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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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verfehlter Anschluß

die lobpreisenden Waschzettel zu wiederholen, die mit jedem Bande neuer Lyrik
versandt werden, als selbst nachzuprüfen, wo etwa ein Goldkorn aus grauem
Gestein hervorleuchtet. Hoffentlich überzeugt uns die eine oder andre zu¬
künftige Anthologie, daß doch ein Schweiß in der Welt bezahlt wird, wie der
Räuber Moor sagt.




Verfehlter Anschluß

ssessor Hering war ein unglücklicher Mensch. Auch in seinem
Falle war es die soziale Frage, die ihm schlaflose Nachte be¬
reitete, eine Kette von Verstimmungen knüpfte und mehr und mehr
sein Leben zu verkümmern drohte. Freilich nicht die soziale Frage,
die die Volksvertretungen beschäftigt, wohlmeinende Männer in
Stadt und Land in Atem hält, zahllose Vereinsgründungen be¬
günstigt, den Autoren neues Wasser ans ihre Mühlen schüttet, die Gemüter entzweit
und verbindet, jedem Menschenalter vorgelegt wird, oft unter Kriegslärm, Sieges¬
jubel und Freudentaumel überhört und niemals den strengen Examinator be¬
friedigend gelöst wird. Diese universale Frage, die bei der Prüfung jedes Cötus
wiederkehrt, drückte den Assessor Hering nicht. Er hatte seine eigne soziale Frage.
Und weil sie keinen interessirte, weil ihn keiner verstand, kein teilnehmendes
Gemüt sich seiner annahm, mußte er unglücklich werden, und er verstrickte
sich in diesen Kausalnexus mit methodischer Gründlichkeit. Versetzter Ehrgeiz
von Jugend auf war es, der seinen Eifer zugleich spornte und lähmte, seine
Freuden vergiftete, ihm und seinen Angehörigen manche harmlose Bethätigung
der Daseinslust verdarb.

Schon sein unglücklicher Name Hering war für ihn ein quälendes Attribut.
Als er, für ihn zum erstenmale, bei der Aufnahme in die Schule, in der
Öffentlichkeit zur Sprache kam, fand ihn ein sechsjähriger Mitschüler be¬
lustigend, und seitdem konnte er sich niemals ohne Befangenheit nennen oder
rufen hören, stets war es ihm peinlich, andern vorgestellt zu werden. Jener
Junge aber, der, ohne es zu wissen und zu wollen, zuerst dieses Gefühl der
Minderwertigkeit in ihm geweckt hatte, wurde auch sonst noch bedeutungsvoll
für sein Leben, er wurde sein bester Freund, sein Vorbild und Leitstern, dem
er es in allen Dingen nachzuthun nie ermattete. Dieser Knabe, der den ganz
neutralen Namen Gustav Meyer führte, war zwar von völlig anderm Schlage,
leichtblütiger, gesünder, begabter und unbefangner; aber das hinderte den kleinen
Hering nicht in seinem Bestreben, die Neigungen Gustavs zu teilen, seinen
schnellen Erfolgen in der Schule rastlos nachzuklettern, alles, was der in leicht
wechselnder Laune schön und begehrenswert fand, nicht ganz so leicht, aber
nicht minder entschlossen zu bewundern und zu begehren, und den großen
Hering hinderte es nicht, ebenso wie Meyer die juristische Laufbahn als die


verfehlter Anschluß

die lobpreisenden Waschzettel zu wiederholen, die mit jedem Bande neuer Lyrik
versandt werden, als selbst nachzuprüfen, wo etwa ein Goldkorn aus grauem
Gestein hervorleuchtet. Hoffentlich überzeugt uns die eine oder andre zu¬
künftige Anthologie, daß doch ein Schweiß in der Welt bezahlt wird, wie der
Räuber Moor sagt.




Verfehlter Anschluß

ssessor Hering war ein unglücklicher Mensch. Auch in seinem
Falle war es die soziale Frage, die ihm schlaflose Nachte be¬
reitete, eine Kette von Verstimmungen knüpfte und mehr und mehr
sein Leben zu verkümmern drohte. Freilich nicht die soziale Frage,
die die Volksvertretungen beschäftigt, wohlmeinende Männer in
Stadt und Land in Atem hält, zahllose Vereinsgründungen be¬
günstigt, den Autoren neues Wasser ans ihre Mühlen schüttet, die Gemüter entzweit
und verbindet, jedem Menschenalter vorgelegt wird, oft unter Kriegslärm, Sieges¬
jubel und Freudentaumel überhört und niemals den strengen Examinator be¬
friedigend gelöst wird. Diese universale Frage, die bei der Prüfung jedes Cötus
wiederkehrt, drückte den Assessor Hering nicht. Er hatte seine eigne soziale Frage.
Und weil sie keinen interessirte, weil ihn keiner verstand, kein teilnehmendes
Gemüt sich seiner annahm, mußte er unglücklich werden, und er verstrickte
sich in diesen Kausalnexus mit methodischer Gründlichkeit. Versetzter Ehrgeiz
von Jugend auf war es, der seinen Eifer zugleich spornte und lähmte, seine
Freuden vergiftete, ihm und seinen Angehörigen manche harmlose Bethätigung
der Daseinslust verdarb.

Schon sein unglücklicher Name Hering war für ihn ein quälendes Attribut.
Als er, für ihn zum erstenmale, bei der Aufnahme in die Schule, in der
Öffentlichkeit zur Sprache kam, fand ihn ein sechsjähriger Mitschüler be¬
lustigend, und seitdem konnte er sich niemals ohne Befangenheit nennen oder
rufen hören, stets war es ihm peinlich, andern vorgestellt zu werden. Jener
Junge aber, der, ohne es zu wissen und zu wollen, zuerst dieses Gefühl der
Minderwertigkeit in ihm geweckt hatte, wurde auch sonst noch bedeutungsvoll
für sein Leben, er wurde sein bester Freund, sein Vorbild und Leitstern, dem
er es in allen Dingen nachzuthun nie ermattete. Dieser Knabe, der den ganz
neutralen Namen Gustav Meyer führte, war zwar von völlig anderm Schlage,
leichtblütiger, gesünder, begabter und unbefangner; aber das hinderte den kleinen
Hering nicht in seinem Bestreben, die Neigungen Gustavs zu teilen, seinen
schnellen Erfolgen in der Schule rastlos nachzuklettern, alles, was der in leicht
wechselnder Laune schön und begehrenswert fand, nicht ganz so leicht, aber
nicht minder entschlossen zu bewundern und zu begehren, und den großen
Hering hinderte es nicht, ebenso wie Meyer die juristische Laufbahn als die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/46>, abgerufen am 24.08.2024.