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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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wichtige Thatsache, weil sie beweist, daß der Staat den Besitzlose", solange
ihre Besitzlosigkeit dauert, beim besten Willen nicht helfen kann; er kann nichts,
als sie aus einer Elendsform in die andre hin- und herschieben.

Weiß nun schon das Politisch einflußreiche Publikum nicht, wie es im
eignen Lande aussieht, so wissen es die politisch maßgebenden Kreise womöglich
noch weniger. Sehr schön und mit genauester Sachkenntnis hat das der
Geheimrat Massow in seinem (soeben in zweiter, veränderter Auflage erschienenen)
Buche "Reform oder Revolution" auseinandergesetzt. Seinen großartigen
Reformplan, der das ändern soll, halten wir für eine Utopie. Woher will
er die Männer nehmen, die er für seinen Zukunftsstaat braucht? In den
sozialpolitischen Studentenvereinen könnten sie vielleicht heranwachsen, aber die
werden ja fast überall unterdrückt. Unsrer Überzeugung nach liegt es im Wesen
der Büreaukratie, daß ihre Spitzen im allgemeinen schlecht informire sein müssen.
Die Zukunft jedes Beamten hängt davon ab, daß er sich seinein Vorgesetzten
angenehm mache, und durch nichts macht man sich unangenehmer, als durch
die ungeschminkte Wahrheit. Bekannt ist die Metamorphose, die die milde
Rüge des hohen Chefs auf ihrem Wege nach unten erfährt: beim Unter¬
beamten kommt sie als Hageldonnerwetter an. Mit der unangenehmen Wahr¬
nehmung des Unterbeamten geht auf dem Transport nach oben die um¬
gekehrte Verwandlung vor sich: das Krokodil, das er seinem nächsten Vor¬
gesetzten überreicht, langt beim höchsten Chef als niedliches Kanarienvögelchen
an. Wir haben hie und da noch einen idealen Landrat in Preußen. Ein
solcher, der Freiherr von Richthofen in Jauer, hat kürzlich den Staatsdienst
verlassen und beim Abschied vom Kreise wahrhaft goldne Worte gesprochen.
Er zählte die Pflichten des echten und rechten Landrath uns und nannte als
allererste: die Zustände, Notstände und Ansichten der Volkskreise unverblümt
so darstellen, wie sie sind, und deshalb, fügte er hinzu, darf er kein Streber
sein, d. h. mit andern Worten: wenn er seine allererste Pflicht erfüllt, muß
er auf Anerkennung und Beförderung verzichten. Wie viele sind eines solchen
Heroismus fähig? Wie vielen gestatten ihre Vermögensverhültmsse und die
Rücksichten auf ihre Familie dieses Opfer? Massow schreibt Seite 195: "Als
Beamter empfinde ich stets ein Gefühl der Scham, wenn ich das Wort En¬
quete lese oder höre. Stellt die Armee Enqueten an?" Da übersieht er doch
ganz und gar den gewaltigen Unterschied zwischen Heeres- und Zivilverwaltung.
Der Inspekteur bestellt den zu besichtigenden Truppenteil auf den Exerzierplatz,
und wenn er die Männer und ihre Uniformen gesehen hat, und wenn er sie
hat manövriren sehen, und wenn er die Kasernen und die Depots gesehen
hat, so hat er alles gesehen, was überhaupt zu sehen ist. Der inspizirende
Geheimrat oder Oberpräsident aber kann nicht die Männer, Weiber und Kinder
des Kreises auf einen Platz bestellen, kann nicht sämtliche Fabriken, Gruben,
Werkstätten, Dominien, Arbeiterwohnungen besichtigen, und hätte er das alles


wichtige Thatsache, weil sie beweist, daß der Staat den Besitzlose», solange
ihre Besitzlosigkeit dauert, beim besten Willen nicht helfen kann; er kann nichts,
als sie aus einer Elendsform in die andre hin- und herschieben.

Weiß nun schon das Politisch einflußreiche Publikum nicht, wie es im
eignen Lande aussieht, so wissen es die politisch maßgebenden Kreise womöglich
noch weniger. Sehr schön und mit genauester Sachkenntnis hat das der
Geheimrat Massow in seinem (soeben in zweiter, veränderter Auflage erschienenen)
Buche „Reform oder Revolution" auseinandergesetzt. Seinen großartigen
Reformplan, der das ändern soll, halten wir für eine Utopie. Woher will
er die Männer nehmen, die er für seinen Zukunftsstaat braucht? In den
sozialpolitischen Studentenvereinen könnten sie vielleicht heranwachsen, aber die
werden ja fast überall unterdrückt. Unsrer Überzeugung nach liegt es im Wesen
der Büreaukratie, daß ihre Spitzen im allgemeinen schlecht informire sein müssen.
Die Zukunft jedes Beamten hängt davon ab, daß er sich seinein Vorgesetzten
angenehm mache, und durch nichts macht man sich unangenehmer, als durch
die ungeschminkte Wahrheit. Bekannt ist die Metamorphose, die die milde
Rüge des hohen Chefs auf ihrem Wege nach unten erfährt: beim Unter¬
beamten kommt sie als Hageldonnerwetter an. Mit der unangenehmen Wahr¬
nehmung des Unterbeamten geht auf dem Transport nach oben die um¬
gekehrte Verwandlung vor sich: das Krokodil, das er seinem nächsten Vor¬
gesetzten überreicht, langt beim höchsten Chef als niedliches Kanarienvögelchen
an. Wir haben hie und da noch einen idealen Landrat in Preußen. Ein
solcher, der Freiherr von Richthofen in Jauer, hat kürzlich den Staatsdienst
verlassen und beim Abschied vom Kreise wahrhaft goldne Worte gesprochen.
Er zählte die Pflichten des echten und rechten Landrath uns und nannte als
allererste: die Zustände, Notstände und Ansichten der Volkskreise unverblümt
so darstellen, wie sie sind, und deshalb, fügte er hinzu, darf er kein Streber
sein, d. h. mit andern Worten: wenn er seine allererste Pflicht erfüllt, muß
er auf Anerkennung und Beförderung verzichten. Wie viele sind eines solchen
Heroismus fähig? Wie vielen gestatten ihre Vermögensverhültmsse und die
Rücksichten auf ihre Familie dieses Opfer? Massow schreibt Seite 195: „Als
Beamter empfinde ich stets ein Gefühl der Scham, wenn ich das Wort En¬
quete lese oder höre. Stellt die Armee Enqueten an?" Da übersieht er doch
ganz und gar den gewaltigen Unterschied zwischen Heeres- und Zivilverwaltung.
Der Inspekteur bestellt den zu besichtigenden Truppenteil auf den Exerzierplatz,
und wenn er die Männer und ihre Uniformen gesehen hat, und wenn er sie
hat manövriren sehen, und wenn er die Kasernen und die Depots gesehen
hat, so hat er alles gesehen, was überhaupt zu sehen ist. Der inspizirende
Geheimrat oder Oberpräsident aber kann nicht die Männer, Weiber und Kinder
des Kreises auf einen Platz bestellen, kann nicht sämtliche Fabriken, Gruben,
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[0422] wichtige Thatsache, weil sie beweist, daß der Staat den Besitzlose», solange ihre Besitzlosigkeit dauert, beim besten Willen nicht helfen kann; er kann nichts, als sie aus einer Elendsform in die andre hin- und herschieben. Weiß nun schon das Politisch einflußreiche Publikum nicht, wie es im eignen Lande aussieht, so wissen es die politisch maßgebenden Kreise womöglich noch weniger. Sehr schön und mit genauester Sachkenntnis hat das der Geheimrat Massow in seinem (soeben in zweiter, veränderter Auflage erschienenen) Buche „Reform oder Revolution" auseinandergesetzt. Seinen großartigen Reformplan, der das ändern soll, halten wir für eine Utopie. Woher will er die Männer nehmen, die er für seinen Zukunftsstaat braucht? In den sozialpolitischen Studentenvereinen könnten sie vielleicht heranwachsen, aber die werden ja fast überall unterdrückt. Unsrer Überzeugung nach liegt es im Wesen der Büreaukratie, daß ihre Spitzen im allgemeinen schlecht informire sein müssen. Die Zukunft jedes Beamten hängt davon ab, daß er sich seinein Vorgesetzten angenehm mache, und durch nichts macht man sich unangenehmer, als durch die ungeschminkte Wahrheit. Bekannt ist die Metamorphose, die die milde Rüge des hohen Chefs auf ihrem Wege nach unten erfährt: beim Unter¬ beamten kommt sie als Hageldonnerwetter an. Mit der unangenehmen Wahr¬ nehmung des Unterbeamten geht auf dem Transport nach oben die um¬ gekehrte Verwandlung vor sich: das Krokodil, das er seinem nächsten Vor¬ gesetzten überreicht, langt beim höchsten Chef als niedliches Kanarienvögelchen an. Wir haben hie und da noch einen idealen Landrat in Preußen. Ein solcher, der Freiherr von Richthofen in Jauer, hat kürzlich den Staatsdienst verlassen und beim Abschied vom Kreise wahrhaft goldne Worte gesprochen. Er zählte die Pflichten des echten und rechten Landrath uns und nannte als allererste: die Zustände, Notstände und Ansichten der Volkskreise unverblümt so darstellen, wie sie sind, und deshalb, fügte er hinzu, darf er kein Streber sein, d. h. mit andern Worten: wenn er seine allererste Pflicht erfüllt, muß er auf Anerkennung und Beförderung verzichten. Wie viele sind eines solchen Heroismus fähig? Wie vielen gestatten ihre Vermögensverhültmsse und die Rücksichten auf ihre Familie dieses Opfer? Massow schreibt Seite 195: „Als Beamter empfinde ich stets ein Gefühl der Scham, wenn ich das Wort En¬ quete lese oder höre. Stellt die Armee Enqueten an?" Da übersieht er doch ganz und gar den gewaltigen Unterschied zwischen Heeres- und Zivilverwaltung. Der Inspekteur bestellt den zu besichtigenden Truppenteil auf den Exerzierplatz, und wenn er die Männer und ihre Uniformen gesehen hat, und wenn er sie hat manövriren sehen, und wenn er die Kasernen und die Depots gesehen hat, so hat er alles gesehen, was überhaupt zu sehen ist. Der inspizirende Geheimrat oder Oberpräsident aber kann nicht die Männer, Weiber und Kinder des Kreises auf einen Platz bestellen, kann nicht sämtliche Fabriken, Gruben, Werkstätten, Dominien, Arbeiterwohnungen besichtigen, und hätte er das alles

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/422>, abgerufen am 24.07.2024.