Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Litterarische Industrie

des Publikums entgegenkommen," ist uicht ganz sicher. Schon viele Erzähler
sind eine Zeit lang in großer Gunst gewesen, ohne daß sich die Leser auf die
Entstehungsgeschichte ihrer Geschichten so begierig gezeigt hätten wie auf die
Lösung der Verwicklungen darin. Wir brauchen dabei nicht weit zurückzugreifen,
sondern nur an Namen wie van der Velde, Spindler, Henriette Hänke, Holtei,
Hackländer und auch größere zu erinnern; ebenso an einstige Beherrscher der
Bühnen. Dagegen wird das Unternehmen von Franzos künftige Literar¬
historiker, wenn sie von den hier versammelten Größen des Tages noch Notiz
nehmen wollen, der Mühe überheben, in Tagebüchern, Briefen, Schulheften,
Denkwürdigkeiten das Material für die Schilderung von Dichterlehrjahren zu
suchen. Und reine Freude bereitet es schon jetzt, wie sich in dem Buche zeigt,
mehreren von den Mitarbeitern; für den Herausgeber versteht sich das
von selbst.

Karl Emil Franzos ist ein Erfinder. Er rühmt sich, zuerst den tief¬
sinnigen Satz ausgesprochen zu haben, jedes Land habe die Juden, die es ver¬
diene. Was er damit eigentlich sagen wollte, ob die Juden zu den Lebens¬
bedürfnissen eines jeden Volkes gehören und von verschiednen Völkern je nach
der Geschmacksrichtung genossen werden, oder ob sie der sündigen Menschheit von
der Weltregierung auferlegt worden sind, wie den alten Ägyptern andre Dinge,
und ob ihre Qualität einen Schluß auf den Grad der Sündhaftigkeit eines
Volkes begründet, oder wie sonst der Ausspruch zu deuten ist, das hat er unsers
Wissens noch nicht enthüllt. Dennoch sollen sich andre Weise seine Unvor¬
sichtigkeit, kein Patent zu nehmen, zu nutze gemacht und die Erfindung sich
zugeschrieben haben. Auch die Erfindung, die Dichter eine Beichte über lit¬
terarische Jugendsünden ablegen zu lassen, ist, wie das Vorwort berichtet, sofort
von einem Unberechtigten nachgeahmt worden, und zwar, wie das in der In¬
dustrie öfter geschieht, mit solcher Geschwindigkeit, daß Franzos in Gefahr
geraten ist, für den Nachahmer gehalten zu werden. Vielleicht aber liegt auf
keiner Seite eine "illoyale Konkurrenz" vor. Zu gewissen Zeiten tauchen ja
Erfindungen oder Entdeckungen gleichzeitig an verschiednen Punkten auf, wie
z. V. die Schießbaumwolle, und nach unsrer Revolutionsperiode hatte ja die
deutsche Journalistik nichts wichtigeres zu thun, als hitzig darüber zu streiten,
ob zwei Menschen auf den Gedanken gekommen sein könnten, Thumelicus,
Thusneldas Sohn, zum Helden eines Dramas zu machen. Doch dem sei,
wie ihm wolle!

Wichtiger ist für uns, zu erfahren, wer jetzt zu den Zierden des deutschen
Parnaß gehört. Der Herausgeber spricht das große Wort gelassen aus: "So
bedeutend wie die kleinen Hainbundleute, über die heute dicke Bücher erscheinen,
sind alle, die hier zu den Lesern sprechen; und mich selbst bringe ich hiermit
gern zum Opfer." Über dieses Opfer mag jeder denken, wie er will, aber
davon abgesehen klingt das wohl nicht viel anders, als wenn ein Musketier


Litterarische Industrie

des Publikums entgegenkommen," ist uicht ganz sicher. Schon viele Erzähler
sind eine Zeit lang in großer Gunst gewesen, ohne daß sich die Leser auf die
Entstehungsgeschichte ihrer Geschichten so begierig gezeigt hätten wie auf die
Lösung der Verwicklungen darin. Wir brauchen dabei nicht weit zurückzugreifen,
sondern nur an Namen wie van der Velde, Spindler, Henriette Hänke, Holtei,
Hackländer und auch größere zu erinnern; ebenso an einstige Beherrscher der
Bühnen. Dagegen wird das Unternehmen von Franzos künftige Literar¬
historiker, wenn sie von den hier versammelten Größen des Tages noch Notiz
nehmen wollen, der Mühe überheben, in Tagebüchern, Briefen, Schulheften,
Denkwürdigkeiten das Material für die Schilderung von Dichterlehrjahren zu
suchen. Und reine Freude bereitet es schon jetzt, wie sich in dem Buche zeigt,
mehreren von den Mitarbeitern; für den Herausgeber versteht sich das
von selbst.

Karl Emil Franzos ist ein Erfinder. Er rühmt sich, zuerst den tief¬
sinnigen Satz ausgesprochen zu haben, jedes Land habe die Juden, die es ver¬
diene. Was er damit eigentlich sagen wollte, ob die Juden zu den Lebens¬
bedürfnissen eines jeden Volkes gehören und von verschiednen Völkern je nach
der Geschmacksrichtung genossen werden, oder ob sie der sündigen Menschheit von
der Weltregierung auferlegt worden sind, wie den alten Ägyptern andre Dinge,
und ob ihre Qualität einen Schluß auf den Grad der Sündhaftigkeit eines
Volkes begründet, oder wie sonst der Ausspruch zu deuten ist, das hat er unsers
Wissens noch nicht enthüllt. Dennoch sollen sich andre Weise seine Unvor¬
sichtigkeit, kein Patent zu nehmen, zu nutze gemacht und die Erfindung sich
zugeschrieben haben. Auch die Erfindung, die Dichter eine Beichte über lit¬
terarische Jugendsünden ablegen zu lassen, ist, wie das Vorwort berichtet, sofort
von einem Unberechtigten nachgeahmt worden, und zwar, wie das in der In¬
dustrie öfter geschieht, mit solcher Geschwindigkeit, daß Franzos in Gefahr
geraten ist, für den Nachahmer gehalten zu werden. Vielleicht aber liegt auf
keiner Seite eine „illoyale Konkurrenz" vor. Zu gewissen Zeiten tauchen ja
Erfindungen oder Entdeckungen gleichzeitig an verschiednen Punkten auf, wie
z. V. die Schießbaumwolle, und nach unsrer Revolutionsperiode hatte ja die
deutsche Journalistik nichts wichtigeres zu thun, als hitzig darüber zu streiten,
ob zwei Menschen auf den Gedanken gekommen sein könnten, Thumelicus,
Thusneldas Sohn, zum Helden eines Dramas zu machen. Doch dem sei,
wie ihm wolle!

Wichtiger ist für uns, zu erfahren, wer jetzt zu den Zierden des deutschen
Parnaß gehört. Der Herausgeber spricht das große Wort gelassen aus: „So
bedeutend wie die kleinen Hainbundleute, über die heute dicke Bücher erscheinen,
sind alle, die hier zu den Lesern sprechen; und mich selbst bringe ich hiermit
gern zum Opfer." Über dieses Opfer mag jeder denken, wie er will, aber
davon abgesehen klingt das wohl nicht viel anders, als wenn ein Musketier


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0486" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221460"/>
          <fw type="header" place="top"> Litterarische Industrie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1617" prev="#ID_1616"> des Publikums entgegenkommen," ist uicht ganz sicher. Schon viele Erzähler<lb/>
sind eine Zeit lang in großer Gunst gewesen, ohne daß sich die Leser auf die<lb/>
Entstehungsgeschichte ihrer Geschichten so begierig gezeigt hätten wie auf die<lb/>
Lösung der Verwicklungen darin. Wir brauchen dabei nicht weit zurückzugreifen,<lb/>
sondern nur an Namen wie van der Velde, Spindler, Henriette Hänke, Holtei,<lb/>
Hackländer und auch größere zu erinnern; ebenso an einstige Beherrscher der<lb/>
Bühnen. Dagegen wird das Unternehmen von Franzos künftige Literar¬<lb/>
historiker, wenn sie von den hier versammelten Größen des Tages noch Notiz<lb/>
nehmen wollen, der Mühe überheben, in Tagebüchern, Briefen, Schulheften,<lb/>
Denkwürdigkeiten das Material für die Schilderung von Dichterlehrjahren zu<lb/>
suchen. Und reine Freude bereitet es schon jetzt, wie sich in dem Buche zeigt,<lb/>
mehreren von den Mitarbeitern; für den Herausgeber versteht sich das<lb/>
von selbst.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1618"> Karl Emil Franzos ist ein Erfinder. Er rühmt sich, zuerst den tief¬<lb/>
sinnigen Satz ausgesprochen zu haben, jedes Land habe die Juden, die es ver¬<lb/>
diene. Was er damit eigentlich sagen wollte, ob die Juden zu den Lebens¬<lb/>
bedürfnissen eines jeden Volkes gehören und von verschiednen Völkern je nach<lb/>
der Geschmacksrichtung genossen werden, oder ob sie der sündigen Menschheit von<lb/>
der Weltregierung auferlegt worden sind, wie den alten Ägyptern andre Dinge,<lb/>
und ob ihre Qualität einen Schluß auf den Grad der Sündhaftigkeit eines<lb/>
Volkes begründet, oder wie sonst der Ausspruch zu deuten ist, das hat er unsers<lb/>
Wissens noch nicht enthüllt. Dennoch sollen sich andre Weise seine Unvor¬<lb/>
sichtigkeit, kein Patent zu nehmen, zu nutze gemacht und die Erfindung sich<lb/>
zugeschrieben haben. Auch die Erfindung, die Dichter eine Beichte über lit¬<lb/>
terarische Jugendsünden ablegen zu lassen, ist, wie das Vorwort berichtet, sofort<lb/>
von einem Unberechtigten nachgeahmt worden, und zwar, wie das in der In¬<lb/>
dustrie öfter geschieht, mit solcher Geschwindigkeit, daß Franzos in Gefahr<lb/>
geraten ist, für den Nachahmer gehalten zu werden. Vielleicht aber liegt auf<lb/>
keiner Seite eine &#x201E;illoyale Konkurrenz" vor. Zu gewissen Zeiten tauchen ja<lb/>
Erfindungen oder Entdeckungen gleichzeitig an verschiednen Punkten auf, wie<lb/>
z. V. die Schießbaumwolle, und nach unsrer Revolutionsperiode hatte ja die<lb/>
deutsche Journalistik nichts wichtigeres zu thun, als hitzig darüber zu streiten,<lb/>
ob zwei Menschen auf den Gedanken gekommen sein könnten, Thumelicus,<lb/>
Thusneldas Sohn, zum Helden eines Dramas zu machen. Doch dem sei,<lb/>
wie ihm wolle!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1619" next="#ID_1620"> Wichtiger ist für uns, zu erfahren, wer jetzt zu den Zierden des deutschen<lb/>
Parnaß gehört. Der Herausgeber spricht das große Wort gelassen aus: &#x201E;So<lb/>
bedeutend wie die kleinen Hainbundleute, über die heute dicke Bücher erscheinen,<lb/>
sind alle, die hier zu den Lesern sprechen; und mich selbst bringe ich hiermit<lb/>
gern zum Opfer." Über dieses Opfer mag jeder denken, wie er will, aber<lb/>
davon abgesehen klingt das wohl nicht viel anders, als wenn ein Musketier</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0486] Litterarische Industrie des Publikums entgegenkommen," ist uicht ganz sicher. Schon viele Erzähler sind eine Zeit lang in großer Gunst gewesen, ohne daß sich die Leser auf die Entstehungsgeschichte ihrer Geschichten so begierig gezeigt hätten wie auf die Lösung der Verwicklungen darin. Wir brauchen dabei nicht weit zurückzugreifen, sondern nur an Namen wie van der Velde, Spindler, Henriette Hänke, Holtei, Hackländer und auch größere zu erinnern; ebenso an einstige Beherrscher der Bühnen. Dagegen wird das Unternehmen von Franzos künftige Literar¬ historiker, wenn sie von den hier versammelten Größen des Tages noch Notiz nehmen wollen, der Mühe überheben, in Tagebüchern, Briefen, Schulheften, Denkwürdigkeiten das Material für die Schilderung von Dichterlehrjahren zu suchen. Und reine Freude bereitet es schon jetzt, wie sich in dem Buche zeigt, mehreren von den Mitarbeitern; für den Herausgeber versteht sich das von selbst. Karl Emil Franzos ist ein Erfinder. Er rühmt sich, zuerst den tief¬ sinnigen Satz ausgesprochen zu haben, jedes Land habe die Juden, die es ver¬ diene. Was er damit eigentlich sagen wollte, ob die Juden zu den Lebens¬ bedürfnissen eines jeden Volkes gehören und von verschiednen Völkern je nach der Geschmacksrichtung genossen werden, oder ob sie der sündigen Menschheit von der Weltregierung auferlegt worden sind, wie den alten Ägyptern andre Dinge, und ob ihre Qualität einen Schluß auf den Grad der Sündhaftigkeit eines Volkes begründet, oder wie sonst der Ausspruch zu deuten ist, das hat er unsers Wissens noch nicht enthüllt. Dennoch sollen sich andre Weise seine Unvor¬ sichtigkeit, kein Patent zu nehmen, zu nutze gemacht und die Erfindung sich zugeschrieben haben. Auch die Erfindung, die Dichter eine Beichte über lit¬ terarische Jugendsünden ablegen zu lassen, ist, wie das Vorwort berichtet, sofort von einem Unberechtigten nachgeahmt worden, und zwar, wie das in der In¬ dustrie öfter geschieht, mit solcher Geschwindigkeit, daß Franzos in Gefahr geraten ist, für den Nachahmer gehalten zu werden. Vielleicht aber liegt auf keiner Seite eine „illoyale Konkurrenz" vor. Zu gewissen Zeiten tauchen ja Erfindungen oder Entdeckungen gleichzeitig an verschiednen Punkten auf, wie z. V. die Schießbaumwolle, und nach unsrer Revolutionsperiode hatte ja die deutsche Journalistik nichts wichtigeres zu thun, als hitzig darüber zu streiten, ob zwei Menschen auf den Gedanken gekommen sein könnten, Thumelicus, Thusneldas Sohn, zum Helden eines Dramas zu machen. Doch dem sei, wie ihm wolle! Wichtiger ist für uns, zu erfahren, wer jetzt zu den Zierden des deutschen Parnaß gehört. Der Herausgeber spricht das große Wort gelassen aus: „So bedeutend wie die kleinen Hainbundleute, über die heute dicke Bücher erscheinen, sind alle, die hier zu den Lesern sprechen; und mich selbst bringe ich hiermit gern zum Opfer." Über dieses Opfer mag jeder denken, wie er will, aber davon abgesehen klingt das wohl nicht viel anders, als wenn ein Musketier

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/486
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/486>, abgerufen am 25.07.2024.