholung auch
die Geselligkeit gehört, die Wohnungsverhältnisse bis hoch in den Mittelstand
hinein nicht darauf eingerichtet sind und die Stätten genieinsamer kostenloser
Erholung, für die bei den Griechen und Römern trotz des mildern Klimas so
reichlich gesorgt war. bei uns gänzlich fehlen (von allen deutschen Städten hat
das einzige München in seinen Arkaden eine freilich viel zu kleine Wandelbahn
für Regenwetter, und die Berliner Passage ist doch nur eine armselige Nach¬
ahmung der Galeria Vittorio Emannele in Mailand), so bleibt dem Deutschen
nichts übrig, als bei schlechtem Wetter in die Kneipe zu flüchten, und die Ge¬
wohnheit bewirkt dann, daß er es schließlich auch bei gutem thut. Ich pflege
bei schlechtem Wetter ein halbes Stündchen in einer Bahnhofshalle zu wandeln,
das wird wohl aber nicht mehr lange geduldet werden, wenn die Humanität
der Bahnverwaltungen in der angenommnen Richtung fortschreitet. Als Vor¬
zeichen sehe ich es an, daß seit einem Jahre die Bänke aus der Halle ver-
schwunden sind, auf denen es sich früher die Reisenden vierter Klasse bequem
machen konnten. Die englischen Volkspaläste, die deutschen Vereinshäuser sind
Anfänge, aber eben nur schwache Anfänge einer Fürsorge für das Volk in
dieser Beziehung. Daß nun in unserm Klima die Gastwirte mit alkoholischen
Getränken bessere Geschäfte machen als mit Limonade und Eis, versteht sich
von selbst, und so verstärkt ein Grund den andern. Das andre ist die Ehr¬
furcht vor den Leistungen des starken Trinkers, die der gebildeten Jugend durch
weihevolle Trinkgebräuche und unzählige Dichtersprüche anerzogen wird. Von
der Berechtigung der poetischen Verklärung des Trinkens als einer Quelle
geistiger Altregung habe ich früher schon gesprochen; was aber die Ehrfurcht
vor dem starken Trinker betrifft, so leidet die meistens an einer bedauerlichen
Unklarheit; sie gilt nämlich gewöhnlich der starken Leistung, während nur die
starke Konstitution darauf Anspruch hat. So lauge selbst bei den zivilisirtesten
Völkern die Hochachtung nicht auf das Verdienst beschränkt, sondern auch un¬
verdienten Vorzügen: der hohen Geburt, dem ererbten Reichtum, der Schön¬
heit und Körperkraft gezollt werden wird, so lange wird man auch den Mann
ehrfurchtsvoll bewundern, dem der Genuß von drei Lidern starken Weines weder
die Klarheit der Gedanken trübt noch die Füße zum Wanken bringt. Dagegen
verdient ein Mensch, der gewohnheitsmäßig oder auch nur öfter mehr trinkt,
als er verträgt, nicht Achtung, sondern Verachtung. Man wird es daher zwar
dem deutscheu Jüngling nicht verargen dürsen, wenn er seinen Leib auch in
dieser Beziehung auf seine Tragkraft prüft und wenn dabei einige Proben alß-


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

mit Eiswasser und Fruchtsäften. In den nördlichen Ländern, wo das Ein¬
heizen nötig ist, sind es außer dem Proletarierelend besonders zwei Ursachen,
die immer wieder zeit- und stellenweise zur Überschreitung des Maßes im
Alkoholgenuß drängen. Die eine ist das Wetter, das an 200 von 365 Tagen
die Erholung im Freien entweder unmöglich oder unangenehm macht und dazu
zwingt, sie in geschlossenen Räumen zu suchen. Da nun zur Erholung auch
die Geselligkeit gehört, die Wohnungsverhältnisse bis hoch in den Mittelstand
hinein nicht darauf eingerichtet sind und die Stätten genieinsamer kostenloser
Erholung, für die bei den Griechen und Römern trotz des mildern Klimas so
reichlich gesorgt war. bei uns gänzlich fehlen (von allen deutschen Städten hat
das einzige München in seinen Arkaden eine freilich viel zu kleine Wandelbahn
für Regenwetter, und die Berliner Passage ist doch nur eine armselige Nach¬
ahmung der Galeria Vittorio Emannele in Mailand), so bleibt dem Deutschen
nichts übrig, als bei schlechtem Wetter in die Kneipe zu flüchten, und die Ge¬
wohnheit bewirkt dann, daß er es schließlich auch bei gutem thut. Ich pflege
bei schlechtem Wetter ein halbes Stündchen in einer Bahnhofshalle zu wandeln,
das wird wohl aber nicht mehr lange geduldet werden, wenn die Humanität
der Bahnverwaltungen in der angenommnen Richtung fortschreitet. Als Vor¬
zeichen sehe ich es an, daß seit einem Jahre die Bänke aus der Halle ver-
schwunden sind, auf denen es sich früher die Reisenden vierter Klasse bequem
machen konnten. Die englischen Volkspaläste, die deutschen Vereinshäuser sind
Anfänge, aber eben nur schwache Anfänge einer Fürsorge für das Volk in
dieser Beziehung. Daß nun in unserm Klima die Gastwirte mit alkoholischen
Getränken bessere Geschäfte machen als mit Limonade und Eis, versteht sich
von selbst, und so verstärkt ein Grund den andern. Das andre ist die Ehr¬
furcht vor den Leistungen des starken Trinkers, die der gebildeten Jugend durch
weihevolle Trinkgebräuche und unzählige Dichtersprüche anerzogen wird. Von
der Berechtigung der poetischen Verklärung des Trinkens als einer Quelle
geistiger Altregung habe ich früher schon gesprochen; was aber die Ehrfurcht
vor dem starken Trinker betrifft, so leidet die meistens an einer bedauerlichen
Unklarheit; sie gilt nämlich gewöhnlich der starken Leistung, während nur die
starke Konstitution darauf Anspruch hat. So lauge selbst bei den zivilisirtesten
Völkern die Hochachtung nicht auf das Verdienst beschränkt, sondern auch un¬
verdienten Vorzügen: der hohen Geburt, dem ererbten Reichtum, der Schön¬
heit und Körperkraft gezollt werden wird, so lange wird man auch den Mann
ehrfurchtsvoll bewundern, dem der Genuß von drei Lidern starken Weines weder
die Klarheit der Gedanken trübt noch die Füße zum Wanken bringt. Dagegen
verdient ein Mensch, der gewohnheitsmäßig oder auch nur öfter mehr trinkt,
als er verträgt, nicht Achtung, sondern Verachtung. Man wird es daher zwar
dem deutscheu Jüngling nicht verargen dürsen, wenn er seinen Leib auch in
dieser Beziehung auf seine Tragkraft prüft und wenn dabei einige Proben alß-


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[0495] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome mit Eiswasser und Fruchtsäften. In den nördlichen Ländern, wo das Ein¬ heizen nötig ist, sind es außer dem Proletarierelend besonders zwei Ursachen, die immer wieder zeit- und stellenweise zur Überschreitung des Maßes im Alkoholgenuß drängen. Die eine ist das Wetter, das an 200 von 365 Tagen die Erholung im Freien entweder unmöglich oder unangenehm macht und dazu zwingt, sie in geschlossenen Räumen zu suchen. Da nun zur Erholung auch die Geselligkeit gehört, die Wohnungsverhältnisse bis hoch in den Mittelstand hinein nicht darauf eingerichtet sind und die Stätten genieinsamer kostenloser Erholung, für die bei den Griechen und Römern trotz des mildern Klimas so reichlich gesorgt war. bei uns gänzlich fehlen (von allen deutschen Städten hat das einzige München in seinen Arkaden eine freilich viel zu kleine Wandelbahn für Regenwetter, und die Berliner Passage ist doch nur eine armselige Nach¬ ahmung der Galeria Vittorio Emannele in Mailand), so bleibt dem Deutschen nichts übrig, als bei schlechtem Wetter in die Kneipe zu flüchten, und die Ge¬ wohnheit bewirkt dann, daß er es schließlich auch bei gutem thut. Ich pflege bei schlechtem Wetter ein halbes Stündchen in einer Bahnhofshalle zu wandeln, das wird wohl aber nicht mehr lange geduldet werden, wenn die Humanität der Bahnverwaltungen in der angenommnen Richtung fortschreitet. Als Vor¬ zeichen sehe ich es an, daß seit einem Jahre die Bänke aus der Halle ver- schwunden sind, auf denen es sich früher die Reisenden vierter Klasse bequem machen konnten. Die englischen Volkspaläste, die deutschen Vereinshäuser sind Anfänge, aber eben nur schwache Anfänge einer Fürsorge für das Volk in dieser Beziehung. Daß nun in unserm Klima die Gastwirte mit alkoholischen Getränken bessere Geschäfte machen als mit Limonade und Eis, versteht sich von selbst, und so verstärkt ein Grund den andern. Das andre ist die Ehr¬ furcht vor den Leistungen des starken Trinkers, die der gebildeten Jugend durch weihevolle Trinkgebräuche und unzählige Dichtersprüche anerzogen wird. Von der Berechtigung der poetischen Verklärung des Trinkens als einer Quelle geistiger Altregung habe ich früher schon gesprochen; was aber die Ehrfurcht vor dem starken Trinker betrifft, so leidet die meistens an einer bedauerlichen Unklarheit; sie gilt nämlich gewöhnlich der starken Leistung, während nur die starke Konstitution darauf Anspruch hat. So lauge selbst bei den zivilisirtesten Völkern die Hochachtung nicht auf das Verdienst beschränkt, sondern auch un¬ verdienten Vorzügen: der hohen Geburt, dem ererbten Reichtum, der Schön¬ heit und Körperkraft gezollt werden wird, so lange wird man auch den Mann ehrfurchtsvoll bewundern, dem der Genuß von drei Lidern starken Weines weder die Klarheit der Gedanken trübt noch die Füße zum Wanken bringt. Dagegen verdient ein Mensch, der gewohnheitsmäßig oder auch nur öfter mehr trinkt, als er verträgt, nicht Achtung, sondern Verachtung. Man wird es daher zwar dem deutscheu Jüngling nicht verargen dürsen, wenn er seinen Leib auch in dieser Beziehung auf seine Tragkraft prüft und wenn dabei einige Proben alß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/495>, abgerufen am 26.07.2024.