Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sind wir Sozialbemokrateii?

Wie die Dinge heute liegen, bilden die sozialdemokratische Presse, die
so zialdemokratischen Versammlungen und die sozialdemokratischen Reichstagsrede"
die wichtigste Informationsquelle für die Lage des vierten Standes, der un¬
gefähr die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmacht. Als ständige Infor¬
mationsquelle übt die Sozialdemokratie eine notwendige Funktion, in der sie
vorläufig von keiner Behörde, von keiner Partei und von keiner Körperschaft
ersetzt werden kann, und wenn man uns deswegen, weil wir diese Informations¬
quelle gewissenhaft und ständig benutzen, nachsagt, wir liebäugelten mit der
Sozialdemokratie, so ist das so sinnlos, wie wenn man dem Naturforscher
nachsagte, er liebäugle mit dem Thermometer oder Hygrometer oder mit dem
Mikroskop oder Spektroskop. Es ist richtig, daß die Sozialdemokraten von
der heutigen Gesellschaft ein einseitiges, daher falsches Bild entwerfen,
aber das Bild, das die bürgerliche Presse davou giebt, ist mindestens ebenso
einseitig und falsch, sodaß man beide Klassen von Berichterstattern benutzen
muß, um eine durch die andre zu ergänzen. Und über das, was man bei den
Sozialdemokraten zu suchen hat, über Thatsachen, die die Lage des vierten
Standes betreffen, berichten sie im ganzen zuverlässig. Mehr als anderswo
bestätigen hier die Ausnahmen die Regel. Denn da man den sozialdemokra¬
tischen Blättern und Rednern höllisch auf die Finger sieht, und jede unwahre,
ja schon eine ungenaue oder übertreibende Angabe der Gefahr des Gefängnisses
aussetzt, so kann man den Angaben, die keine gerichtliche Verfolgung nach sich
ziehen -- und die machen doch die ungeheure Mehrzahl aus --, unbedenklich
Glauben schenken.

Die Zurüstung, die den Bewohnern der obern sozialen Stockwerke den
Anblick des untersten, die obern tragenden verhüllt und jede Kenntnis seines
Zustandes unmöglich macht, haben wir bei andern Gelegenheiten ausführlich
beschrieben. Sie ist etwas ganz neues, in frühern Zeiten niemals dagewesenes
und gedeiht zu solcher Vollendung, daß das Wort Disrnelis, die eine Hälfte
des Volkes wisse nicht, wie die andre lebt, das, als es gesprochen wurde, für
Deutschland noch gar nicht galt, heute bei uns schon in höherm Grade gilt,
als es jemals in England gegolten hat. Diese Zurttstuug besteht in der
strengen Absperrung der Fabriken, Gruben und andern großen Arbeitsstätten
von der Außenwelt, in der strengen Scheidung der Honoratiorenwohnungen
von den Proletarierwohnungen, in der Art des Reifens der Vornehmen, in
der Praxis der Polizei, alles sichtbare Elend von der Öffentlichkeit, wenigstens
von den Straßsn und Plätzen auszuschließen, auf denen sich die vornehme
Welt bewegt, in der mit bewunderungswürdiger Umsicht und Folgerichtigkeit
auf diesen Zweck hinwirkenden bürgerlichen Presse, und im Wesen der Büreau-
krcitie, die heute unumschränkter herrscht als in irgend einer frühern Zeit.
Nur in Beziehung auf die letzten beiden Punkte wollen wir das schon öfter
gesagte heute noch ein klein wenig ergänzen. Vor zehn Jahren hat Professor


Sind wir Sozialbemokrateii?

Wie die Dinge heute liegen, bilden die sozialdemokratische Presse, die
so zialdemokratischen Versammlungen und die sozialdemokratischen Reichstagsrede»
die wichtigste Informationsquelle für die Lage des vierten Standes, der un¬
gefähr die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmacht. Als ständige Infor¬
mationsquelle übt die Sozialdemokratie eine notwendige Funktion, in der sie
vorläufig von keiner Behörde, von keiner Partei und von keiner Körperschaft
ersetzt werden kann, und wenn man uns deswegen, weil wir diese Informations¬
quelle gewissenhaft und ständig benutzen, nachsagt, wir liebäugelten mit der
Sozialdemokratie, so ist das so sinnlos, wie wenn man dem Naturforscher
nachsagte, er liebäugle mit dem Thermometer oder Hygrometer oder mit dem
Mikroskop oder Spektroskop. Es ist richtig, daß die Sozialdemokraten von
der heutigen Gesellschaft ein einseitiges, daher falsches Bild entwerfen,
aber das Bild, das die bürgerliche Presse davou giebt, ist mindestens ebenso
einseitig und falsch, sodaß man beide Klassen von Berichterstattern benutzen
muß, um eine durch die andre zu ergänzen. Und über das, was man bei den
Sozialdemokraten zu suchen hat, über Thatsachen, die die Lage des vierten
Standes betreffen, berichten sie im ganzen zuverlässig. Mehr als anderswo
bestätigen hier die Ausnahmen die Regel. Denn da man den sozialdemokra¬
tischen Blättern und Rednern höllisch auf die Finger sieht, und jede unwahre,
ja schon eine ungenaue oder übertreibende Angabe der Gefahr des Gefängnisses
aussetzt, so kann man den Angaben, die keine gerichtliche Verfolgung nach sich
ziehen — und die machen doch die ungeheure Mehrzahl aus —, unbedenklich
Glauben schenken.

Die Zurüstung, die den Bewohnern der obern sozialen Stockwerke den
Anblick des untersten, die obern tragenden verhüllt und jede Kenntnis seines
Zustandes unmöglich macht, haben wir bei andern Gelegenheiten ausführlich
beschrieben. Sie ist etwas ganz neues, in frühern Zeiten niemals dagewesenes
und gedeiht zu solcher Vollendung, daß das Wort Disrnelis, die eine Hälfte
des Volkes wisse nicht, wie die andre lebt, das, als es gesprochen wurde, für
Deutschland noch gar nicht galt, heute bei uns schon in höherm Grade gilt,
als es jemals in England gegolten hat. Diese Zurttstuug besteht in der
strengen Absperrung der Fabriken, Gruben und andern großen Arbeitsstätten
von der Außenwelt, in der strengen Scheidung der Honoratiorenwohnungen
von den Proletarierwohnungen, in der Art des Reifens der Vornehmen, in
der Praxis der Polizei, alles sichtbare Elend von der Öffentlichkeit, wenigstens
von den Straßsn und Plätzen auszuschließen, auf denen sich die vornehme
Welt bewegt, in der mit bewunderungswürdiger Umsicht und Folgerichtigkeit
auf diesen Zweck hinwirkenden bürgerlichen Presse, und im Wesen der Büreau-
krcitie, die heute unumschränkter herrscht als in irgend einer frühern Zeit.
Nur in Beziehung auf die letzten beiden Punkte wollen wir das schon öfter
gesagte heute noch ein klein wenig ergänzen. Vor zehn Jahren hat Professor


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221391"/>
          <fw type="header" place="top"> Sind wir Sozialbemokrateii?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1397"> Wie die Dinge heute liegen, bilden die sozialdemokratische Presse, die<lb/>
so zialdemokratischen Versammlungen und die sozialdemokratischen Reichstagsrede»<lb/>
die wichtigste Informationsquelle für die Lage des vierten Standes, der un¬<lb/>
gefähr die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmacht. Als ständige Infor¬<lb/>
mationsquelle übt die Sozialdemokratie eine notwendige Funktion, in der sie<lb/>
vorläufig von keiner Behörde, von keiner Partei und von keiner Körperschaft<lb/>
ersetzt werden kann, und wenn man uns deswegen, weil wir diese Informations¬<lb/>
quelle gewissenhaft und ständig benutzen, nachsagt, wir liebäugelten mit der<lb/>
Sozialdemokratie, so ist das so sinnlos, wie wenn man dem Naturforscher<lb/>
nachsagte, er liebäugle mit dem Thermometer oder Hygrometer oder mit dem<lb/>
Mikroskop oder Spektroskop. Es ist richtig, daß die Sozialdemokraten von<lb/>
der heutigen Gesellschaft ein einseitiges, daher falsches Bild entwerfen,<lb/>
aber das Bild, das die bürgerliche Presse davou giebt, ist mindestens ebenso<lb/>
einseitig und falsch, sodaß man beide Klassen von Berichterstattern benutzen<lb/>
muß, um eine durch die andre zu ergänzen. Und über das, was man bei den<lb/>
Sozialdemokraten zu suchen hat, über Thatsachen, die die Lage des vierten<lb/>
Standes betreffen, berichten sie im ganzen zuverlässig. Mehr als anderswo<lb/>
bestätigen hier die Ausnahmen die Regel. Denn da man den sozialdemokra¬<lb/>
tischen Blättern und Rednern höllisch auf die Finger sieht, und jede unwahre,<lb/>
ja schon eine ungenaue oder übertreibende Angabe der Gefahr des Gefängnisses<lb/>
aussetzt, so kann man den Angaben, die keine gerichtliche Verfolgung nach sich<lb/>
ziehen &#x2014; und die machen doch die ungeheure Mehrzahl aus &#x2014;, unbedenklich<lb/>
Glauben schenken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1398" next="#ID_1399"> Die Zurüstung, die den Bewohnern der obern sozialen Stockwerke den<lb/>
Anblick des untersten, die obern tragenden verhüllt und jede Kenntnis seines<lb/>
Zustandes unmöglich macht, haben wir bei andern Gelegenheiten ausführlich<lb/>
beschrieben. Sie ist etwas ganz neues, in frühern Zeiten niemals dagewesenes<lb/>
und gedeiht zu solcher Vollendung, daß das Wort Disrnelis, die eine Hälfte<lb/>
des Volkes wisse nicht, wie die andre lebt, das, als es gesprochen wurde, für<lb/>
Deutschland noch gar nicht galt, heute bei uns schon in höherm Grade gilt,<lb/>
als es jemals in England gegolten hat. Diese Zurttstuug besteht in der<lb/>
strengen Absperrung der Fabriken, Gruben und andern großen Arbeitsstätten<lb/>
von der Außenwelt, in der strengen Scheidung der Honoratiorenwohnungen<lb/>
von den Proletarierwohnungen, in der Art des Reifens der Vornehmen, in<lb/>
der Praxis der Polizei, alles sichtbare Elend von der Öffentlichkeit, wenigstens<lb/>
von den Straßsn und Plätzen auszuschließen, auf denen sich die vornehme<lb/>
Welt bewegt, in der mit bewunderungswürdiger Umsicht und Folgerichtigkeit<lb/>
auf diesen Zweck hinwirkenden bürgerlichen Presse, und im Wesen der Büreau-<lb/>
krcitie, die heute unumschränkter herrscht als in irgend einer frühern Zeit.<lb/>
Nur in Beziehung auf die letzten beiden Punkte wollen wir das schon öfter<lb/>
gesagte heute noch ein klein wenig ergänzen. Vor zehn Jahren hat Professor</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0417] Sind wir Sozialbemokrateii? Wie die Dinge heute liegen, bilden die sozialdemokratische Presse, die so zialdemokratischen Versammlungen und die sozialdemokratischen Reichstagsrede» die wichtigste Informationsquelle für die Lage des vierten Standes, der un¬ gefähr die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmacht. Als ständige Infor¬ mationsquelle übt die Sozialdemokratie eine notwendige Funktion, in der sie vorläufig von keiner Behörde, von keiner Partei und von keiner Körperschaft ersetzt werden kann, und wenn man uns deswegen, weil wir diese Informations¬ quelle gewissenhaft und ständig benutzen, nachsagt, wir liebäugelten mit der Sozialdemokratie, so ist das so sinnlos, wie wenn man dem Naturforscher nachsagte, er liebäugle mit dem Thermometer oder Hygrometer oder mit dem Mikroskop oder Spektroskop. Es ist richtig, daß die Sozialdemokraten von der heutigen Gesellschaft ein einseitiges, daher falsches Bild entwerfen, aber das Bild, das die bürgerliche Presse davou giebt, ist mindestens ebenso einseitig und falsch, sodaß man beide Klassen von Berichterstattern benutzen muß, um eine durch die andre zu ergänzen. Und über das, was man bei den Sozialdemokraten zu suchen hat, über Thatsachen, die die Lage des vierten Standes betreffen, berichten sie im ganzen zuverlässig. Mehr als anderswo bestätigen hier die Ausnahmen die Regel. Denn da man den sozialdemokra¬ tischen Blättern und Rednern höllisch auf die Finger sieht, und jede unwahre, ja schon eine ungenaue oder übertreibende Angabe der Gefahr des Gefängnisses aussetzt, so kann man den Angaben, die keine gerichtliche Verfolgung nach sich ziehen — und die machen doch die ungeheure Mehrzahl aus —, unbedenklich Glauben schenken. Die Zurüstung, die den Bewohnern der obern sozialen Stockwerke den Anblick des untersten, die obern tragenden verhüllt und jede Kenntnis seines Zustandes unmöglich macht, haben wir bei andern Gelegenheiten ausführlich beschrieben. Sie ist etwas ganz neues, in frühern Zeiten niemals dagewesenes und gedeiht zu solcher Vollendung, daß das Wort Disrnelis, die eine Hälfte des Volkes wisse nicht, wie die andre lebt, das, als es gesprochen wurde, für Deutschland noch gar nicht galt, heute bei uns schon in höherm Grade gilt, als es jemals in England gegolten hat. Diese Zurttstuug besteht in der strengen Absperrung der Fabriken, Gruben und andern großen Arbeitsstätten von der Außenwelt, in der strengen Scheidung der Honoratiorenwohnungen von den Proletarierwohnungen, in der Art des Reifens der Vornehmen, in der Praxis der Polizei, alles sichtbare Elend von der Öffentlichkeit, wenigstens von den Straßsn und Plätzen auszuschließen, auf denen sich die vornehme Welt bewegt, in der mit bewunderungswürdiger Umsicht und Folgerichtigkeit auf diesen Zweck hinwirkenden bürgerlichen Presse, und im Wesen der Büreau- krcitie, die heute unumschränkter herrscht als in irgend einer frühern Zeit. Nur in Beziehung auf die letzten beiden Punkte wollen wir das schon öfter gesagte heute noch ein klein wenig ergänzen. Vor zehn Jahren hat Professor

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/417
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/417>, abgerufen am 24.07.2024.