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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sind wir Sozialdemokraten?

lösen Dasein, die Übrigbleibenden versinken in jenen Zustand tierischen Stumpf¬
sinns, der sich willenlos in jede Lage fügt, d. h. also, die untere Hälfte
des Volkes verkümmert. Aber der ungeheure Druck, der erforderlich ist,
dieses Ergebnis herbeizuführen, läßt auch die obere Hälfte nicht unbeschädigt,
wie wir schon heute deutlich sehen: das freie Wort wird gefesselt, jeder selb¬
ständige Charakter gebeugt oder gebrochen oder von den höhern Stellen aus¬
geschlossen, das Spitzel- und Denunziantentum gefördert und so jene Züchtung
des schlechtern betrieben, die nach secat die Hauptursache des Untergangs
des römischen Reiches gewesen ist. Aus diesem Verderben sehen wir nur einen
Ausweg: eine große politische Aktion, die den größern Teil der besitzlosen
Glieder unsers Volkes wieder mit Grundbesitz ausstattet. Wer einen andern
Ausweg weiß, möge ihn zeigen. Um nichts geringeres handelt es sich, als
um die Zukunft des deutschen Volkes.

Das also ist die Lage. Ohne Erkenntnis dieser Lage giebt es keine
Möglichkeit einer vernünftigen Politik, einer Politik, die sich mit dem Fort¬
wursteln von einem Tage zum andern nicht begnügt. Und für die Erkenntnis
dieser Lage ist, wie wir gezeigt haben, die Sozialdemokratie als Informations¬
stelle gnr nicht zu entbehren. Das Fabrikinspektorat vermag sie nicht zu er¬
setzen. Die Zahl der Gewerberäte reicht, namentlich in Preußen, nicht hin
(in Sachsen steht es in dieser Hinsicht besser), jährlich jeden Betrieb auch nur
einmal zu revidiren, und noch dazu wird diesen Beamten der größte Teil
ihrer Zeit und Kraft durch Kesselrevisionen geraubt. Jukognitobesuche, die
allein völlige Klarheit schaffen könnten, sind unmöglich, und den Gewerberat
aufzusuchen, das wagen die Arbeiter nicht leicht. In dem Bericht über das Jahr
1894 schreibt der badische Fabrikinspektor: "Die Arbeiter bekommen es manch¬
mal schwer zu fühlen, wenn sie etwa unsre Intervention herbeigeführt haben.
Sofern sich die Arbeiter aus freien Stücken an die Fabrikinsvcktion wenden,
fürchten sie entlassen oder sonst gemaßregelt zu werden. Es ist kein Mangel
an moralischem Mut, wenn sie sich die Frage vorlegen, ob die Verfolgung
einer einzelnen Beschwerde es rechtfertigt, daß sie deswegen ihre und ihrer
Familie Existenz aufs Spiel setzen." Und das Unzulängliche, was diese Be¬
richte bringen, wird nicht einmal dem Publikum bekannt. Wem sind diese
Berichte zugänglich, wem auch nur die "Mitteilungen," die das Reichs¬
amt des Innern daraus zusammenstellt? Es ist wahr, die Zeitungen
bringen Auszüge daraus, aber das Wichtigste unterschlagen die bürgerlichen,
das muß man in den sozialdemokratischen suchen, denen sich allenfalls noch
ein paar demokratische als getreue Berichterstatter zugesellen. So z. B. wird
man in der bürgerlichen Presse vergebens die wichtige Angabe suchen, daß
der Arbeiterschutz zwar die Zahl der in Fabriken beschäftigten Frauen und
Kinder stetig vermindert, dafür aber diese massenhaft in die Hausindustrie
drängt, wo sie weit ärger ausgenützt werden. Es ist dies eine ganz besonders


Sind wir Sozialdemokraten?

lösen Dasein, die Übrigbleibenden versinken in jenen Zustand tierischen Stumpf¬
sinns, der sich willenlos in jede Lage fügt, d. h. also, die untere Hälfte
des Volkes verkümmert. Aber der ungeheure Druck, der erforderlich ist,
dieses Ergebnis herbeizuführen, läßt auch die obere Hälfte nicht unbeschädigt,
wie wir schon heute deutlich sehen: das freie Wort wird gefesselt, jeder selb¬
ständige Charakter gebeugt oder gebrochen oder von den höhern Stellen aus¬
geschlossen, das Spitzel- und Denunziantentum gefördert und so jene Züchtung
des schlechtern betrieben, die nach secat die Hauptursache des Untergangs
des römischen Reiches gewesen ist. Aus diesem Verderben sehen wir nur einen
Ausweg: eine große politische Aktion, die den größern Teil der besitzlosen
Glieder unsers Volkes wieder mit Grundbesitz ausstattet. Wer einen andern
Ausweg weiß, möge ihn zeigen. Um nichts geringeres handelt es sich, als
um die Zukunft des deutschen Volkes.

Das also ist die Lage. Ohne Erkenntnis dieser Lage giebt es keine
Möglichkeit einer vernünftigen Politik, einer Politik, die sich mit dem Fort¬
wursteln von einem Tage zum andern nicht begnügt. Und für die Erkenntnis
dieser Lage ist, wie wir gezeigt haben, die Sozialdemokratie als Informations¬
stelle gnr nicht zu entbehren. Das Fabrikinspektorat vermag sie nicht zu er¬
setzen. Die Zahl der Gewerberäte reicht, namentlich in Preußen, nicht hin
(in Sachsen steht es in dieser Hinsicht besser), jährlich jeden Betrieb auch nur
einmal zu revidiren, und noch dazu wird diesen Beamten der größte Teil
ihrer Zeit und Kraft durch Kesselrevisionen geraubt. Jukognitobesuche, die
allein völlige Klarheit schaffen könnten, sind unmöglich, und den Gewerberat
aufzusuchen, das wagen die Arbeiter nicht leicht. In dem Bericht über das Jahr
1894 schreibt der badische Fabrikinspektor: „Die Arbeiter bekommen es manch¬
mal schwer zu fühlen, wenn sie etwa unsre Intervention herbeigeführt haben.
Sofern sich die Arbeiter aus freien Stücken an die Fabrikinsvcktion wenden,
fürchten sie entlassen oder sonst gemaßregelt zu werden. Es ist kein Mangel
an moralischem Mut, wenn sie sich die Frage vorlegen, ob die Verfolgung
einer einzelnen Beschwerde es rechtfertigt, daß sie deswegen ihre und ihrer
Familie Existenz aufs Spiel setzen." Und das Unzulängliche, was diese Be¬
richte bringen, wird nicht einmal dem Publikum bekannt. Wem sind diese
Berichte zugänglich, wem auch nur die „Mitteilungen," die das Reichs¬
amt des Innern daraus zusammenstellt? Es ist wahr, die Zeitungen
bringen Auszüge daraus, aber das Wichtigste unterschlagen die bürgerlichen,
das muß man in den sozialdemokratischen suchen, denen sich allenfalls noch
ein paar demokratische als getreue Berichterstatter zugesellen. So z. B. wird
man in der bürgerlichen Presse vergebens die wichtige Angabe suchen, daß
der Arbeiterschutz zwar die Zahl der in Fabriken beschäftigten Frauen und
Kinder stetig vermindert, dafür aber diese massenhaft in die Hausindustrie
drängt, wo sie weit ärger ausgenützt werden. Es ist dies eine ganz besonders


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[0421] Sind wir Sozialdemokraten? lösen Dasein, die Übrigbleibenden versinken in jenen Zustand tierischen Stumpf¬ sinns, der sich willenlos in jede Lage fügt, d. h. also, die untere Hälfte des Volkes verkümmert. Aber der ungeheure Druck, der erforderlich ist, dieses Ergebnis herbeizuführen, läßt auch die obere Hälfte nicht unbeschädigt, wie wir schon heute deutlich sehen: das freie Wort wird gefesselt, jeder selb¬ ständige Charakter gebeugt oder gebrochen oder von den höhern Stellen aus¬ geschlossen, das Spitzel- und Denunziantentum gefördert und so jene Züchtung des schlechtern betrieben, die nach secat die Hauptursache des Untergangs des römischen Reiches gewesen ist. Aus diesem Verderben sehen wir nur einen Ausweg: eine große politische Aktion, die den größern Teil der besitzlosen Glieder unsers Volkes wieder mit Grundbesitz ausstattet. Wer einen andern Ausweg weiß, möge ihn zeigen. Um nichts geringeres handelt es sich, als um die Zukunft des deutschen Volkes. Das also ist die Lage. Ohne Erkenntnis dieser Lage giebt es keine Möglichkeit einer vernünftigen Politik, einer Politik, die sich mit dem Fort¬ wursteln von einem Tage zum andern nicht begnügt. Und für die Erkenntnis dieser Lage ist, wie wir gezeigt haben, die Sozialdemokratie als Informations¬ stelle gnr nicht zu entbehren. Das Fabrikinspektorat vermag sie nicht zu er¬ setzen. Die Zahl der Gewerberäte reicht, namentlich in Preußen, nicht hin (in Sachsen steht es in dieser Hinsicht besser), jährlich jeden Betrieb auch nur einmal zu revidiren, und noch dazu wird diesen Beamten der größte Teil ihrer Zeit und Kraft durch Kesselrevisionen geraubt. Jukognitobesuche, die allein völlige Klarheit schaffen könnten, sind unmöglich, und den Gewerberat aufzusuchen, das wagen die Arbeiter nicht leicht. In dem Bericht über das Jahr 1894 schreibt der badische Fabrikinspektor: „Die Arbeiter bekommen es manch¬ mal schwer zu fühlen, wenn sie etwa unsre Intervention herbeigeführt haben. Sofern sich die Arbeiter aus freien Stücken an die Fabrikinsvcktion wenden, fürchten sie entlassen oder sonst gemaßregelt zu werden. Es ist kein Mangel an moralischem Mut, wenn sie sich die Frage vorlegen, ob die Verfolgung einer einzelnen Beschwerde es rechtfertigt, daß sie deswegen ihre und ihrer Familie Existenz aufs Spiel setzen." Und das Unzulängliche, was diese Be¬ richte bringen, wird nicht einmal dem Publikum bekannt. Wem sind diese Berichte zugänglich, wem auch nur die „Mitteilungen," die das Reichs¬ amt des Innern daraus zusammenstellt? Es ist wahr, die Zeitungen bringen Auszüge daraus, aber das Wichtigste unterschlagen die bürgerlichen, das muß man in den sozialdemokratischen suchen, denen sich allenfalls noch ein paar demokratische als getreue Berichterstatter zugesellen. So z. B. wird man in der bürgerlichen Presse vergebens die wichtige Angabe suchen, daß der Arbeiterschutz zwar die Zahl der in Fabriken beschäftigten Frauen und Kinder stetig vermindert, dafür aber diese massenhaft in die Hausindustrie drängt, wo sie weit ärger ausgenützt werden. Es ist dies eine ganz besonders

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/421>, abgerufen am 24.07.2024.