Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.Beiträge zu einer künftigen Anthologie innigem und ergreifenden Volkston finden, wie "Weißes Heidekraut," "Es ist Und Leitartikelprosa ist es meist, ja beinahe ausschließlich, was die neueste Beiträge zu einer künftigen Anthologie innigem und ergreifenden Volkston finden, wie „Weißes Heidekraut," „Es ist Und Leitartikelprosa ist es meist, ja beinahe ausschließlich, was die neueste <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0043" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221019"/> <fw type="header" place="top"> Beiträge zu einer künftigen Anthologie</fw><lb/> <p xml:id="ID_94" prev="#ID_93"> innigem und ergreifenden Volkston finden, wie „Weißes Heidekraut," „Es ist<lb/> viel Raum für mich auf meines Vaters Hof," „Ans der Fremde bin ich<lb/> kommen," „Sommerabend" und „Volksweise" (Steht ein Haselstrcinch an<lb/> unserm Wiesenrand) finden, die jede, auch die strengste Auswahl zieren werden.<lb/> In den Neuen Gedichten von L. Rafael (Leipzig, Breitkopf und Härtel,<lb/> 1894) ist ein verwandter Trieb nicht zu so klarer und schöner Entfaltung ge¬<lb/> diehen; immerhin lassen sich Lieder herausheben wie „In den Tannen," das<lb/> Volkslied „Weit, weit möcht' ich wandern" und das Gedicht „Am Fluche."<lb/> Bei den Sammlungen Vom Baume des Lebens von Marie Eichenberg<lb/> (Berlin, Bibliographisches Bureau, 1895) und Aus des Lebens dunklen<lb/> Tiefen von Marie Fischer, geborne Leite (Leipzig, Reinhold Werther) bleibt<lb/> eine Durchmusterung vergeblich, die Gedichte der einen wachsen zu nahe an<lb/> der dürren Heide der bloßen Nachahmung, der hergebrachten poetischen Phrase,<lb/> die Lebensbilder der andern sind „naturalistisch," erheben sich aber trotz Reim<lb/> und Rhythmus nur selten über die dürrste Leitartikelprosa.</p><lb/> <p xml:id="ID_95" next="#ID_96"> Und Leitartikelprosa ist es meist, ja beinahe ausschließlich, was die neueste<lb/> politische Lyrik erfüllt, gleichviel ob sie unter der schwarz-rot-weißen oder der<lb/> blutroten Fahne singt oder vielmehr nicht singt, sondern deklamirt und poltert.<lb/> Die Streitfrage über die Berechtigung der politischen Poesie ist längst ge¬<lb/> schlossen: gebt uns in Gottes Namen oder auch in Teufels Namen politische<lb/> Gedichte, aber Gedichte, nicht in Verse gesetzte Zeitungsspalten und Klubreden!<lb/> Der Vorwurf, zu drei Vierteln Rhetorik und einem Viertel Poesie zu bieten,<lb/> kann bei allem Schwung vaterländischen Gefühls und edler Gesinnung auch<lb/> den Herzblut betitelten neuen deutschen Liedern von Adolf Graf Westarp<lb/> (Berlin, Paul Mordebeck, 1895) nicht erspart bleiben, wenn uns auch für<lb/> eine Mustersammlung vaterländischer Gedichte, eine poetische Illustration der<lb/> Zeitereignisse die Gedichte „Friedrichsruh," „Wir kennen uns" und die schöne<lb/> Allegorie „Der treue Eichbaum" (zum 1. April 1895) entgegentreten, die be¬<lb/> weisen, daß Gras Westarp, trotz aller rednerischen Überfülle, doch ein Dichter<lb/> ist. Einen Anlauf, wilde Rhetorik in Bild und Leben zu wandeln und einen<lb/> Zug zum Abstrakten zu überwinden, nimmt ein sozialistischer Dichter Bruno<lb/> Wille in den sozialen Gedichten Einsiedler und Genosse (Berlin, S. Fischer,<lb/> 1894), die Julius Hart empfehlend befürwortet, indem er von dem Dichter<lb/> rühmt, daß er „die Erkenntnisse des modernen Geistes in sich aufgenommen<lb/> und durch sie die Welt mit besondern Augen anschauen gelernt habe." Der<lb/> „Einsiedler" spricht uns in Gedichten wie „Mutterstimme" und „Der Tote"<lb/> zu Herzen, der „Genosse," der so dürftige Phantasien wie „Geschieden" und<lb/> „Verurteilt zu lebenslänglichem Galgen" durch das Pathos des Ausdrucks zu<lb/> heben trachtet, läßt uns kalt. Auch in I. Sterns sozialdemokratischen Zeit-<lb/> und Festgedichten Morgenrot (Stuttgart, Max Hetzle, 1894) beschränkt sich<lb/> der poetische Aufschwung meist darauf, den widerspenstigen nationalökonomischen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
Beiträge zu einer künftigen Anthologie
innigem und ergreifenden Volkston finden, wie „Weißes Heidekraut," „Es ist
viel Raum für mich auf meines Vaters Hof," „Ans der Fremde bin ich
kommen," „Sommerabend" und „Volksweise" (Steht ein Haselstrcinch an
unserm Wiesenrand) finden, die jede, auch die strengste Auswahl zieren werden.
In den Neuen Gedichten von L. Rafael (Leipzig, Breitkopf und Härtel,
1894) ist ein verwandter Trieb nicht zu so klarer und schöner Entfaltung ge¬
diehen; immerhin lassen sich Lieder herausheben wie „In den Tannen," das
Volkslied „Weit, weit möcht' ich wandern" und das Gedicht „Am Fluche."
Bei den Sammlungen Vom Baume des Lebens von Marie Eichenberg
(Berlin, Bibliographisches Bureau, 1895) und Aus des Lebens dunklen
Tiefen von Marie Fischer, geborne Leite (Leipzig, Reinhold Werther) bleibt
eine Durchmusterung vergeblich, die Gedichte der einen wachsen zu nahe an
der dürren Heide der bloßen Nachahmung, der hergebrachten poetischen Phrase,
die Lebensbilder der andern sind „naturalistisch," erheben sich aber trotz Reim
und Rhythmus nur selten über die dürrste Leitartikelprosa.
Und Leitartikelprosa ist es meist, ja beinahe ausschließlich, was die neueste
politische Lyrik erfüllt, gleichviel ob sie unter der schwarz-rot-weißen oder der
blutroten Fahne singt oder vielmehr nicht singt, sondern deklamirt und poltert.
Die Streitfrage über die Berechtigung der politischen Poesie ist längst ge¬
schlossen: gebt uns in Gottes Namen oder auch in Teufels Namen politische
Gedichte, aber Gedichte, nicht in Verse gesetzte Zeitungsspalten und Klubreden!
Der Vorwurf, zu drei Vierteln Rhetorik und einem Viertel Poesie zu bieten,
kann bei allem Schwung vaterländischen Gefühls und edler Gesinnung auch
den Herzblut betitelten neuen deutschen Liedern von Adolf Graf Westarp
(Berlin, Paul Mordebeck, 1895) nicht erspart bleiben, wenn uns auch für
eine Mustersammlung vaterländischer Gedichte, eine poetische Illustration der
Zeitereignisse die Gedichte „Friedrichsruh," „Wir kennen uns" und die schöne
Allegorie „Der treue Eichbaum" (zum 1. April 1895) entgegentreten, die be¬
weisen, daß Gras Westarp, trotz aller rednerischen Überfülle, doch ein Dichter
ist. Einen Anlauf, wilde Rhetorik in Bild und Leben zu wandeln und einen
Zug zum Abstrakten zu überwinden, nimmt ein sozialistischer Dichter Bruno
Wille in den sozialen Gedichten Einsiedler und Genosse (Berlin, S. Fischer,
1894), die Julius Hart empfehlend befürwortet, indem er von dem Dichter
rühmt, daß er „die Erkenntnisse des modernen Geistes in sich aufgenommen
und durch sie die Welt mit besondern Augen anschauen gelernt habe." Der
„Einsiedler" spricht uns in Gedichten wie „Mutterstimme" und „Der Tote"
zu Herzen, der „Genosse," der so dürftige Phantasien wie „Geschieden" und
„Verurteilt zu lebenslänglichem Galgen" durch das Pathos des Ausdrucks zu
heben trachtet, läßt uns kalt. Auch in I. Sterns sozialdemokratischen Zeit-
und Festgedichten Morgenrot (Stuttgart, Max Hetzle, 1894) beschränkt sich
der poetische Aufschwung meist darauf, den widerspenstigen nationalökonomischen
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