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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sind wir Sozialdemokraten?

-i-vis - - wahrhaft liberal zu sein), daß es aber schlechthin sinnlos und lücher-
lich ist, uns des Sozialismus zu beschuldigen, von dem wir weiter entfernt
sind, als irgend jemand im deutschen Reiche. Trotzdem braucht man sich über
diese unsinnige Verleumdung nicht zu wundern. Wir sind den Herren un¬
bequem. Wir legen die unbefriedigender Zustande unsers Baterlands, darunter
anch die Arbeiterzustände ungeschminkt dar. Aus der Anerkennung der That¬
sachen könnten für die Großunternehmer lustige und gefährliche Folgerungen
gezogen werden, deshalb muß das Publikum abgehalten werden, wahrheits¬
getreue Berichte über solche Thatsachen zu lesen. Das geschieht am besten,
wenn man die Blätter, in denen solche Berichte stehen, als sozialdemokratisch
in Verruf bringt.

Aber, wird man uns sagen, auch die unbegründetste Verleumdung muß
doch wenigstens eine Handhabe finden, an die sie anknüpfen kann, eine solche
müßt ihr doch dargeboten haben! An sich ist das heutzutage durchaus nicht
nötig: heute braucht ein Geistlicher uur die Bergpredigt auszulegen, so ist er
schon Sozialdemokrat oder noch etwas schlimmeres; nächstens werden wir ja
den Professor Delbrück, dessen preußisch-patriotische Gesinnung weltbekannt ist,
wenn auch uoch nicht als Sozialdemokraten, so doch als einen Helfershelfer
und Fürsprecher der Sozialdemokratie vor der Kammer Vrausewetters stehen
sehen; in dieser Beziehung ist heute schlechthin alles möglich, auch das aller-
ungereimteste. Aber wir gestehen gern zu, daß wir der Verleumdung Hand¬
haben dargeboten haben. Wir stimmen nicht ein in das Geschrei gegen die
Sozialdemokratie und halten deren Bekämpfung keineswegs für die dringendste
Aufgabe des Staats, sondern für eine gefährliche Kur auf Symptome. Wir
finden das Übel, wie gesagt, in der Spannung zwischen Bevölkerung und
Voden, und wir sehen in der Sozialdemokratie eins der Symptome des Übels,
dessen gewaltsame Unterdrückung die Krankheit tötlich machen müßte. Wie das
Übel wirkt, haben wir oft beschrieben. Wiederholen wir es kurz. Die Aus¬
schließung der Mehrzahl der Bevölkerung vom Grundbesitz erzeugt das mobile
Kapital, das der Hauptsache nach ein Mitbesitzrecht an den Grund und Boden
ist. Diese Überschuldung drückt den ländlichen Grundbesitz, und gleichzeitig
zwingt ihn das hohe Anlagekapital (da der Boden mit wachsender Volkszahl
immer teurer werden muß) nach höhern Preisen für seine Produkte zu streben,
die das übrige Volk desto weniger zu zahlen vermag, je mehr darin die Masse
der Besitzlosen vorherrscht. Die Preisschwankungen der ländlichen Produkte
wirken seitdem so, daß jede Erhöhung die Industrie, jede Ermäßigung (dnrch
billige Einfuhr) den Grundbesitz in Lebensgefahr bringt. Wenn sich, wie
u. a. die jüngst im sächsischen Landtage verlesene Thronrede hervorhob, die
Lage der Industrie in dem letzten Jahre ein wenig gebessert hat, so ist das
den Handelsverträgen und der Billigkeit der Lebensmittel zu danken, den zwei
Umstände", über die sich die Landwirte -- von ihrem Standpunkte aus mit


Sind wir Sozialdemokraten?

-i-vis - - wahrhaft liberal zu sein), daß es aber schlechthin sinnlos und lücher-
lich ist, uns des Sozialismus zu beschuldigen, von dem wir weiter entfernt
sind, als irgend jemand im deutschen Reiche. Trotzdem braucht man sich über
diese unsinnige Verleumdung nicht zu wundern. Wir sind den Herren un¬
bequem. Wir legen die unbefriedigender Zustande unsers Baterlands, darunter
anch die Arbeiterzustände ungeschminkt dar. Aus der Anerkennung der That¬
sachen könnten für die Großunternehmer lustige und gefährliche Folgerungen
gezogen werden, deshalb muß das Publikum abgehalten werden, wahrheits¬
getreue Berichte über solche Thatsachen zu lesen. Das geschieht am besten,
wenn man die Blätter, in denen solche Berichte stehen, als sozialdemokratisch
in Verruf bringt.

Aber, wird man uns sagen, auch die unbegründetste Verleumdung muß
doch wenigstens eine Handhabe finden, an die sie anknüpfen kann, eine solche
müßt ihr doch dargeboten haben! An sich ist das heutzutage durchaus nicht
nötig: heute braucht ein Geistlicher uur die Bergpredigt auszulegen, so ist er
schon Sozialdemokrat oder noch etwas schlimmeres; nächstens werden wir ja
den Professor Delbrück, dessen preußisch-patriotische Gesinnung weltbekannt ist,
wenn auch uoch nicht als Sozialdemokraten, so doch als einen Helfershelfer
und Fürsprecher der Sozialdemokratie vor der Kammer Vrausewetters stehen
sehen; in dieser Beziehung ist heute schlechthin alles möglich, auch das aller-
ungereimteste. Aber wir gestehen gern zu, daß wir der Verleumdung Hand¬
haben dargeboten haben. Wir stimmen nicht ein in das Geschrei gegen die
Sozialdemokratie und halten deren Bekämpfung keineswegs für die dringendste
Aufgabe des Staats, sondern für eine gefährliche Kur auf Symptome. Wir
finden das Übel, wie gesagt, in der Spannung zwischen Bevölkerung und
Voden, und wir sehen in der Sozialdemokratie eins der Symptome des Übels,
dessen gewaltsame Unterdrückung die Krankheit tötlich machen müßte. Wie das
Übel wirkt, haben wir oft beschrieben. Wiederholen wir es kurz. Die Aus¬
schließung der Mehrzahl der Bevölkerung vom Grundbesitz erzeugt das mobile
Kapital, das der Hauptsache nach ein Mitbesitzrecht an den Grund und Boden
ist. Diese Überschuldung drückt den ländlichen Grundbesitz, und gleichzeitig
zwingt ihn das hohe Anlagekapital (da der Boden mit wachsender Volkszahl
immer teurer werden muß) nach höhern Preisen für seine Produkte zu streben,
die das übrige Volk desto weniger zu zahlen vermag, je mehr darin die Masse
der Besitzlosen vorherrscht. Die Preisschwankungen der ländlichen Produkte
wirken seitdem so, daß jede Erhöhung die Industrie, jede Ermäßigung (dnrch
billige Einfuhr) den Grundbesitz in Lebensgefahr bringt. Wenn sich, wie
u. a. die jüngst im sächsischen Landtage verlesene Thronrede hervorhob, die
Lage der Industrie in dem letzten Jahre ein wenig gebessert hat, so ist das
den Handelsverträgen und der Billigkeit der Lebensmittel zu danken, den zwei
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[0415] Sind wir Sozialdemokraten? -i-vis - - wahrhaft liberal zu sein), daß es aber schlechthin sinnlos und lücher- lich ist, uns des Sozialismus zu beschuldigen, von dem wir weiter entfernt sind, als irgend jemand im deutschen Reiche. Trotzdem braucht man sich über diese unsinnige Verleumdung nicht zu wundern. Wir sind den Herren un¬ bequem. Wir legen die unbefriedigender Zustande unsers Baterlands, darunter anch die Arbeiterzustände ungeschminkt dar. Aus der Anerkennung der That¬ sachen könnten für die Großunternehmer lustige und gefährliche Folgerungen gezogen werden, deshalb muß das Publikum abgehalten werden, wahrheits¬ getreue Berichte über solche Thatsachen zu lesen. Das geschieht am besten, wenn man die Blätter, in denen solche Berichte stehen, als sozialdemokratisch in Verruf bringt. Aber, wird man uns sagen, auch die unbegründetste Verleumdung muß doch wenigstens eine Handhabe finden, an die sie anknüpfen kann, eine solche müßt ihr doch dargeboten haben! An sich ist das heutzutage durchaus nicht nötig: heute braucht ein Geistlicher uur die Bergpredigt auszulegen, so ist er schon Sozialdemokrat oder noch etwas schlimmeres; nächstens werden wir ja den Professor Delbrück, dessen preußisch-patriotische Gesinnung weltbekannt ist, wenn auch uoch nicht als Sozialdemokraten, so doch als einen Helfershelfer und Fürsprecher der Sozialdemokratie vor der Kammer Vrausewetters stehen sehen; in dieser Beziehung ist heute schlechthin alles möglich, auch das aller- ungereimteste. Aber wir gestehen gern zu, daß wir der Verleumdung Hand¬ haben dargeboten haben. Wir stimmen nicht ein in das Geschrei gegen die Sozialdemokratie und halten deren Bekämpfung keineswegs für die dringendste Aufgabe des Staats, sondern für eine gefährliche Kur auf Symptome. Wir finden das Übel, wie gesagt, in der Spannung zwischen Bevölkerung und Voden, und wir sehen in der Sozialdemokratie eins der Symptome des Übels, dessen gewaltsame Unterdrückung die Krankheit tötlich machen müßte. Wie das Übel wirkt, haben wir oft beschrieben. Wiederholen wir es kurz. Die Aus¬ schließung der Mehrzahl der Bevölkerung vom Grundbesitz erzeugt das mobile Kapital, das der Hauptsache nach ein Mitbesitzrecht an den Grund und Boden ist. Diese Überschuldung drückt den ländlichen Grundbesitz, und gleichzeitig zwingt ihn das hohe Anlagekapital (da der Boden mit wachsender Volkszahl immer teurer werden muß) nach höhern Preisen für seine Produkte zu streben, die das übrige Volk desto weniger zu zahlen vermag, je mehr darin die Masse der Besitzlosen vorherrscht. Die Preisschwankungen der ländlichen Produkte wirken seitdem so, daß jede Erhöhung die Industrie, jede Ermäßigung (dnrch billige Einfuhr) den Grundbesitz in Lebensgefahr bringt. Wenn sich, wie u. a. die jüngst im sächsischen Landtage verlesene Thronrede hervorhob, die Lage der Industrie in dem letzten Jahre ein wenig gebessert hat, so ist das den Handelsverträgen und der Billigkeit der Lebensmittel zu danken, den zwei Umstände», über die sich die Landwirte — von ihrem Standpunkte aus mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/415>, abgerufen am 04.07.2024.