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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sachsen in der Musikgeschichte

Nüssen Grade nachgeholt. Telemanns LoUv^iuin war nicht das erste Unternehmen
dieser Art, aber es wurde der Ausgang einer Bewegung, der unser heutiges
Konzertwesen zum großen Teil sein Dasein verdankt. Nach zwanzig und
etlichen Jahren wirkten in Leipzig drei solche studentische Musikkollegien neben
einander. Die bürgerlichen Kreise folgten; am Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts finden wir über alle bedeutendern Städte Norddeutschlands dieOollvAM
anflog. nach Telemcmns Muster verbreitet, die Fachmusiker mit Dilettanten den
Winter über zu sogenannten "Wöchentlichen Konzerten" vereint. Den napo-
leonischen Kriegen und der Schwierigkeit der Beethovenschen Sinfonie sielen
diese "Wöchentlichen Konzerte" zum Opfer, und damit war eine Periode zu
Ende, die nach einer Richtung den geschichtlichen Höhepunkt der deutschen
Instrumentalmusik enthält. Niemals vorher und niemals nachher ist soviel
Orchester- und Kammermusik geschrieben, gespielt und angehört worden wie
in der Zeit der "Wöchentlichen Konzerte." Ein einziges jeuer OoUeg-in, das
"Große Konzert" der Leipziger Kaufleute, das jetzige Gewandhauskonzert, hat
jene Krisis heil überstanden und giebt noch heute lebendiges Zeugnis von der
organisatorischen Macht, über die das alte musikalische Sachsen verfügte.

Durch Hahdu, Mozart, Beethoven rückte der Schwerpunkt der deutschen
Musik endlich nach Österreich. Der Menge seiner fürstlichen und eidlichen Haus¬
kapellen verdankt es diese Meister. Sachsens musikalische Entwicklung und
Stellung ruhte auf der protestantischen Idee der Laienhilfe. Sie ermöglichte
es, daß das kleine Land im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine so
große Anzahl bedentender Komponisten stellte, daß mit ihm auf allen Gebieten
der Tonkunst gerechnet werden mußte, daß in allen Ländern Sachsen als
Pioniere begrüßt wurden. Unserm Schütz, Bach, Händel und fügen wir
diesen drei Größten hinzu: unserm Johann Adam Hiller -- nicht als Kom¬
ponisten, aber als Organisator, als schöpferischein Kopf in praktischen Fragen --
diesen Namen hat in ihrer Zeit kein zweites deutsches Land ebenbürtige Musiker-
namen gegenüberzustellen. Auch dann noch, als Sachsen in die zweite
Linie zurückgetreten war, gingen von ihm entscheidende Leistungen und An¬
regungen aus. In Leipzig entwickelte sich die Weltherrschaft des deutschen
Musikverlags vor hundertundzwanzig Jahren, hier wurde zu derselben Zeit die
deutsche Presse und Kritik, der der Himmel wieder einmal einen Rochlitz
schenken möge, geschaffen; die große Bewegung zur Wiedererweckung alter
Tonkunst, in der künftige Geschlechter wohl die größte musikalische That des
neunzehnten Jahrhunderts erblicken werden, wurde von Leipzig aus durch
Mendelssohns Eingreifen unterstützt. Noch bis an die Gegenwart heran ist der
Anteil sächsischer Landeskinder an der deutschen Komposition beträchtlich ge¬
wesen.

Auch für die Zukunft der deutschen Musik wird Sachsen wichtig bleiben,
wenn aus seiner Geschichte die Lehre gezogen wird, daß zum Gedeihen der


Sachsen in der Musikgeschichte

Nüssen Grade nachgeholt. Telemanns LoUv^iuin war nicht das erste Unternehmen
dieser Art, aber es wurde der Ausgang einer Bewegung, der unser heutiges
Konzertwesen zum großen Teil sein Dasein verdankt. Nach zwanzig und
etlichen Jahren wirkten in Leipzig drei solche studentische Musikkollegien neben
einander. Die bürgerlichen Kreise folgten; am Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts finden wir über alle bedeutendern Städte Norddeutschlands dieOollvAM
anflog. nach Telemcmns Muster verbreitet, die Fachmusiker mit Dilettanten den
Winter über zu sogenannten „Wöchentlichen Konzerten" vereint. Den napo-
leonischen Kriegen und der Schwierigkeit der Beethovenschen Sinfonie sielen
diese „Wöchentlichen Konzerte" zum Opfer, und damit war eine Periode zu
Ende, die nach einer Richtung den geschichtlichen Höhepunkt der deutschen
Instrumentalmusik enthält. Niemals vorher und niemals nachher ist soviel
Orchester- und Kammermusik geschrieben, gespielt und angehört worden wie
in der Zeit der „Wöchentlichen Konzerte." Ein einziges jeuer OoUeg-in, das
„Große Konzert" der Leipziger Kaufleute, das jetzige Gewandhauskonzert, hat
jene Krisis heil überstanden und giebt noch heute lebendiges Zeugnis von der
organisatorischen Macht, über die das alte musikalische Sachsen verfügte.

Durch Hahdu, Mozart, Beethoven rückte der Schwerpunkt der deutschen
Musik endlich nach Österreich. Der Menge seiner fürstlichen und eidlichen Haus¬
kapellen verdankt es diese Meister. Sachsens musikalische Entwicklung und
Stellung ruhte auf der protestantischen Idee der Laienhilfe. Sie ermöglichte
es, daß das kleine Land im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine so
große Anzahl bedentender Komponisten stellte, daß mit ihm auf allen Gebieten
der Tonkunst gerechnet werden mußte, daß in allen Ländern Sachsen als
Pioniere begrüßt wurden. Unserm Schütz, Bach, Händel und fügen wir
diesen drei Größten hinzu: unserm Johann Adam Hiller — nicht als Kom¬
ponisten, aber als Organisator, als schöpferischein Kopf in praktischen Fragen —
diesen Namen hat in ihrer Zeit kein zweites deutsches Land ebenbürtige Musiker-
namen gegenüberzustellen. Auch dann noch, als Sachsen in die zweite
Linie zurückgetreten war, gingen von ihm entscheidende Leistungen und An¬
regungen aus. In Leipzig entwickelte sich die Weltherrschaft des deutschen
Musikverlags vor hundertundzwanzig Jahren, hier wurde zu derselben Zeit die
deutsche Presse und Kritik, der der Himmel wieder einmal einen Rochlitz
schenken möge, geschaffen; die große Bewegung zur Wiedererweckung alter
Tonkunst, in der künftige Geschlechter wohl die größte musikalische That des
neunzehnten Jahrhunderts erblicken werden, wurde von Leipzig aus durch
Mendelssohns Eingreifen unterstützt. Noch bis an die Gegenwart heran ist der
Anteil sächsischer Landeskinder an der deutschen Komposition beträchtlich ge¬
wesen.

Auch für die Zukunft der deutschen Musik wird Sachsen wichtig bleiben,
wenn aus seiner Geschichte die Lehre gezogen wird, daß zum Gedeihen der


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[0036] Sachsen in der Musikgeschichte Nüssen Grade nachgeholt. Telemanns LoUv^iuin war nicht das erste Unternehmen dieser Art, aber es wurde der Ausgang einer Bewegung, der unser heutiges Konzertwesen zum großen Teil sein Dasein verdankt. Nach zwanzig und etlichen Jahren wirkten in Leipzig drei solche studentische Musikkollegien neben einander. Die bürgerlichen Kreise folgten; am Ende des achtzehnten Jahr¬ hunderts finden wir über alle bedeutendern Städte Norddeutschlands dieOollvAM anflog. nach Telemcmns Muster verbreitet, die Fachmusiker mit Dilettanten den Winter über zu sogenannten „Wöchentlichen Konzerten" vereint. Den napo- leonischen Kriegen und der Schwierigkeit der Beethovenschen Sinfonie sielen diese „Wöchentlichen Konzerte" zum Opfer, und damit war eine Periode zu Ende, die nach einer Richtung den geschichtlichen Höhepunkt der deutschen Instrumentalmusik enthält. Niemals vorher und niemals nachher ist soviel Orchester- und Kammermusik geschrieben, gespielt und angehört worden wie in der Zeit der „Wöchentlichen Konzerte." Ein einziges jeuer OoUeg-in, das „Große Konzert" der Leipziger Kaufleute, das jetzige Gewandhauskonzert, hat jene Krisis heil überstanden und giebt noch heute lebendiges Zeugnis von der organisatorischen Macht, über die das alte musikalische Sachsen verfügte. Durch Hahdu, Mozart, Beethoven rückte der Schwerpunkt der deutschen Musik endlich nach Österreich. Der Menge seiner fürstlichen und eidlichen Haus¬ kapellen verdankt es diese Meister. Sachsens musikalische Entwicklung und Stellung ruhte auf der protestantischen Idee der Laienhilfe. Sie ermöglichte es, daß das kleine Land im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine so große Anzahl bedentender Komponisten stellte, daß mit ihm auf allen Gebieten der Tonkunst gerechnet werden mußte, daß in allen Ländern Sachsen als Pioniere begrüßt wurden. Unserm Schütz, Bach, Händel und fügen wir diesen drei Größten hinzu: unserm Johann Adam Hiller — nicht als Kom¬ ponisten, aber als Organisator, als schöpferischein Kopf in praktischen Fragen — diesen Namen hat in ihrer Zeit kein zweites deutsches Land ebenbürtige Musiker- namen gegenüberzustellen. Auch dann noch, als Sachsen in die zweite Linie zurückgetreten war, gingen von ihm entscheidende Leistungen und An¬ regungen aus. In Leipzig entwickelte sich die Weltherrschaft des deutschen Musikverlags vor hundertundzwanzig Jahren, hier wurde zu derselben Zeit die deutsche Presse und Kritik, der der Himmel wieder einmal einen Rochlitz schenken möge, geschaffen; die große Bewegung zur Wiedererweckung alter Tonkunst, in der künftige Geschlechter wohl die größte musikalische That des neunzehnten Jahrhunderts erblicken werden, wurde von Leipzig aus durch Mendelssohns Eingreifen unterstützt. Noch bis an die Gegenwart heran ist der Anteil sächsischer Landeskinder an der deutschen Komposition beträchtlich ge¬ wesen. Auch für die Zukunft der deutschen Musik wird Sachsen wichtig bleiben, wenn aus seiner Geschichte die Lehre gezogen wird, daß zum Gedeihen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/36>, abgerufen am 24.07.2024.