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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die reine Interessenvertretung

gesunken ist. Der Mangel ein Achtung übt nun eine rückwirkende Kraft aus:
der Reichstag hat an Charakter mehr und mehr verloren, bis ihm schließlich
das Bewußtsein, ein unabhängiger Machtfaktvr neben der Negierung zu sein,
ganz abhanden gekommen ist. Als die Regierung einen Eingriff in die Rechte
des Reichstags versuchte und die Erlaubnis zur Strafverfolgung Liebknechts
verlangte, da war ein Teil der Abgeordneten in der That bereit, das Recht
der Volksvertretung preiszugeben, weil es doch nur einem Sozialdemokraten
zu gute gekommen wäre.

Es verlohnt sich nun nicht, sich bei der schadhaft gewordnen Charakter¬
stärke des Reichstags lange aufzuhalten. Viel wertvoller ist die Untersuchung
der Frage: wie hat sich dieser Zustand gebildet? Zunächst wurde seine Ent¬
wicklung ungemein begünstigt durch den Parteigegensatz, wie ihn die neu ge¬
schaffne Verfassung vorfand. Konservativ und liberal waren damals Worte,
die ihren Begriff noch vollkommen deckten. Die konservativen Parteien setzten
sich damals wesentlich aus den Leuten zusammen, die vor Achtundvierzig allein
Anspruch aufs Mitregiercn gehabt hatten und natürlich noch zu haben glaubten,
die Liberalen aus denen, die sich das Recht zum Mitregieren eben erst er¬
stritten hatten und es eifersüchtig hüteten. Diese Gegensätze Hütten nun frei¬
lich in der großen Bewegung, die zur Gründung des neuen Reichs führte,
untergehen sollen. Aber eine lange geschichtliche Entwicklung endet niemals
da, wo ihr äußerlich der Markstein gesetzt wird. So wirkten die alten Gegen¬
sätze über das Jahr 1870 noch fort, bis in unsre Zeit herein. Das war
natürlich, wie es am Ende auch nur natürlich ist, wenn sich der Kaiser und
seine Regierung bis auf den heutigen Tag innerlich wesensverwandt nur den
Konservativen fühlen. Aber es war nicht wohlgethan, sich das merken zu
lassen, denn es hat bei den andern Parteien das Mißtrauen wachgehalten
gegen jeden Schritt, den die Regierung im Bunde mit den Konservativen that.
So hat sich der Charakter der konservativen Partei als des Schoßkindes der
Regierung, das stets offne Thüren findet, auch wenn es sich einmal ungezogen
benommen hat, und der liberalen Partei als seines nur halb berechtigten
Stiefbruders länger erhalten, als für unser öffentliches Leben heilsam ist.

Und doch wäre dieser Gegensatz wahrscheinlich rasch überwunden worden,
wenn jene drei Machtfaktoren, Kaiser, Bundesrat und Reichstag, von Anfang
an Gelegenheit gehabt hätten, sich so zu entfalten, wie es ihnen der Geist der
Verfassung zugedacht hatte. Da war aber eine vierte Größe, der Reichskanzler,
dem die Verfassung eigentlich wohl nur die Rolle zugewiesen hat, die Be¬
gehungen der drei selbständigen Machtfaktoren zu einander zu vermitteln.
Wenn der Vermittler eine so überlegne Persönlichkeit ist wie Fürst Bismarck,
so wird aus dem vermittelnde" leicht ein beherrschender Einfluß. Zwar wenn
der alte Kaiser seinen Kanzler schalten und walten ließ, so hatte er seine guten
Gründe dazu; bei ihm wars nicht dienende Unterordnung, sondern echt könig-


Die reine Interessenvertretung

gesunken ist. Der Mangel ein Achtung übt nun eine rückwirkende Kraft aus:
der Reichstag hat an Charakter mehr und mehr verloren, bis ihm schließlich
das Bewußtsein, ein unabhängiger Machtfaktvr neben der Negierung zu sein,
ganz abhanden gekommen ist. Als die Regierung einen Eingriff in die Rechte
des Reichstags versuchte und die Erlaubnis zur Strafverfolgung Liebknechts
verlangte, da war ein Teil der Abgeordneten in der That bereit, das Recht
der Volksvertretung preiszugeben, weil es doch nur einem Sozialdemokraten
zu gute gekommen wäre.

Es verlohnt sich nun nicht, sich bei der schadhaft gewordnen Charakter¬
stärke des Reichstags lange aufzuhalten. Viel wertvoller ist die Untersuchung
der Frage: wie hat sich dieser Zustand gebildet? Zunächst wurde seine Ent¬
wicklung ungemein begünstigt durch den Parteigegensatz, wie ihn die neu ge¬
schaffne Verfassung vorfand. Konservativ und liberal waren damals Worte,
die ihren Begriff noch vollkommen deckten. Die konservativen Parteien setzten
sich damals wesentlich aus den Leuten zusammen, die vor Achtundvierzig allein
Anspruch aufs Mitregiercn gehabt hatten und natürlich noch zu haben glaubten,
die Liberalen aus denen, die sich das Recht zum Mitregieren eben erst er¬
stritten hatten und es eifersüchtig hüteten. Diese Gegensätze Hütten nun frei¬
lich in der großen Bewegung, die zur Gründung des neuen Reichs führte,
untergehen sollen. Aber eine lange geschichtliche Entwicklung endet niemals
da, wo ihr äußerlich der Markstein gesetzt wird. So wirkten die alten Gegen¬
sätze über das Jahr 1870 noch fort, bis in unsre Zeit herein. Das war
natürlich, wie es am Ende auch nur natürlich ist, wenn sich der Kaiser und
seine Regierung bis auf den heutigen Tag innerlich wesensverwandt nur den
Konservativen fühlen. Aber es war nicht wohlgethan, sich das merken zu
lassen, denn es hat bei den andern Parteien das Mißtrauen wachgehalten
gegen jeden Schritt, den die Regierung im Bunde mit den Konservativen that.
So hat sich der Charakter der konservativen Partei als des Schoßkindes der
Regierung, das stets offne Thüren findet, auch wenn es sich einmal ungezogen
benommen hat, und der liberalen Partei als seines nur halb berechtigten
Stiefbruders länger erhalten, als für unser öffentliches Leben heilsam ist.

Und doch wäre dieser Gegensatz wahrscheinlich rasch überwunden worden,
wenn jene drei Machtfaktoren, Kaiser, Bundesrat und Reichstag, von Anfang
an Gelegenheit gehabt hätten, sich so zu entfalten, wie es ihnen der Geist der
Verfassung zugedacht hatte. Da war aber eine vierte Größe, der Reichskanzler,
dem die Verfassung eigentlich wohl nur die Rolle zugewiesen hat, die Be¬
gehungen der drei selbständigen Machtfaktoren zu einander zu vermitteln.
Wenn der Vermittler eine so überlegne Persönlichkeit ist wie Fürst Bismarck,
so wird aus dem vermittelnde» leicht ein beherrschender Einfluß. Zwar wenn
der alte Kaiser seinen Kanzler schalten und walten ließ, so hatte er seine guten
Gründe dazu; bei ihm wars nicht dienende Unterordnung, sondern echt könig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/311>, abgerufen am 24.07.2024.