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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

leben. Demgemäß berichtigte ich auch den amtlich überkommueu Begriff der
Volkssittlichkeit, worin das Wort Volk die Kleinbürger, Bauern und Lohn¬
arbeiter bezeichnet. Man versteht darunter bekanntlich, daß die Leute fleißig,
ordentlich und sparsam sind, nicht spielen, nicht trinken, keine geschlechtlichen
Sünden begehen und nicht stehlen. Der Begriff ist ja nun im allgemeinen
richtig; irrig ist bloß die Auffassung, wonach sich diese Art Volks sittlich keit
mit der christlichen Moral decken soll (in Wirklichkeit ist diese bürgerliche Moral
immer und überall dieselbe gewesen, nicht bloß bei Christen, sondern auch bei
Juden, Griechen, Römern, Chinesen, Indern und Türken), und die Meinung,
es geschehe dem Volke ein Dienst damit, wenn man jene Moral möglichst
rigoros auffaßt und zugleich erzwingt. Dort, wo die wirtschaftlichen Be¬
dingungen dafür vorhanden sind, ergiebt sie sich ohne geistliche Beihilfe und
ohne obrigkeitlichen Zwang ganz von selbst, und will man sie dort, wo diese
Bedingungen fehlen, erzwingen, oder dort, wo sie vorhanden ist, einen über
das Maß der durchschnittlichen sittlichen Kraft hinausgehenden Grad erzwingen,
so richtet man nur Unheil an. In Beziehung auf Fleiß, wirtschaftliche Ord¬
nung und Sparsamkeit ließen die Harpersdorfer gar nichts zu wünschen übrig,
wie die Bewohner aller der wohlhabenden und glücklichen Dörfer ringsum;
sie waren in dieser Beziehung so, wie die Bauern aller Länder und Zeiten,
die Bauern des Homer und des Aristophanes, des Cato, Virgil und Juvenal,
die chinesischen, indischen und türkischen Bauern gewesen sind und noch sind,
so lange sie nicht durch Krieg oder verkehrte Regierungsmaßregeln oder Steuer-
und andern Druck in ihrem Wirtschaftsleben gestört oder gar zu Grunde ge¬
richtet werden. So unveränderlich wie die Natur der Biene und der Ameise
ist die des Bauern. Man sollte meinen, der Militär- und Schuldrill, das
Zeitungslesen. die zahlreichen städtischen Einflüsse, die den heutigen Bauern
bestürme", die müßten seine Natur schon längst von Grund ans verändert
haben; aber mit wunderbarer Zähigkeit hat er bis jetzt noch diesen zersetzenden
Einflüssen Stand gehalten. Zwar fand Riehl schon vor dreißig Jahren, daß
die badischen Bauern eigentlich keine Bauern mehr seien, und es ist wahr, sie
tragen Vatermörder, sie reden einander Herr Bürgermeister und Herr Ge¬
meinderat an, sie thun furchtbar gebildet und vor allem, sie sind "liberal"
und "aufgeklärt"; aber als Landwirte sind sie trotz alledem den uralten bäuer¬
lichen Grundsätzen und Gewohnheiten treu geblieben und zeigen den allbekannten
Bauerncharakter. Also fleißig, wirtschaftlich und sparsam bis zum Geiz'") waren
die Harpersdorfer wie alle Bauern der Welt. Ein liederlicher Wirt war eine
solche Seltenheit, daß man mit Fingern auf ihn zeigte, denn das ist auch ein



") Doch konnten sie unter Umständen auch freigebig sein: als der neue Pastor einzog,
fand er seine gute Stube sehr schön ausmöblirt. Die benachbarten Probsthainer beschlossen
eines Tages, ohne jede Anregung von oben, ein neues Schulhaus zu bauen, und zwar müsse
dieses das schönste Haus im Dorfe werden. Es siel auch sehr stattlich aus.
Wandlungen des Ich im Ieitenstrome

leben. Demgemäß berichtigte ich auch den amtlich überkommueu Begriff der
Volkssittlichkeit, worin das Wort Volk die Kleinbürger, Bauern und Lohn¬
arbeiter bezeichnet. Man versteht darunter bekanntlich, daß die Leute fleißig,
ordentlich und sparsam sind, nicht spielen, nicht trinken, keine geschlechtlichen
Sünden begehen und nicht stehlen. Der Begriff ist ja nun im allgemeinen
richtig; irrig ist bloß die Auffassung, wonach sich diese Art Volks sittlich keit
mit der christlichen Moral decken soll (in Wirklichkeit ist diese bürgerliche Moral
immer und überall dieselbe gewesen, nicht bloß bei Christen, sondern auch bei
Juden, Griechen, Römern, Chinesen, Indern und Türken), und die Meinung,
es geschehe dem Volke ein Dienst damit, wenn man jene Moral möglichst
rigoros auffaßt und zugleich erzwingt. Dort, wo die wirtschaftlichen Be¬
dingungen dafür vorhanden sind, ergiebt sie sich ohne geistliche Beihilfe und
ohne obrigkeitlichen Zwang ganz von selbst, und will man sie dort, wo diese
Bedingungen fehlen, erzwingen, oder dort, wo sie vorhanden ist, einen über
das Maß der durchschnittlichen sittlichen Kraft hinausgehenden Grad erzwingen,
so richtet man nur Unheil an. In Beziehung auf Fleiß, wirtschaftliche Ord¬
nung und Sparsamkeit ließen die Harpersdorfer gar nichts zu wünschen übrig,
wie die Bewohner aller der wohlhabenden und glücklichen Dörfer ringsum;
sie waren in dieser Beziehung so, wie die Bauern aller Länder und Zeiten,
die Bauern des Homer und des Aristophanes, des Cato, Virgil und Juvenal,
die chinesischen, indischen und türkischen Bauern gewesen sind und noch sind,
so lange sie nicht durch Krieg oder verkehrte Regierungsmaßregeln oder Steuer-
und andern Druck in ihrem Wirtschaftsleben gestört oder gar zu Grunde ge¬
richtet werden. So unveränderlich wie die Natur der Biene und der Ameise
ist die des Bauern. Man sollte meinen, der Militär- und Schuldrill, das
Zeitungslesen. die zahlreichen städtischen Einflüsse, die den heutigen Bauern
bestürme», die müßten seine Natur schon längst von Grund ans verändert
haben; aber mit wunderbarer Zähigkeit hat er bis jetzt noch diesen zersetzenden
Einflüssen Stand gehalten. Zwar fand Riehl schon vor dreißig Jahren, daß
die badischen Bauern eigentlich keine Bauern mehr seien, und es ist wahr, sie
tragen Vatermörder, sie reden einander Herr Bürgermeister und Herr Ge¬
meinderat an, sie thun furchtbar gebildet und vor allem, sie sind „liberal"
und „aufgeklärt"; aber als Landwirte sind sie trotz alledem den uralten bäuer¬
lichen Grundsätzen und Gewohnheiten treu geblieben und zeigen den allbekannten
Bauerncharakter. Also fleißig, wirtschaftlich und sparsam bis zum Geiz'") waren
die Harpersdorfer wie alle Bauern der Welt. Ein liederlicher Wirt war eine
solche Seltenheit, daß man mit Fingern auf ihn zeigte, denn das ist auch ein



") Doch konnten sie unter Umständen auch freigebig sein: als der neue Pastor einzog,
fand er seine gute Stube sehr schön ausmöblirt. Die benachbarten Probsthainer beschlossen
eines Tages, ohne jede Anregung von oben, ein neues Schulhaus zu bauen, und zwar müsse
dieses das schönste Haus im Dorfe werden. Es siel auch sehr stattlich aus.
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[0493] Wandlungen des Ich im Ieitenstrome leben. Demgemäß berichtigte ich auch den amtlich überkommueu Begriff der Volkssittlichkeit, worin das Wort Volk die Kleinbürger, Bauern und Lohn¬ arbeiter bezeichnet. Man versteht darunter bekanntlich, daß die Leute fleißig, ordentlich und sparsam sind, nicht spielen, nicht trinken, keine geschlechtlichen Sünden begehen und nicht stehlen. Der Begriff ist ja nun im allgemeinen richtig; irrig ist bloß die Auffassung, wonach sich diese Art Volks sittlich keit mit der christlichen Moral decken soll (in Wirklichkeit ist diese bürgerliche Moral immer und überall dieselbe gewesen, nicht bloß bei Christen, sondern auch bei Juden, Griechen, Römern, Chinesen, Indern und Türken), und die Meinung, es geschehe dem Volke ein Dienst damit, wenn man jene Moral möglichst rigoros auffaßt und zugleich erzwingt. Dort, wo die wirtschaftlichen Be¬ dingungen dafür vorhanden sind, ergiebt sie sich ohne geistliche Beihilfe und ohne obrigkeitlichen Zwang ganz von selbst, und will man sie dort, wo diese Bedingungen fehlen, erzwingen, oder dort, wo sie vorhanden ist, einen über das Maß der durchschnittlichen sittlichen Kraft hinausgehenden Grad erzwingen, so richtet man nur Unheil an. In Beziehung auf Fleiß, wirtschaftliche Ord¬ nung und Sparsamkeit ließen die Harpersdorfer gar nichts zu wünschen übrig, wie die Bewohner aller der wohlhabenden und glücklichen Dörfer ringsum; sie waren in dieser Beziehung so, wie die Bauern aller Länder und Zeiten, die Bauern des Homer und des Aristophanes, des Cato, Virgil und Juvenal, die chinesischen, indischen und türkischen Bauern gewesen sind und noch sind, so lange sie nicht durch Krieg oder verkehrte Regierungsmaßregeln oder Steuer- und andern Druck in ihrem Wirtschaftsleben gestört oder gar zu Grunde ge¬ richtet werden. So unveränderlich wie die Natur der Biene und der Ameise ist die des Bauern. Man sollte meinen, der Militär- und Schuldrill, das Zeitungslesen. die zahlreichen städtischen Einflüsse, die den heutigen Bauern bestürme», die müßten seine Natur schon längst von Grund ans verändert haben; aber mit wunderbarer Zähigkeit hat er bis jetzt noch diesen zersetzenden Einflüssen Stand gehalten. Zwar fand Riehl schon vor dreißig Jahren, daß die badischen Bauern eigentlich keine Bauern mehr seien, und es ist wahr, sie tragen Vatermörder, sie reden einander Herr Bürgermeister und Herr Ge¬ meinderat an, sie thun furchtbar gebildet und vor allem, sie sind „liberal" und „aufgeklärt"; aber als Landwirte sind sie trotz alledem den uralten bäuer¬ lichen Grundsätzen und Gewohnheiten treu geblieben und zeigen den allbekannten Bauerncharakter. Also fleißig, wirtschaftlich und sparsam bis zum Geiz'") waren die Harpersdorfer wie alle Bauern der Welt. Ein liederlicher Wirt war eine solche Seltenheit, daß man mit Fingern auf ihn zeigte, denn das ist auch ein ") Doch konnten sie unter Umständen auch freigebig sein: als der neue Pastor einzog, fand er seine gute Stube sehr schön ausmöblirt. Die benachbarten Probsthainer beschlossen eines Tages, ohne jede Anregung von oben, ein neues Schulhaus zu bauen, und zwar müsse dieses das schönste Haus im Dorfe werden. Es siel auch sehr stattlich aus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/493>, abgerufen am 26.07.2024.