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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die reine Interessenvertretung

n den Grenzboten hat kürzlich jemand für die alten Parteien
eine Lanze gebrochen, denen man so oft nachgesagt hat, sie hätten
sich eigentlich längst überlebt. Jener Freund des Alten meint,
das Parteigetriebe werde zu allen Zeiten dadurch in Bewegung
gehalten werden, daß ein Teil der Staatsbürger nach vorwärts
dränge, während ein andrer Teil am Bestehenden hänge oder gar nach rück¬
wärts strebe. Das ist unzweifelhaft richtig; nur geht es beim besten Willen
nicht mehr an, diese beiden Gegensätze an die Begriffe liberal und konservativ
zu knüpfen. Die konservativen Parteien sind z. B. dem Fortschritt auf sozialem
Gebiet entschieden zugänglicher als der Liberalismus, der in jener Schattirung,
die sich durch das Beiwort "national" kennzeichnet, sogar einen geschwornen
Feind der Sozialreform stellt. Aber die Unzulänglichkeit der alten Parteinamen,
ja sogar der alten Parteiprogramme ist nicht das schlimmste Übel, woran
unser Parteileben krankt. Es leidet an dem viel bedenklichem organischen
Fehler, der Reichsverfassung nicht zu entsprechen. Nun haben wir ja Parteien,
die die Verfassung nnr als einen Notbehelf oder gar als ein leider nicht zu
angehendes Übel betrachten. Bon diesen Parteien ist es natürlich gar nicht
vorauszusetzen, daß sie sich mit dem Geiste der Verfassung in Übereinstimmung
befinden. Aber auch die Parteien, die es lieben, sich selbst als die staats-
erhaltenden zu bezeichnen, bewegen sich nicht auf dem Boden der Verfassung.
Der Parteimann wird diese Behauptung natürlich mitleidig belächeln; wenn
er sich aber mit uns in eine ganz kurze, vergleichende Betrachtung der modernen
Staatswesen einlassen will, so geht ihm doch vielleicht ein Licht auf.

Das Innenleben des modernen Verfasfungsstaats wird wesentlich durch
drei Faktoren bestimmt: das Staatsoberhaupt, das Ministerium und die Volks¬
vertretung. Um nun keine graue Theorie zu treiben, erläutern wir das Ver-
'


Grenzboder IV 39


Die reine Interessenvertretung

n den Grenzboten hat kürzlich jemand für die alten Parteien
eine Lanze gebrochen, denen man so oft nachgesagt hat, sie hätten
sich eigentlich längst überlebt. Jener Freund des Alten meint,
das Parteigetriebe werde zu allen Zeiten dadurch in Bewegung
gehalten werden, daß ein Teil der Staatsbürger nach vorwärts
dränge, während ein andrer Teil am Bestehenden hänge oder gar nach rück¬
wärts strebe. Das ist unzweifelhaft richtig; nur geht es beim besten Willen
nicht mehr an, diese beiden Gegensätze an die Begriffe liberal und konservativ
zu knüpfen. Die konservativen Parteien sind z. B. dem Fortschritt auf sozialem
Gebiet entschieden zugänglicher als der Liberalismus, der in jener Schattirung,
die sich durch das Beiwort „national" kennzeichnet, sogar einen geschwornen
Feind der Sozialreform stellt. Aber die Unzulänglichkeit der alten Parteinamen,
ja sogar der alten Parteiprogramme ist nicht das schlimmste Übel, woran
unser Parteileben krankt. Es leidet an dem viel bedenklichem organischen
Fehler, der Reichsverfassung nicht zu entsprechen. Nun haben wir ja Parteien,
die die Verfassung nnr als einen Notbehelf oder gar als ein leider nicht zu
angehendes Übel betrachten. Bon diesen Parteien ist es natürlich gar nicht
vorauszusetzen, daß sie sich mit dem Geiste der Verfassung in Übereinstimmung
befinden. Aber auch die Parteien, die es lieben, sich selbst als die staats-
erhaltenden zu bezeichnen, bewegen sich nicht auf dem Boden der Verfassung.
Der Parteimann wird diese Behauptung natürlich mitleidig belächeln; wenn
er sich aber mit uns in eine ganz kurze, vergleichende Betrachtung der modernen
Staatswesen einlassen will, so geht ihm doch vielleicht ein Licht auf.

Das Innenleben des modernen Verfasfungsstaats wird wesentlich durch
drei Faktoren bestimmt: das Staatsoberhaupt, das Ministerium und die Volks¬
vertretung. Um nun keine graue Theorie zu treiben, erläutern wir das Ver-
'


Grenzboder IV 39
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[0307] [Abbildung] Die reine Interessenvertretung n den Grenzboten hat kürzlich jemand für die alten Parteien eine Lanze gebrochen, denen man so oft nachgesagt hat, sie hätten sich eigentlich längst überlebt. Jener Freund des Alten meint, das Parteigetriebe werde zu allen Zeiten dadurch in Bewegung gehalten werden, daß ein Teil der Staatsbürger nach vorwärts dränge, während ein andrer Teil am Bestehenden hänge oder gar nach rück¬ wärts strebe. Das ist unzweifelhaft richtig; nur geht es beim besten Willen nicht mehr an, diese beiden Gegensätze an die Begriffe liberal und konservativ zu knüpfen. Die konservativen Parteien sind z. B. dem Fortschritt auf sozialem Gebiet entschieden zugänglicher als der Liberalismus, der in jener Schattirung, die sich durch das Beiwort „national" kennzeichnet, sogar einen geschwornen Feind der Sozialreform stellt. Aber die Unzulänglichkeit der alten Parteinamen, ja sogar der alten Parteiprogramme ist nicht das schlimmste Übel, woran unser Parteileben krankt. Es leidet an dem viel bedenklichem organischen Fehler, der Reichsverfassung nicht zu entsprechen. Nun haben wir ja Parteien, die die Verfassung nnr als einen Notbehelf oder gar als ein leider nicht zu angehendes Übel betrachten. Bon diesen Parteien ist es natürlich gar nicht vorauszusetzen, daß sie sich mit dem Geiste der Verfassung in Übereinstimmung befinden. Aber auch die Parteien, die es lieben, sich selbst als die staats- erhaltenden zu bezeichnen, bewegen sich nicht auf dem Boden der Verfassung. Der Parteimann wird diese Behauptung natürlich mitleidig belächeln; wenn er sich aber mit uns in eine ganz kurze, vergleichende Betrachtung der modernen Staatswesen einlassen will, so geht ihm doch vielleicht ein Licht auf. Das Innenleben des modernen Verfasfungsstaats wird wesentlich durch drei Faktoren bestimmt: das Staatsoberhaupt, das Ministerium und die Volks¬ vertretung. Um nun keine graue Theorie zu treiben, erläutern wir das Ver- ' Grenzboder IV 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/307>, abgerufen am 24.07.2024.