Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Bedeutung der Wiener Ereignisse. Die reichsdeutsche Zentrumspartei, in der es Das Aufbäumen des Antisemitismus in Wien hat verschiednen Blättern zu Maßgebliches und Unmaßgebliches Bedeutung der Wiener Ereignisse. Die reichsdeutsche Zentrumspartei, in der es Das Aufbäumen des Antisemitismus in Wien hat verschiednen Blättern zu <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0404" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221378"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1361" prev="#ID_1360"> Bedeutung der Wiener Ereignisse. Die reichsdeutsche Zentrumspartei, in der es<lb/> viele grundehrliche Männer giebt, kann sich in solche Ausgeschämtheit (dieses aus<lb/> der Mode gekommne Wort bezeichnet die Sache am besten) vorläufig noch nicht<lb/> finden. Eine Zentrumskorrespondenz schilt auf das „Vaterland" und den Grafen<lb/> Hvhenwart, beginnt den Zipfel des Schleiers zu lüften, den die „gute Presse"<lb/> über Badenis galizische Vergangenheit gebreitet hat, und beschuldigt ihn, daß er<lb/> schon zweimal amtlich gelogen habe, indem er die Unterhandlungen abgeleugnet hat,<lb/> die mit Lueger wegen der Bestätigung gepflogen worden sind, und die Konsigni-<lb/> rung des Militärs an dem Abende, wo die Nichtbestätigung veröffentlicht wurde.<lb/> Thatsächlich sind an jenem Abend Offiziere und Soldaten in den Kasernen ge¬<lb/> blieben, und zwar mit scharfen Patronen versehen, was. da niemand den Befehl<lb/> dazu gegeben haben will, eine rührende Sorgfalt der Soldaten für die Sicherheit<lb/> der Monarchie bekundet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1362"> Das Aufbäumen des Antisemitismus in Wien hat verschiednen Blättern zu<lb/> der Bemerkung Anlaß gegeben, daß bei uns im Reiche die antisemitische Bewegung<lb/> ihre Rolle ausgespielt zu haben scheine. Mehrere hervorragende Antisemitenführer<lb/> haben sich in der anständigen Gesellschaft unmöglich gemacht, bei der letzten Ber¬<lb/> liner Stadtverorduetenwahl, wo es sich um vierundvierzig Mandate handelte, ist<lb/> kein Antisemit gewählt worden und uur ein einziger in die Stichwahl gekommen,<lb/> und bei der letzten sächsischen Landtagswohl, wo sich die Konservativen beinahe vor<lb/> ihnen gefürchtet hätten, sind sie gänzlich durchgefnllen. Die deutschsoziale Reform¬<lb/> partei, in der es ja nicht wenig verständige und wohlmeinende Männer giebt, hat<lb/> sich also getäuscht, indem sie meinte, die Antisemitenlosung werde ihren Bestrebungen<lb/> förderlich sein. Hat demnach die konservative Partei von dieser Seite her kaum<lb/> noch etwas zu fürchten, so nehmen dafür die andern beiden Gefahren, die sie mut¬<lb/> willig heraufbeschworen hat, eine immer drohendere Gestalt an. Die Partei kann<lb/> weder die Mittelparteien noch die evangelische Geistlichkeit entbehren. Die eine hat<lb/> sie durch die agrarische Agitation zurückgestoßen, die die Levensbedingungen der In¬<lb/> dustrie bedroht, die andre hat sie tief verletzt durch die maßlose Hetze gegen die<lb/> „sozialistischen" Pcistoren, von denen einige weiter nichts verbrochen haben als<lb/> Untersuchungen über die Zustände der ländlichen Arbeiter. Der pommersche Pfarr-<lb/> vereiu hat, ähnlich wie der schlesische, ohne für die Kundgebungen der Angegriffnen<lb/> eine Verantwortung zu übernehmen, die Anmaßung des Parteivorstandes, den<lb/> Geistlichen Vorschriften über ihre Seelsorgethätigkeit mache» zu wollen, entschieden<lb/> zurückgewiesen. Die konservative Pommersche Neichspost bekennt, daß die Geist¬<lb/> lichkeit von tiefem Mißtrauen gegen die Konservativen erfüllt sei, und zwar<lb/> sei das zuerst geweckt worden durch Äußerungen des Freiherrn von Minnigerode<lb/> in der Debatte über die Gewerbegerichte vor drittehalb Jahren; er habe da ge¬<lb/> sagt, die Arbeiterschutzgesetzgebung sei aus Humanitätsfanatismus hervorgegangen<lb/> und unter großer Apathie des Reichstags durchgequält worden; die Illusionen, die<lb/> man gehegt habe, seien längst verflogen. Endlich hat der deutsch-konservative Verein<lb/> in Elberfeld an Dr. Klasing und Dr. Burkhardt, die westdeutschen Mitglieder des<lb/> Parteiausschusses, ein Schreiben gerichtet, worin die sofortige Einberufung eines<lb/> Parteitages zur Klärung der Lage für unbedingt notwendig erklärt wird; im Lande<lb/> fange mau an, in der konservativen Partei nur uoch eine agrarische Adelspartei zu<lb/> sehen und die Gründung einer selbständigen konservativen Volkspartei in Erwägung<lb/> zu ziehen. Der Reichsbote hat also allen Grund, von einer Krisis der Partei zu<lb/> sprechen. Welches Unglück für die Christlich-Sozialen in diesem Augenblick, daß<lb/> Stöcker - eben Stöcker istl</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0404]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Bedeutung der Wiener Ereignisse. Die reichsdeutsche Zentrumspartei, in der es
viele grundehrliche Männer giebt, kann sich in solche Ausgeschämtheit (dieses aus
der Mode gekommne Wort bezeichnet die Sache am besten) vorläufig noch nicht
finden. Eine Zentrumskorrespondenz schilt auf das „Vaterland" und den Grafen
Hvhenwart, beginnt den Zipfel des Schleiers zu lüften, den die „gute Presse"
über Badenis galizische Vergangenheit gebreitet hat, und beschuldigt ihn, daß er
schon zweimal amtlich gelogen habe, indem er die Unterhandlungen abgeleugnet hat,
die mit Lueger wegen der Bestätigung gepflogen worden sind, und die Konsigni-
rung des Militärs an dem Abende, wo die Nichtbestätigung veröffentlicht wurde.
Thatsächlich sind an jenem Abend Offiziere und Soldaten in den Kasernen ge¬
blieben, und zwar mit scharfen Patronen versehen, was. da niemand den Befehl
dazu gegeben haben will, eine rührende Sorgfalt der Soldaten für die Sicherheit
der Monarchie bekundet.
Das Aufbäumen des Antisemitismus in Wien hat verschiednen Blättern zu
der Bemerkung Anlaß gegeben, daß bei uns im Reiche die antisemitische Bewegung
ihre Rolle ausgespielt zu haben scheine. Mehrere hervorragende Antisemitenführer
haben sich in der anständigen Gesellschaft unmöglich gemacht, bei der letzten Ber¬
liner Stadtverorduetenwahl, wo es sich um vierundvierzig Mandate handelte, ist
kein Antisemit gewählt worden und uur ein einziger in die Stichwahl gekommen,
und bei der letzten sächsischen Landtagswohl, wo sich die Konservativen beinahe vor
ihnen gefürchtet hätten, sind sie gänzlich durchgefnllen. Die deutschsoziale Reform¬
partei, in der es ja nicht wenig verständige und wohlmeinende Männer giebt, hat
sich also getäuscht, indem sie meinte, die Antisemitenlosung werde ihren Bestrebungen
förderlich sein. Hat demnach die konservative Partei von dieser Seite her kaum
noch etwas zu fürchten, so nehmen dafür die andern beiden Gefahren, die sie mut¬
willig heraufbeschworen hat, eine immer drohendere Gestalt an. Die Partei kann
weder die Mittelparteien noch die evangelische Geistlichkeit entbehren. Die eine hat
sie durch die agrarische Agitation zurückgestoßen, die die Levensbedingungen der In¬
dustrie bedroht, die andre hat sie tief verletzt durch die maßlose Hetze gegen die
„sozialistischen" Pcistoren, von denen einige weiter nichts verbrochen haben als
Untersuchungen über die Zustände der ländlichen Arbeiter. Der pommersche Pfarr-
vereiu hat, ähnlich wie der schlesische, ohne für die Kundgebungen der Angegriffnen
eine Verantwortung zu übernehmen, die Anmaßung des Parteivorstandes, den
Geistlichen Vorschriften über ihre Seelsorgethätigkeit mache» zu wollen, entschieden
zurückgewiesen. Die konservative Pommersche Neichspost bekennt, daß die Geist¬
lichkeit von tiefem Mißtrauen gegen die Konservativen erfüllt sei, und zwar
sei das zuerst geweckt worden durch Äußerungen des Freiherrn von Minnigerode
in der Debatte über die Gewerbegerichte vor drittehalb Jahren; er habe da ge¬
sagt, die Arbeiterschutzgesetzgebung sei aus Humanitätsfanatismus hervorgegangen
und unter großer Apathie des Reichstags durchgequält worden; die Illusionen, die
man gehegt habe, seien längst verflogen. Endlich hat der deutsch-konservative Verein
in Elberfeld an Dr. Klasing und Dr. Burkhardt, die westdeutschen Mitglieder des
Parteiausschusses, ein Schreiben gerichtet, worin die sofortige Einberufung eines
Parteitages zur Klärung der Lage für unbedingt notwendig erklärt wird; im Lande
fange mau an, in der konservativen Partei nur uoch eine agrarische Adelspartei zu
sehen und die Gründung einer selbständigen konservativen Volkspartei in Erwägung
zu ziehen. Der Reichsbote hat also allen Grund, von einer Krisis der Partei zu
sprechen. Welches Unglück für die Christlich-Sozialen in diesem Augenblick, daß
Stöcker - eben Stöcker istl
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