Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Staatshilfe oder Selbsthilfe?

ist in sehr vielen, wo nicht in den meisten Fällen auf menschliche Fehler und
Verkehrtheiten zurückzuführen. In der Darstellung der sogenannten Mittelstands¬
freunde aber erscheint der Bedrängte und Hilfsbedürftige als der Mustermensch.
Jeder Hinweis auf eignes Verschulden ihres Schützlings wird von ihnen als eine
Beleidigung zurückgewiesen. Sie bedürfen dieser Entstellung, weil das Einge¬
ständnis der Wahrheit die ganze Schwäche ihrer Beweisführung aufdecken würde.
Wenn sie eignes Verschulden ihres Schützlings zugebe" wollten, so wäre damit
auch eingestanden, daß fremde Unterstützung unmöglich das richtige Mittel der
Abhilfe sein kann, weil sie die Fehler großzieht, die man beschönigt. Wie der
Sozialist das Schlagwort von dem tugendhaften Proletarier und dem ver¬
brecherischen "Bourgeois" zur Stütze seiner Theorien braucht, so scheidet der
Agrarier die Berufsstände in ehrliche und unehrliche, und wenn seit der Er¬
weiterung der agrarische" Bewegung zu der sogenannten Mittelstandsbewegung
zugegeben wird, daß es außer dem unter allen Umständen biedern Landmann
mich noch in den Städten einige ehrliche Leute giebt, so bleibt ihre Zahl doch
auf eine" e"gern Kreis vo" Beruftreibenden beschränkt, die mau als Hilfs-
truppen der Agrarier zu brauchen glaubt. Die Behauptung, daß nur durch
unlautere Mittel fortzukommen sei, soll zum Beweis für die Ungerechtigkeit der
bestehenden Wirtschaftsordnung dienen.

Nun ist es ja gewiß lobenswert, auf Ehrlichkeit und Beseitigung schäd¬
licher Auswüchse des Geschäftslebens zu dringen. Nur darf man nicht für
das Geschüftsleben ein Ideal von Ehrlichkeit aufstelle", das noch nie verwirk¬
licht worden ist und sich wahrscheinlich auch uicht verwirklichen läßt. Das ist
hierbei ebenso wenig zulässig, wie etwa in der Politik. Es ist eine arge Über¬
treibung, wenn man so thut, als ob Treu und Glauben aus dem Geschüfts¬
leben verschwunden wären, und als ob dies eine Eigentümlichkeit der neu-
zeitlichen Wirtschaftsentwicklung wäre. Das Geschäftsleben ist weder heute so
verdorben, noch ist es jemals so tadellos gewesen, wie es von den Ver¬
tretern gewisser Parteiauschauuugen dargestellt wird. Heute wie früher ist und
war Wahrheitsliebe im strengen Sinne des Worts in unserm Geschüftsleben
in geringerm Maße zu finde", als von jenen verlangt wird. Es hat nie
die "gute alte Zeit" gegeben, wo jeder dem andern unbedingt glauben konnte.
Und andrerseits sind die Fälle, wo schon durch das Geschäftsinteresse Reellität
erfordert wird, viel zahlreicher, als man nach jener Darstellung annehmen sollte.

Der Anschauungsweise unsrer "Mittelstandsretter" entspricht es, den Bauern
als ein Muster der Ehrlichkeit hinzustellen. Aber ich möchte den biedern Land¬
mann sehen, der, wenn er einen Gegenstand, sei es ein Stück Vieh oder seinen
ganzen Landbesitz, zu verkaufen hat, nicht zu -- lügen verstünde, oder, wenn
das besser klingt, der nicht durch Verschweigen des nachteiligen und Herans¬
streichen des Vorteilhafter dem Käufer eine höhere Vorstellung von dem Wert
der angebotnen Ware beizubringen suchte, als der Wahrheit entspricht. Mir


Grenzbowi IV 189Ü W
Staatshilfe oder Selbsthilfe?

ist in sehr vielen, wo nicht in den meisten Fällen auf menschliche Fehler und
Verkehrtheiten zurückzuführen. In der Darstellung der sogenannten Mittelstands¬
freunde aber erscheint der Bedrängte und Hilfsbedürftige als der Mustermensch.
Jeder Hinweis auf eignes Verschulden ihres Schützlings wird von ihnen als eine
Beleidigung zurückgewiesen. Sie bedürfen dieser Entstellung, weil das Einge¬
ständnis der Wahrheit die ganze Schwäche ihrer Beweisführung aufdecken würde.
Wenn sie eignes Verschulden ihres Schützlings zugebe» wollten, so wäre damit
auch eingestanden, daß fremde Unterstützung unmöglich das richtige Mittel der
Abhilfe sein kann, weil sie die Fehler großzieht, die man beschönigt. Wie der
Sozialist das Schlagwort von dem tugendhaften Proletarier und dem ver¬
brecherischen „Bourgeois" zur Stütze seiner Theorien braucht, so scheidet der
Agrarier die Berufsstände in ehrliche und unehrliche, und wenn seit der Er¬
weiterung der agrarische» Bewegung zu der sogenannten Mittelstandsbewegung
zugegeben wird, daß es außer dem unter allen Umständen biedern Landmann
mich noch in den Städten einige ehrliche Leute giebt, so bleibt ihre Zahl doch
auf eine» e»gern Kreis vo» Beruftreibenden beschränkt, die mau als Hilfs-
truppen der Agrarier zu brauchen glaubt. Die Behauptung, daß nur durch
unlautere Mittel fortzukommen sei, soll zum Beweis für die Ungerechtigkeit der
bestehenden Wirtschaftsordnung dienen.

Nun ist es ja gewiß lobenswert, auf Ehrlichkeit und Beseitigung schäd¬
licher Auswüchse des Geschäftslebens zu dringen. Nur darf man nicht für
das Geschüftsleben ein Ideal von Ehrlichkeit aufstelle», das noch nie verwirk¬
licht worden ist und sich wahrscheinlich auch uicht verwirklichen läßt. Das ist
hierbei ebenso wenig zulässig, wie etwa in der Politik. Es ist eine arge Über¬
treibung, wenn man so thut, als ob Treu und Glauben aus dem Geschüfts¬
leben verschwunden wären, und als ob dies eine Eigentümlichkeit der neu-
zeitlichen Wirtschaftsentwicklung wäre. Das Geschäftsleben ist weder heute so
verdorben, noch ist es jemals so tadellos gewesen, wie es von den Ver¬
tretern gewisser Parteiauschauuugen dargestellt wird. Heute wie früher ist und
war Wahrheitsliebe im strengen Sinne des Worts in unserm Geschüftsleben
in geringerm Maße zu finde», als von jenen verlangt wird. Es hat nie
die „gute alte Zeit" gegeben, wo jeder dem andern unbedingt glauben konnte.
Und andrerseits sind die Fälle, wo schon durch das Geschäftsinteresse Reellität
erfordert wird, viel zahlreicher, als man nach jener Darstellung annehmen sollte.

Der Anschauungsweise unsrer „Mittelstandsretter" entspricht es, den Bauern
als ein Muster der Ehrlichkeit hinzustellen. Aber ich möchte den biedern Land¬
mann sehen, der, wenn er einen Gegenstand, sei es ein Stück Vieh oder seinen
ganzen Landbesitz, zu verkaufen hat, nicht zu — lügen verstünde, oder, wenn
das besser klingt, der nicht durch Verschweigen des nachteiligen und Herans¬
streichen des Vorteilhafter dem Käufer eine höhere Vorstellung von dem Wert
der angebotnen Ware beizubringen suchte, als der Wahrheit entspricht. Mir


Grenzbowi IV 189Ü W
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0265" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221241"/>
          <fw type="header" place="top"> Staatshilfe oder Selbsthilfe?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_843" prev="#ID_842"> ist in sehr vielen, wo nicht in den meisten Fällen auf menschliche Fehler und<lb/>
Verkehrtheiten zurückzuführen. In der Darstellung der sogenannten Mittelstands¬<lb/>
freunde aber erscheint der Bedrängte und Hilfsbedürftige als der Mustermensch.<lb/>
Jeder Hinweis auf eignes Verschulden ihres Schützlings wird von ihnen als eine<lb/>
Beleidigung zurückgewiesen. Sie bedürfen dieser Entstellung, weil das Einge¬<lb/>
ständnis der Wahrheit die ganze Schwäche ihrer Beweisführung aufdecken würde.<lb/>
Wenn sie eignes Verschulden ihres Schützlings zugebe» wollten, so wäre damit<lb/>
auch eingestanden, daß fremde Unterstützung unmöglich das richtige Mittel der<lb/>
Abhilfe sein kann, weil sie die Fehler großzieht, die man beschönigt. Wie der<lb/>
Sozialist das Schlagwort von dem tugendhaften Proletarier und dem ver¬<lb/>
brecherischen &#x201E;Bourgeois" zur Stütze seiner Theorien braucht, so scheidet der<lb/>
Agrarier die Berufsstände in ehrliche und unehrliche, und wenn seit der Er¬<lb/>
weiterung der agrarische» Bewegung zu der sogenannten Mittelstandsbewegung<lb/>
zugegeben wird, daß es außer dem unter allen Umständen biedern Landmann<lb/>
mich noch in den Städten einige ehrliche Leute giebt, so bleibt ihre Zahl doch<lb/>
auf eine» e»gern Kreis vo» Beruftreibenden beschränkt, die mau als Hilfs-<lb/>
truppen der Agrarier zu brauchen glaubt. Die Behauptung, daß nur durch<lb/>
unlautere Mittel fortzukommen sei, soll zum Beweis für die Ungerechtigkeit der<lb/>
bestehenden Wirtschaftsordnung dienen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_844"> Nun ist es ja gewiß lobenswert, auf Ehrlichkeit und Beseitigung schäd¬<lb/>
licher Auswüchse des Geschäftslebens zu dringen. Nur darf man nicht für<lb/>
das Geschüftsleben ein Ideal von Ehrlichkeit aufstelle», das noch nie verwirk¬<lb/>
licht worden ist und sich wahrscheinlich auch uicht verwirklichen läßt. Das ist<lb/>
hierbei ebenso wenig zulässig, wie etwa in der Politik. Es ist eine arge Über¬<lb/>
treibung, wenn man so thut, als ob Treu und Glauben aus dem Geschüfts¬<lb/>
leben verschwunden wären, und als ob dies eine Eigentümlichkeit der neu-<lb/>
zeitlichen Wirtschaftsentwicklung wäre. Das Geschäftsleben ist weder heute so<lb/>
verdorben, noch ist es jemals so tadellos gewesen, wie es von den Ver¬<lb/>
tretern gewisser Parteiauschauuugen dargestellt wird. Heute wie früher ist und<lb/>
war Wahrheitsliebe im strengen Sinne des Worts in unserm Geschüftsleben<lb/>
in geringerm Maße zu finde», als von jenen verlangt wird. Es hat nie<lb/>
die &#x201E;gute alte Zeit" gegeben, wo jeder dem andern unbedingt glauben konnte.<lb/>
Und andrerseits sind die Fälle, wo schon durch das Geschäftsinteresse Reellität<lb/>
erfordert wird, viel zahlreicher, als man nach jener Darstellung annehmen sollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_845" next="#ID_846"> Der Anschauungsweise unsrer &#x201E;Mittelstandsretter" entspricht es, den Bauern<lb/>
als ein Muster der Ehrlichkeit hinzustellen. Aber ich möchte den biedern Land¬<lb/>
mann sehen, der, wenn er einen Gegenstand, sei es ein Stück Vieh oder seinen<lb/>
ganzen Landbesitz, zu verkaufen hat, nicht zu &#x2014; lügen verstünde, oder, wenn<lb/>
das besser klingt, der nicht durch Verschweigen des nachteiligen und Herans¬<lb/>
streichen des Vorteilhafter dem Käufer eine höhere Vorstellung von dem Wert<lb/>
der angebotnen Ware beizubringen suchte, als der Wahrheit entspricht. Mir</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbowi IV 189Ü W</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0265] Staatshilfe oder Selbsthilfe? ist in sehr vielen, wo nicht in den meisten Fällen auf menschliche Fehler und Verkehrtheiten zurückzuführen. In der Darstellung der sogenannten Mittelstands¬ freunde aber erscheint der Bedrängte und Hilfsbedürftige als der Mustermensch. Jeder Hinweis auf eignes Verschulden ihres Schützlings wird von ihnen als eine Beleidigung zurückgewiesen. Sie bedürfen dieser Entstellung, weil das Einge¬ ständnis der Wahrheit die ganze Schwäche ihrer Beweisführung aufdecken würde. Wenn sie eignes Verschulden ihres Schützlings zugebe» wollten, so wäre damit auch eingestanden, daß fremde Unterstützung unmöglich das richtige Mittel der Abhilfe sein kann, weil sie die Fehler großzieht, die man beschönigt. Wie der Sozialist das Schlagwort von dem tugendhaften Proletarier und dem ver¬ brecherischen „Bourgeois" zur Stütze seiner Theorien braucht, so scheidet der Agrarier die Berufsstände in ehrliche und unehrliche, und wenn seit der Er¬ weiterung der agrarische» Bewegung zu der sogenannten Mittelstandsbewegung zugegeben wird, daß es außer dem unter allen Umständen biedern Landmann mich noch in den Städten einige ehrliche Leute giebt, so bleibt ihre Zahl doch auf eine» e»gern Kreis vo» Beruftreibenden beschränkt, die mau als Hilfs- truppen der Agrarier zu brauchen glaubt. Die Behauptung, daß nur durch unlautere Mittel fortzukommen sei, soll zum Beweis für die Ungerechtigkeit der bestehenden Wirtschaftsordnung dienen. Nun ist es ja gewiß lobenswert, auf Ehrlichkeit und Beseitigung schäd¬ licher Auswüchse des Geschäftslebens zu dringen. Nur darf man nicht für das Geschüftsleben ein Ideal von Ehrlichkeit aufstelle», das noch nie verwirk¬ licht worden ist und sich wahrscheinlich auch uicht verwirklichen läßt. Das ist hierbei ebenso wenig zulässig, wie etwa in der Politik. Es ist eine arge Über¬ treibung, wenn man so thut, als ob Treu und Glauben aus dem Geschüfts¬ leben verschwunden wären, und als ob dies eine Eigentümlichkeit der neu- zeitlichen Wirtschaftsentwicklung wäre. Das Geschäftsleben ist weder heute so verdorben, noch ist es jemals so tadellos gewesen, wie es von den Ver¬ tretern gewisser Parteiauschauuugen dargestellt wird. Heute wie früher ist und war Wahrheitsliebe im strengen Sinne des Worts in unserm Geschüftsleben in geringerm Maße zu finde», als von jenen verlangt wird. Es hat nie die „gute alte Zeit" gegeben, wo jeder dem andern unbedingt glauben konnte. Und andrerseits sind die Fälle, wo schon durch das Geschäftsinteresse Reellität erfordert wird, viel zahlreicher, als man nach jener Darstellung annehmen sollte. Der Anschauungsweise unsrer „Mittelstandsretter" entspricht es, den Bauern als ein Muster der Ehrlichkeit hinzustellen. Aber ich möchte den biedern Land¬ mann sehen, der, wenn er einen Gegenstand, sei es ein Stück Vieh oder seinen ganzen Landbesitz, zu verkaufen hat, nicht zu — lügen verstünde, oder, wenn das besser klingt, der nicht durch Verschweigen des nachteiligen und Herans¬ streichen des Vorteilhafter dem Käufer eine höhere Vorstellung von dem Wert der angebotnen Ware beizubringen suchte, als der Wahrheit entspricht. Mir Grenzbowi IV 189Ü W

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/265
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/265>, abgerufen am 26.07.2024.