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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Reform der Arbeiterversicherung

sprechen, wenn der Betrag der vollen Rente erhöht würde und dafür die Ent¬
schädigung bei geringfügigen Unfällen wegfiele. Eine Rente von bis
10 Prozent, wie sie bei geringfügigen Fingerverletzungen gewährt wird, betrügt
bei einem Arbeitsverdienst von 600 Mark jährlich 30 bis 40 Mark. Eine
solche geringfügige Verletzung beeinträchtigt aber in der Regel die Erwerbs¬
fähigkeit nur wenig und meist nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr. In
einer Reihe von Füllen, bei deren Entscheidung ich als Vorsitzender des Schieds¬
gerichts mitzuwirken gehabt habe, hatten die Arbeitgeber von solchen gering¬
fügigen Verletzungen überhaupt keine Kenntnis, daher bestand auch kein Unter¬
schied in der Höhe des Lohnes im Vergleich mit vollständig gesunden Arbeitern.
In solchen Fällen liegt gar keine Veranlassung zur Gewährung einer Rente
vor, richtiger ist es ohne Zweifel, die frei werdenden Betrage zur Erhöhung
der übrigen Renten zu verwenden. Die volle Rente betrügt gegenwärtig
bei vollständiger Erwerbsunfähigkeit 66 ^/z Prozent. Bei Verlust des linken
Armes werden nach mehrfachen Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes
50 bis 60 Prozent der vollen Rente, also 33^ bis 40 Prozent des Jahres¬
verdienstes, bei einem Arbeitsverdienste von 600 Mark also 200 bis 240 Mark
gewährt. Diese Rentensätze beruhen auf sachverständigen Gutachten. Wenn nun
auch die Nichtigkeit dieser Schätzung nicht bestritten, sondern die Möglichkeit zu¬
gegeben werden soll, daß ein Arbeiter, dem der rechte Arm erhalten geblieben ist,
bei Berücksichtigung aller Erwerbsmöglichkeiten noch eine Erwerbsfähigkeit von
40 bis 50 Prozent hat, so wird sich im Leben der Fall leider meist so ge¬
stalten, daß ein stark verletzter Arbeiter nur schwer wieder Arbeit findet, wenn
er nicht aus Mitleid von seinem bisherigen Arbeitgeber wieder angenommen
wird, daß er also im wesentlichen auf seine Rente angewiesen ist. Würde nun
die volle Rente von 66^ Prozent ans 80 Prozent erhöht, so würden im vor¬
liegenden Falle statt 200 bis 240 Mark 240 bis 288 Mark gewährt werden.
Es kann wohl nicht bestritten werden, daß die Gewährung dieses Mehrbetrags
an den schwerverletzten Arbeiter dem Sinne der kaiserlichen Votschaft mehr
entsprechen würde, als die Gewährung der an sich geringfügigen Unterstützung
an den leichtverletzten.

Ob es schon jetzt möglich ist, die Bestimmungen in §6 des Unfall-
versicherungsgcsetzes auf alle Todesfälle auszudehnen und hierdurch eine all¬
gemeine Witwen- und Waisenversorgung einzuführen, die manchen nötiger er¬
scheint als die Altersversicherung, ist eine Frage, deren Beantwortung lediglich
von der Höhe der Kosten abhängt. Sollte das Ergebnis der Prüfung der
finanziellen Belastung zur Verneinung der Frage führen, so müßte bis auf
weiteres die Rente an Hinterbliebne ans Betriebsunfälle -- ohne Unterschied
der Betriebe -- beschränkt bleiben.

Verschmölze man die Unfallrente mit der Invalidenrente, so ergäben sich
weitere wesentliche Vereinfachungen von selbst. Die ganze Erhebung der Bei-


Zur Reform der Arbeiterversicherung

sprechen, wenn der Betrag der vollen Rente erhöht würde und dafür die Ent¬
schädigung bei geringfügigen Unfällen wegfiele. Eine Rente von bis
10 Prozent, wie sie bei geringfügigen Fingerverletzungen gewährt wird, betrügt
bei einem Arbeitsverdienst von 600 Mark jährlich 30 bis 40 Mark. Eine
solche geringfügige Verletzung beeinträchtigt aber in der Regel die Erwerbs¬
fähigkeit nur wenig und meist nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr. In
einer Reihe von Füllen, bei deren Entscheidung ich als Vorsitzender des Schieds¬
gerichts mitzuwirken gehabt habe, hatten die Arbeitgeber von solchen gering¬
fügigen Verletzungen überhaupt keine Kenntnis, daher bestand auch kein Unter¬
schied in der Höhe des Lohnes im Vergleich mit vollständig gesunden Arbeitern.
In solchen Fällen liegt gar keine Veranlassung zur Gewährung einer Rente
vor, richtiger ist es ohne Zweifel, die frei werdenden Betrage zur Erhöhung
der übrigen Renten zu verwenden. Die volle Rente betrügt gegenwärtig
bei vollständiger Erwerbsunfähigkeit 66 ^/z Prozent. Bei Verlust des linken
Armes werden nach mehrfachen Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes
50 bis 60 Prozent der vollen Rente, also 33^ bis 40 Prozent des Jahres¬
verdienstes, bei einem Arbeitsverdienste von 600 Mark also 200 bis 240 Mark
gewährt. Diese Rentensätze beruhen auf sachverständigen Gutachten. Wenn nun
auch die Nichtigkeit dieser Schätzung nicht bestritten, sondern die Möglichkeit zu¬
gegeben werden soll, daß ein Arbeiter, dem der rechte Arm erhalten geblieben ist,
bei Berücksichtigung aller Erwerbsmöglichkeiten noch eine Erwerbsfähigkeit von
40 bis 50 Prozent hat, so wird sich im Leben der Fall leider meist so ge¬
stalten, daß ein stark verletzter Arbeiter nur schwer wieder Arbeit findet, wenn
er nicht aus Mitleid von seinem bisherigen Arbeitgeber wieder angenommen
wird, daß er also im wesentlichen auf seine Rente angewiesen ist. Würde nun
die volle Rente von 66^ Prozent ans 80 Prozent erhöht, so würden im vor¬
liegenden Falle statt 200 bis 240 Mark 240 bis 288 Mark gewährt werden.
Es kann wohl nicht bestritten werden, daß die Gewährung dieses Mehrbetrags
an den schwerverletzten Arbeiter dem Sinne der kaiserlichen Votschaft mehr
entsprechen würde, als die Gewährung der an sich geringfügigen Unterstützung
an den leichtverletzten.

Ob es schon jetzt möglich ist, die Bestimmungen in §6 des Unfall-
versicherungsgcsetzes auf alle Todesfälle auszudehnen und hierdurch eine all¬
gemeine Witwen- und Waisenversorgung einzuführen, die manchen nötiger er¬
scheint als die Altersversicherung, ist eine Frage, deren Beantwortung lediglich
von der Höhe der Kosten abhängt. Sollte das Ergebnis der Prüfung der
finanziellen Belastung zur Verneinung der Frage führen, so müßte bis auf
weiteres die Rente an Hinterbliebne ans Betriebsunfälle — ohne Unterschied
der Betriebe — beschränkt bleiben.

Verschmölze man die Unfallrente mit der Invalidenrente, so ergäben sich
weitere wesentliche Vereinfachungen von selbst. Die ganze Erhebung der Bei-


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[0370] Zur Reform der Arbeiterversicherung sprechen, wenn der Betrag der vollen Rente erhöht würde und dafür die Ent¬ schädigung bei geringfügigen Unfällen wegfiele. Eine Rente von bis 10 Prozent, wie sie bei geringfügigen Fingerverletzungen gewährt wird, betrügt bei einem Arbeitsverdienst von 600 Mark jährlich 30 bis 40 Mark. Eine solche geringfügige Verletzung beeinträchtigt aber in der Regel die Erwerbs¬ fähigkeit nur wenig und meist nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr. In einer Reihe von Füllen, bei deren Entscheidung ich als Vorsitzender des Schieds¬ gerichts mitzuwirken gehabt habe, hatten die Arbeitgeber von solchen gering¬ fügigen Verletzungen überhaupt keine Kenntnis, daher bestand auch kein Unter¬ schied in der Höhe des Lohnes im Vergleich mit vollständig gesunden Arbeitern. In solchen Fällen liegt gar keine Veranlassung zur Gewährung einer Rente vor, richtiger ist es ohne Zweifel, die frei werdenden Betrage zur Erhöhung der übrigen Renten zu verwenden. Die volle Rente betrügt gegenwärtig bei vollständiger Erwerbsunfähigkeit 66 ^/z Prozent. Bei Verlust des linken Armes werden nach mehrfachen Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes 50 bis 60 Prozent der vollen Rente, also 33^ bis 40 Prozent des Jahres¬ verdienstes, bei einem Arbeitsverdienste von 600 Mark also 200 bis 240 Mark gewährt. Diese Rentensätze beruhen auf sachverständigen Gutachten. Wenn nun auch die Nichtigkeit dieser Schätzung nicht bestritten, sondern die Möglichkeit zu¬ gegeben werden soll, daß ein Arbeiter, dem der rechte Arm erhalten geblieben ist, bei Berücksichtigung aller Erwerbsmöglichkeiten noch eine Erwerbsfähigkeit von 40 bis 50 Prozent hat, so wird sich im Leben der Fall leider meist so ge¬ stalten, daß ein stark verletzter Arbeiter nur schwer wieder Arbeit findet, wenn er nicht aus Mitleid von seinem bisherigen Arbeitgeber wieder angenommen wird, daß er also im wesentlichen auf seine Rente angewiesen ist. Würde nun die volle Rente von 66^ Prozent ans 80 Prozent erhöht, so würden im vor¬ liegenden Falle statt 200 bis 240 Mark 240 bis 288 Mark gewährt werden. Es kann wohl nicht bestritten werden, daß die Gewährung dieses Mehrbetrags an den schwerverletzten Arbeiter dem Sinne der kaiserlichen Votschaft mehr entsprechen würde, als die Gewährung der an sich geringfügigen Unterstützung an den leichtverletzten. Ob es schon jetzt möglich ist, die Bestimmungen in §6 des Unfall- versicherungsgcsetzes auf alle Todesfälle auszudehnen und hierdurch eine all¬ gemeine Witwen- und Waisenversorgung einzuführen, die manchen nötiger er¬ scheint als die Altersversicherung, ist eine Frage, deren Beantwortung lediglich von der Höhe der Kosten abhängt. Sollte das Ergebnis der Prüfung der finanziellen Belastung zur Verneinung der Frage führen, so müßte bis auf weiteres die Rente an Hinterbliebne ans Betriebsunfälle — ohne Unterschied der Betriebe — beschränkt bleiben. Verschmölze man die Unfallrente mit der Invalidenrente, so ergäben sich weitere wesentliche Vereinfachungen von selbst. Die ganze Erhebung der Bei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/370>, abgerufen am 04.07.2024.