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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Staatshilfe oder Selbsthilfe?

zelne freiwillig zufügt, indem er erwägt, ob die Entbehrungen, die er sich auf¬
erlegen muß, durch das von ihm erstrebte Glück aufgewogen werden. Für den
Proletarier sind die Bedenken des Gebildeten nicht vorhanden, und den Leicht¬
sinn des Proletariers in die Reihen der Gebildeten zu tragen, das ist die
Wirkung der Versprechungen unsrer Weltverbesserer, wenn sie Gehör finden.

Die Aufgabe der Vermögenserhaltnng ist für den städtischen Mittelstand
ebenso schwer wie für den Bauernstand. Wären wirklich andre Verufsarten
soviel lohnender als die Landwirtschaft, so würde doch in der Berufswahl ein
Ausgleich liegen; der Landmann würde seine Söhne einträglichem Berufsarten
zuführen können. Es ist aber bekannt, mit welchen Schwierigkeiten auch jeder
städtische Erwerbszweig zu kämpfen hat. Und ein ähnliches Mißverhältnis
zwischen der Lebensweise und dem Einkommen wie beim Bauernstande finden
wir auch hier. Die Lebensweise wird häufig nicht dem Einkommen angepaßt,
sondern das Festhalten der gewohnten Lebensweise wird als eine Notwendig¬
keit betrachtet, wenn auch das Einkommen dazu nicht reichen sollte. Auf diese
Art wird manches bei der einfachen Lebensweise der Väter erworbne Vermögen
langsam verzehrt.

Wir finden überall, daß das eigne Verhalten des Einzelnen, das bestimmt
ist durch seine ganze Geistesart, durch seine Anschauungen und Gewohnheiten,
unendlich viel wirksamer ist für die Gestaltung seines Schicksals als jede äußere
Hilfe. Wie wir dem Besitzlosen nicht zu den Gütern, die heute für ihn be¬
gehrt werden, zu wirtschaftlicher Selbständigkeit und gutem Auskommen, ver¬
helfen können, ohne daß wir das Verständnis sür den Wert dieser Güter in
ihm wecken und ihm dadurch auch bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit
zu ihrer Erzwingung geben, so ist es anch die eigne Wertschätzung des Be¬
sitzes, das zähe Festhalten daran, das die Lebensgewohnheiten in den Dienst
eines einzigen Wunsches zwingt, was eine Gewähr für die Erhaltung des Be¬
sitzes giebt. Nicht durch hochtönende Phrasen von Menschenliebe wird die Auf¬
gabe der Erhaltung des Mittelstandes gelöst, sondern durch nüchtern verstün¬
digen Sinn, der das eigne Interesse wahrnimmt. Der Instinkt des schlichten
Bauern, der ihn der Versuchung zu einer Änderung seiner Gewohnheiten und
Steigerung seiner Genüsse widerstehen läßt, findet diesen Weg sicherer, als ihn
unsre Weltverbesserer zeigen könnten. Ich will nicht als Lobredner der "guten
alten Zeit" auftreten, denn ich glaube, daß auch unter neuzeitlichen Verhält¬
nissen ohne Zurückschrauben des Zeitrades, was unmöglich ist, jenes Mi߬
verhältnis beseitigt werden kann und -- muß, wenn unserm Volke die zu seinem
Bestehen nötige Kraft nicht verloren gehen soll.

Erhöhung der Lebensansprüche ist nicht unter allen Umständen vom Übel,
sondern kann wohlthätig wirken. Die Zufriedenheit, die sich mit elenden Daseins¬
bedingungen begnügt, ist der Feind des Kulturfortschritts, und vielleicht ist in
einer Erhöhung der Kulturbedürfnisse das einzige wirksame Gegengewicht zu


Staatshilfe oder Selbsthilfe?

zelne freiwillig zufügt, indem er erwägt, ob die Entbehrungen, die er sich auf¬
erlegen muß, durch das von ihm erstrebte Glück aufgewogen werden. Für den
Proletarier sind die Bedenken des Gebildeten nicht vorhanden, und den Leicht¬
sinn des Proletariers in die Reihen der Gebildeten zu tragen, das ist die
Wirkung der Versprechungen unsrer Weltverbesserer, wenn sie Gehör finden.

Die Aufgabe der Vermögenserhaltnng ist für den städtischen Mittelstand
ebenso schwer wie für den Bauernstand. Wären wirklich andre Verufsarten
soviel lohnender als die Landwirtschaft, so würde doch in der Berufswahl ein
Ausgleich liegen; der Landmann würde seine Söhne einträglichem Berufsarten
zuführen können. Es ist aber bekannt, mit welchen Schwierigkeiten auch jeder
städtische Erwerbszweig zu kämpfen hat. Und ein ähnliches Mißverhältnis
zwischen der Lebensweise und dem Einkommen wie beim Bauernstande finden
wir auch hier. Die Lebensweise wird häufig nicht dem Einkommen angepaßt,
sondern das Festhalten der gewohnten Lebensweise wird als eine Notwendig¬
keit betrachtet, wenn auch das Einkommen dazu nicht reichen sollte. Auf diese
Art wird manches bei der einfachen Lebensweise der Väter erworbne Vermögen
langsam verzehrt.

Wir finden überall, daß das eigne Verhalten des Einzelnen, das bestimmt
ist durch seine ganze Geistesart, durch seine Anschauungen und Gewohnheiten,
unendlich viel wirksamer ist für die Gestaltung seines Schicksals als jede äußere
Hilfe. Wie wir dem Besitzlosen nicht zu den Gütern, die heute für ihn be¬
gehrt werden, zu wirtschaftlicher Selbständigkeit und gutem Auskommen, ver¬
helfen können, ohne daß wir das Verständnis sür den Wert dieser Güter in
ihm wecken und ihm dadurch auch bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit
zu ihrer Erzwingung geben, so ist es anch die eigne Wertschätzung des Be¬
sitzes, das zähe Festhalten daran, das die Lebensgewohnheiten in den Dienst
eines einzigen Wunsches zwingt, was eine Gewähr für die Erhaltung des Be¬
sitzes giebt. Nicht durch hochtönende Phrasen von Menschenliebe wird die Auf¬
gabe der Erhaltung des Mittelstandes gelöst, sondern durch nüchtern verstün¬
digen Sinn, der das eigne Interesse wahrnimmt. Der Instinkt des schlichten
Bauern, der ihn der Versuchung zu einer Änderung seiner Gewohnheiten und
Steigerung seiner Genüsse widerstehen läßt, findet diesen Weg sicherer, als ihn
unsre Weltverbesserer zeigen könnten. Ich will nicht als Lobredner der „guten
alten Zeit" auftreten, denn ich glaube, daß auch unter neuzeitlichen Verhält¬
nissen ohne Zurückschrauben des Zeitrades, was unmöglich ist, jenes Mi߬
verhältnis beseitigt werden kann und — muß, wenn unserm Volke die zu seinem
Bestehen nötige Kraft nicht verloren gehen soll.

Erhöhung der Lebensansprüche ist nicht unter allen Umständen vom Übel,
sondern kann wohlthätig wirken. Die Zufriedenheit, die sich mit elenden Daseins¬
bedingungen begnügt, ist der Feind des Kulturfortschritts, und vielleicht ist in
einer Erhöhung der Kulturbedürfnisse das einzige wirksame Gegengewicht zu


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[0271] Staatshilfe oder Selbsthilfe? zelne freiwillig zufügt, indem er erwägt, ob die Entbehrungen, die er sich auf¬ erlegen muß, durch das von ihm erstrebte Glück aufgewogen werden. Für den Proletarier sind die Bedenken des Gebildeten nicht vorhanden, und den Leicht¬ sinn des Proletariers in die Reihen der Gebildeten zu tragen, das ist die Wirkung der Versprechungen unsrer Weltverbesserer, wenn sie Gehör finden. Die Aufgabe der Vermögenserhaltnng ist für den städtischen Mittelstand ebenso schwer wie für den Bauernstand. Wären wirklich andre Verufsarten soviel lohnender als die Landwirtschaft, so würde doch in der Berufswahl ein Ausgleich liegen; der Landmann würde seine Söhne einträglichem Berufsarten zuführen können. Es ist aber bekannt, mit welchen Schwierigkeiten auch jeder städtische Erwerbszweig zu kämpfen hat. Und ein ähnliches Mißverhältnis zwischen der Lebensweise und dem Einkommen wie beim Bauernstande finden wir auch hier. Die Lebensweise wird häufig nicht dem Einkommen angepaßt, sondern das Festhalten der gewohnten Lebensweise wird als eine Notwendig¬ keit betrachtet, wenn auch das Einkommen dazu nicht reichen sollte. Auf diese Art wird manches bei der einfachen Lebensweise der Väter erworbne Vermögen langsam verzehrt. Wir finden überall, daß das eigne Verhalten des Einzelnen, das bestimmt ist durch seine ganze Geistesart, durch seine Anschauungen und Gewohnheiten, unendlich viel wirksamer ist für die Gestaltung seines Schicksals als jede äußere Hilfe. Wie wir dem Besitzlosen nicht zu den Gütern, die heute für ihn be¬ gehrt werden, zu wirtschaftlicher Selbständigkeit und gutem Auskommen, ver¬ helfen können, ohne daß wir das Verständnis sür den Wert dieser Güter in ihm wecken und ihm dadurch auch bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit zu ihrer Erzwingung geben, so ist es anch die eigne Wertschätzung des Be¬ sitzes, das zähe Festhalten daran, das die Lebensgewohnheiten in den Dienst eines einzigen Wunsches zwingt, was eine Gewähr für die Erhaltung des Be¬ sitzes giebt. Nicht durch hochtönende Phrasen von Menschenliebe wird die Auf¬ gabe der Erhaltung des Mittelstandes gelöst, sondern durch nüchtern verstün¬ digen Sinn, der das eigne Interesse wahrnimmt. Der Instinkt des schlichten Bauern, der ihn der Versuchung zu einer Änderung seiner Gewohnheiten und Steigerung seiner Genüsse widerstehen läßt, findet diesen Weg sicherer, als ihn unsre Weltverbesserer zeigen könnten. Ich will nicht als Lobredner der „guten alten Zeit" auftreten, denn ich glaube, daß auch unter neuzeitlichen Verhält¬ nissen ohne Zurückschrauben des Zeitrades, was unmöglich ist, jenes Mi߬ verhältnis beseitigt werden kann und — muß, wenn unserm Volke die zu seinem Bestehen nötige Kraft nicht verloren gehen soll. Erhöhung der Lebensansprüche ist nicht unter allen Umständen vom Übel, sondern kann wohlthätig wirken. Die Zufriedenheit, die sich mit elenden Daseins¬ bedingungen begnügt, ist der Feind des Kulturfortschritts, und vielleicht ist in einer Erhöhung der Kulturbedürfnisse das einzige wirksame Gegengewicht zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/271>, abgerufen am 26.07.2024.