Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.zwungen sieht, viel härter als der Arme die gewohnten Entbehrungen. Der Aber was folgt daraus? Die "Not" des Mittelstandes ist in Wahrheit Und selbst wenn sich diese Bedenken beseitigen ließen, wie will man denn zwungen sieht, viel härter als der Arme die gewohnten Entbehrungen. Der Aber was folgt daraus? Die „Not" des Mittelstandes ist in Wahrheit Und selbst wenn sich diese Bedenken beseitigen ließen, wie will man denn <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0262" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221238"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_833" prev="#ID_832"> zwungen sieht, viel härter als der Arme die gewohnten Entbehrungen. Der<lb/> Schmerz und Unmut des Gebildeten, der für seine Kräfte keine entsprechende<lb/> Verwendung findet, mag wohl größer sein als der des zeitweilig beschäf¬<lb/> tigungslosen Arbeiters.</p><lb/> <p xml:id="ID_834"> Aber was folgt daraus? Die „Not" des Mittelstandes ist in Wahrheit<lb/> die Unmöglichkeit der Befriedigung höherer Lcbensansprüche, solcher Ansprüche,<lb/> die auch der bestgestellte Arbeiter nicht erheben kann und darf, die Unmöglich¬<lb/> keit der Festhaltung von Standcsbegriffen und einer Lebenshaltung, die immer<lb/> nur das Vorrecht einer beschränkten Zahl sein können. Und dies Vorrecht<lb/> wird um so schwerer zu behaupten, je mehr die Zahl derer zunimmt, die<lb/> darnach Verlangen tragen, die es sich zu erlümpfeu und zu bewahren streben.<lb/> Daraus geht denn hervor, daß die mit der Forderung der „Mittelstands¬<lb/> rettung" dem Staat gestellte Aufgabe viel weiter geht und die Kräfte des Staates<lb/> viel mehr übersteigt, als die bisher von ihm verlangte soziale Fürsorge. Aber<lb/> nicht allein, daß zu ihrer Erledigung die Mittel fehlen; sie steht eines zu der<lb/> soziale» Fürsorge im geraden Gegensatz. Denn während diese Fürsorge so<lb/> gedacht war, daß die bessergestellten Vcvölkernngstlasscn dem Arbeiterstande<lb/> emporhelfen sollten, so wird nnn für die Bessergestellten eine Hilfe begehrt,<lb/> die schließlich doch nur auf Kohle» der Arbeiter geleistet werden kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_835" next="#ID_836"> Und selbst wenn sich diese Bedenken beseitigen ließen, wie will man denn<lb/> nach unten hin die Volksschicht abgrenzen, der diese Hilfe zu teil werde»<lb/> soll? Der Mittelstand ist nicht eine abgeschlossene Kaste, zu der sich die Zu¬<lb/> gehörigkeit durch irgend welche Merkmale bestimmen ließe. Wenn es der<lb/> Arbeiter ermöglicht, wenn nicht sich selbst, so doch seine Kinder auf die Stufe<lb/> des Mittelstandes emporzubringen, wer will ihm das verwehren? Andrer¬<lb/> seits aber würde es eine Förderung jenes für unsre Zeit eigentümlichen un-<lb/> gesunden Dranges nach oben bedeuten, wenn man alle, die zum Mittelstände<lb/> zu gehören beanspruchen, schützen wollte in vermeintlichen Rechten, sie dnrch<lb/> Staatshilfe bewahren vor dem Hinabsinken zum Proletariat oder — je nach¬<lb/> dem — ihnen zu höherer Lebensstellung den Weg bahnen. Je mehr sich in<lb/> der Neuzeit die Vorstellung, daß körperliche Arbeit und das Einnehmen einer<lb/> dienenden Stellung entehrend sei, verbreitet hat, desto mehr mußte sich dadurch<lb/> die wirtschaftliche Lage des einfache» Arbeiters im Verhältnis zu der des<lb/> Mittelstandes besser». Die Gehalte der junge» Leute beider Geschlechter aus<lb/> deu bessern Ständen sind häufig darauf berechnet, daß sie Zuschüsse vom<lb/> Elternhause empfange», während das Kind des Arbeiters früh auf eignen<lb/> Füßen steht. Und dabei müsse» jene oft Demütigungen aller Art hinnehmen,<lb/> während der Dienstbote meistens schon dnrch die lebhaftere Nachfrage nach<lb/> seiner Arbeitskraft gegen eine rücksichtslose Behandlung geschützt ist und oft<lb/> seine durch die Unentbehrlichkeit seiner Dienste ihm gesicherte Überlegenheit der<lb/> Herrschaft fühlbar macht. Es ist zuzugeben, daß es unter den heutige» Ver-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0262]
zwungen sieht, viel härter als der Arme die gewohnten Entbehrungen. Der
Schmerz und Unmut des Gebildeten, der für seine Kräfte keine entsprechende
Verwendung findet, mag wohl größer sein als der des zeitweilig beschäf¬
tigungslosen Arbeiters.
Aber was folgt daraus? Die „Not" des Mittelstandes ist in Wahrheit
die Unmöglichkeit der Befriedigung höherer Lcbensansprüche, solcher Ansprüche,
die auch der bestgestellte Arbeiter nicht erheben kann und darf, die Unmöglich¬
keit der Festhaltung von Standcsbegriffen und einer Lebenshaltung, die immer
nur das Vorrecht einer beschränkten Zahl sein können. Und dies Vorrecht
wird um so schwerer zu behaupten, je mehr die Zahl derer zunimmt, die
darnach Verlangen tragen, die es sich zu erlümpfeu und zu bewahren streben.
Daraus geht denn hervor, daß die mit der Forderung der „Mittelstands¬
rettung" dem Staat gestellte Aufgabe viel weiter geht und die Kräfte des Staates
viel mehr übersteigt, als die bisher von ihm verlangte soziale Fürsorge. Aber
nicht allein, daß zu ihrer Erledigung die Mittel fehlen; sie steht eines zu der
soziale» Fürsorge im geraden Gegensatz. Denn während diese Fürsorge so
gedacht war, daß die bessergestellten Vcvölkernngstlasscn dem Arbeiterstande
emporhelfen sollten, so wird nnn für die Bessergestellten eine Hilfe begehrt,
die schließlich doch nur auf Kohle» der Arbeiter geleistet werden kann.
Und selbst wenn sich diese Bedenken beseitigen ließen, wie will man denn
nach unten hin die Volksschicht abgrenzen, der diese Hilfe zu teil werde»
soll? Der Mittelstand ist nicht eine abgeschlossene Kaste, zu der sich die Zu¬
gehörigkeit durch irgend welche Merkmale bestimmen ließe. Wenn es der
Arbeiter ermöglicht, wenn nicht sich selbst, so doch seine Kinder auf die Stufe
des Mittelstandes emporzubringen, wer will ihm das verwehren? Andrer¬
seits aber würde es eine Förderung jenes für unsre Zeit eigentümlichen un-
gesunden Dranges nach oben bedeuten, wenn man alle, die zum Mittelstände
zu gehören beanspruchen, schützen wollte in vermeintlichen Rechten, sie dnrch
Staatshilfe bewahren vor dem Hinabsinken zum Proletariat oder — je nach¬
dem — ihnen zu höherer Lebensstellung den Weg bahnen. Je mehr sich in
der Neuzeit die Vorstellung, daß körperliche Arbeit und das Einnehmen einer
dienenden Stellung entehrend sei, verbreitet hat, desto mehr mußte sich dadurch
die wirtschaftliche Lage des einfache» Arbeiters im Verhältnis zu der des
Mittelstandes besser». Die Gehalte der junge» Leute beider Geschlechter aus
deu bessern Ständen sind häufig darauf berechnet, daß sie Zuschüsse vom
Elternhause empfange», während das Kind des Arbeiters früh auf eignen
Füßen steht. Und dabei müsse» jene oft Demütigungen aller Art hinnehmen,
während der Dienstbote meistens schon dnrch die lebhaftere Nachfrage nach
seiner Arbeitskraft gegen eine rücksichtslose Behandlung geschützt ist und oft
seine durch die Unentbehrlichkeit seiner Dienste ihm gesicherte Überlegenheit der
Herrschaft fühlbar macht. Es ist zuzugeben, daß es unter den heutige» Ver-
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