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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Beiträge z" einer künftigen Anthologie

die besprochnen Gedichte kaum durchgeblättert, geschweige denn gelesen oder
gar genossen worden sind, es leuchtet aus ihnen so selten ein poetisches Ge¬
sicht hervor, daß man auf den Verdacht geraten könnte, als gäbe es der¬
gleichen Gesichter gar nicht mehr.

Nun zeigt der flüchtigste Blick auf den Berg von Gedichtsammlungen,
der jedes Jahr hoher anwächst, daß zwar die nichtige Nachahmung die Masse
abgiebt, daß es aber bis jetzt noch keineswegs an ursprünglichem Talent und
künstlerischer Selbständigkeit mangelt. Ist es nun die Aufgabe der Kritik,
das Ursprüngliche und Bedeutende von dem nachgeahmten und Nichtigen zu
scheiden, so giebt es dazu verschiedne Wege. Heute wollen wir uns einmal
in die Lage des Herausgebers einer Anthologie versetzen, der verpflichtet wäre,
das Beste von dem Neuen und Neusten in einer Sammlung darzubieten.
Freilich kann ihm auch auf diesem Wege das Schicksal des Mannes bereitet
werden, der


mit gieriger Hemd nach Schätzen gräbt
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!

Der Wunsch, nicht völlig vergeblich eine Reihe von Bänden und Bändchen
durchmustert zu haben, mag unter Umständen dazu verleiten, mittelmäßigen
oder halb ausgereiften Gedichten höhern Wert beizulegen, als ihnen zukommt.
Aber Irrtümer solcher Art werden leicht und bald berichtigt, im ganzen wäre
es sicher ein Gewinn, wenn es gelänge, an die Stelle des allgemeinen Lobes
oder der allgemeinen Geringschätzung neuer Gedichte eine Auswahl der besten
zu setzen und künftigen Sammlern die Pfade etwas zu lichten. Der Teil¬
nahme, die ein bestimmter engrer Kreis den sämtlichen Schöpfungen eines
Dichters zollt, geschieht dadurch kein Eintrag, die wenigen aber, die darnach
angethan sind, weitere Kreise zu gewinnen, werden auch bei dieser Art der
Beurteilung in den Vordergrund treten.

Wenigstens gilt das gleich von dem ersten hier zu nennenden, von Gustav
Falke, aus dessen zierlich ausgestatteten neuen Gedichten Zwischen zwei
Nächten (Stuttgart, Cotta, 1895) es leicht ist, eine Gruppe wahrhaft schöner
Lieder, darunter so leuchtende Perlen wie "Schweigen" (Nun, um mich her
die Schatten steigen), "Vor Tag" (Ich ging durchs frühe Sommerkorn), "Zu
zwein," "Der Alte" (Nun steh ich über Grat und Kluft) hervorzuheben, dessen
ganze Art aber gerade mit diesen schönsten Liedern nicht erschöpfend charak-
terisirt ist. Weder die müde, aber milde Resignation, die in Gedichten wie
"An das Glück," "Müde" und "Ausbeute" Ausdruck findet, noch die satirische
Bitterkeit, die sich in Phantasiebildern wie "Deutschland, Deutschland über alles"
nusspricht, kommen bei der zuerst genannten Auswahl ganz zu ihrem Recht;
ebenso wenig tritt in ihr das eigentümliche Ringen des Dichters, für seine
Reflexionen wie für seine Stimmungen das sinnliche Bild und den sinnlichen
Klang zu finden, deutlich und entscheidend hervor. Nicht immer ist dieses


Beiträge z» einer künftigen Anthologie

die besprochnen Gedichte kaum durchgeblättert, geschweige denn gelesen oder
gar genossen worden sind, es leuchtet aus ihnen so selten ein poetisches Ge¬
sicht hervor, daß man auf den Verdacht geraten könnte, als gäbe es der¬
gleichen Gesichter gar nicht mehr.

Nun zeigt der flüchtigste Blick auf den Berg von Gedichtsammlungen,
der jedes Jahr hoher anwächst, daß zwar die nichtige Nachahmung die Masse
abgiebt, daß es aber bis jetzt noch keineswegs an ursprünglichem Talent und
künstlerischer Selbständigkeit mangelt. Ist es nun die Aufgabe der Kritik,
das Ursprüngliche und Bedeutende von dem nachgeahmten und Nichtigen zu
scheiden, so giebt es dazu verschiedne Wege. Heute wollen wir uns einmal
in die Lage des Herausgebers einer Anthologie versetzen, der verpflichtet wäre,
das Beste von dem Neuen und Neusten in einer Sammlung darzubieten.
Freilich kann ihm auch auf diesem Wege das Schicksal des Mannes bereitet
werden, der


mit gieriger Hemd nach Schätzen gräbt
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!

Der Wunsch, nicht völlig vergeblich eine Reihe von Bänden und Bändchen
durchmustert zu haben, mag unter Umständen dazu verleiten, mittelmäßigen
oder halb ausgereiften Gedichten höhern Wert beizulegen, als ihnen zukommt.
Aber Irrtümer solcher Art werden leicht und bald berichtigt, im ganzen wäre
es sicher ein Gewinn, wenn es gelänge, an die Stelle des allgemeinen Lobes
oder der allgemeinen Geringschätzung neuer Gedichte eine Auswahl der besten
zu setzen und künftigen Sammlern die Pfade etwas zu lichten. Der Teil¬
nahme, die ein bestimmter engrer Kreis den sämtlichen Schöpfungen eines
Dichters zollt, geschieht dadurch kein Eintrag, die wenigen aber, die darnach
angethan sind, weitere Kreise zu gewinnen, werden auch bei dieser Art der
Beurteilung in den Vordergrund treten.

Wenigstens gilt das gleich von dem ersten hier zu nennenden, von Gustav
Falke, aus dessen zierlich ausgestatteten neuen Gedichten Zwischen zwei
Nächten (Stuttgart, Cotta, 1895) es leicht ist, eine Gruppe wahrhaft schöner
Lieder, darunter so leuchtende Perlen wie „Schweigen" (Nun, um mich her
die Schatten steigen), „Vor Tag" (Ich ging durchs frühe Sommerkorn), „Zu
zwein," „Der Alte" (Nun steh ich über Grat und Kluft) hervorzuheben, dessen
ganze Art aber gerade mit diesen schönsten Liedern nicht erschöpfend charak-
terisirt ist. Weder die müde, aber milde Resignation, die in Gedichten wie
„An das Glück," „Müde" und „Ausbeute" Ausdruck findet, noch die satirische
Bitterkeit, die sich in Phantasiebildern wie „Deutschland, Deutschland über alles"
nusspricht, kommen bei der zuerst genannten Auswahl ganz zu ihrem Recht;
ebenso wenig tritt in ihr das eigentümliche Ringen des Dichters, für seine
Reflexionen wie für seine Stimmungen das sinnliche Bild und den sinnlichen
Klang zu finden, deutlich und entscheidend hervor. Nicht immer ist dieses


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[0038] Beiträge z» einer künftigen Anthologie die besprochnen Gedichte kaum durchgeblättert, geschweige denn gelesen oder gar genossen worden sind, es leuchtet aus ihnen so selten ein poetisches Ge¬ sicht hervor, daß man auf den Verdacht geraten könnte, als gäbe es der¬ gleichen Gesichter gar nicht mehr. Nun zeigt der flüchtigste Blick auf den Berg von Gedichtsammlungen, der jedes Jahr hoher anwächst, daß zwar die nichtige Nachahmung die Masse abgiebt, daß es aber bis jetzt noch keineswegs an ursprünglichem Talent und künstlerischer Selbständigkeit mangelt. Ist es nun die Aufgabe der Kritik, das Ursprüngliche und Bedeutende von dem nachgeahmten und Nichtigen zu scheiden, so giebt es dazu verschiedne Wege. Heute wollen wir uns einmal in die Lage des Herausgebers einer Anthologie versetzen, der verpflichtet wäre, das Beste von dem Neuen und Neusten in einer Sammlung darzubieten. Freilich kann ihm auch auf diesem Wege das Schicksal des Mannes bereitet werden, der mit gieriger Hemd nach Schätzen gräbt Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet! Der Wunsch, nicht völlig vergeblich eine Reihe von Bänden und Bändchen durchmustert zu haben, mag unter Umständen dazu verleiten, mittelmäßigen oder halb ausgereiften Gedichten höhern Wert beizulegen, als ihnen zukommt. Aber Irrtümer solcher Art werden leicht und bald berichtigt, im ganzen wäre es sicher ein Gewinn, wenn es gelänge, an die Stelle des allgemeinen Lobes oder der allgemeinen Geringschätzung neuer Gedichte eine Auswahl der besten zu setzen und künftigen Sammlern die Pfade etwas zu lichten. Der Teil¬ nahme, die ein bestimmter engrer Kreis den sämtlichen Schöpfungen eines Dichters zollt, geschieht dadurch kein Eintrag, die wenigen aber, die darnach angethan sind, weitere Kreise zu gewinnen, werden auch bei dieser Art der Beurteilung in den Vordergrund treten. Wenigstens gilt das gleich von dem ersten hier zu nennenden, von Gustav Falke, aus dessen zierlich ausgestatteten neuen Gedichten Zwischen zwei Nächten (Stuttgart, Cotta, 1895) es leicht ist, eine Gruppe wahrhaft schöner Lieder, darunter so leuchtende Perlen wie „Schweigen" (Nun, um mich her die Schatten steigen), „Vor Tag" (Ich ging durchs frühe Sommerkorn), „Zu zwein," „Der Alte" (Nun steh ich über Grat und Kluft) hervorzuheben, dessen ganze Art aber gerade mit diesen schönsten Liedern nicht erschöpfend charak- terisirt ist. Weder die müde, aber milde Resignation, die in Gedichten wie „An das Glück," „Müde" und „Ausbeute" Ausdruck findet, noch die satirische Bitterkeit, die sich in Phantasiebildern wie „Deutschland, Deutschland über alles" nusspricht, kommen bei der zuerst genannten Auswahl ganz zu ihrem Recht; ebenso wenig tritt in ihr das eigentümliche Ringen des Dichters, für seine Reflexionen wie für seine Stimmungen das sinnliche Bild und den sinnlichen Klang zu finden, deutlich und entscheidend hervor. Nicht immer ist dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/38>, abgerufen am 24.07.2024.