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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Staatshilfe oder Selbsthilfe?
V T. Brix on

er Gedanke der Staatshilfe hat sich in solcher Weise entwickelt,
daß dadurch auch wohl bei manchen, die zu Anfange diesem Ge¬
danken zustimmten, Besorgnis erregt werden mag, wenn sie ernst¬
hafte Politiker sind, die gewissenhaft erwägen, welche Mittel uns
zur Abstellung menschlicher Leiden und zur Erfüllung mensch¬
licher Wünsche zu Gebote stehen. Denn so berechtigt an und für sich der
Wunsch ist, jede Not und jedes Elend von dem Menschen fernzuhalten, so
will doch bedacht sein, daß der Begriff der Not sehr dehnbar ist, und daß er
nenerdings weiter ausgedehnt wird, als zulässig ist. Im großen und ganzen
ist das schärfere Empfinden aller Übelstände in der Neuzeit nicht einem that¬
sächlichen Zunehmen dieser Übel, sondern einer gesteigerten Empfindlichkeit des
Menschen zuzuschreiben. Und dieses Zunehmen der Empfindlichkeit wieder ist
zum guten Teil die Folge davon, daß man in der Neuzeit besser gelernt hat,
und daß die Möglichkeit in höherm Maße gegeben ist, dem Leide zu wehren.
Der Appetit kommt mit dem Essen.

Damit soll dem Streben nach Besserung die Berechtigung uicht abge¬
sprochen werden. Es soll auch zugegeben werden, daß schärferes Empfinden
der Übel in dem Menschen eine Kraft zu wecken vermag, diese Übel zu be¬
kämpfen und sich ihnen zu entziehen. Sowohl in dem Einzelnen als in der
ganzen Gesellschaft kann in solcher Weise die Fähigkeit zur Erkämpfung besserer
Daseinsbedingungen erhöht werden. Auch gehört es unstreitig zu den schönste"
Seiten der menschlichen Natur, wenn die Leiden andrer mitempfunden werden
und man ihnen emporzuhelfeu sucht. Nur muß dieses Mitgefühl auch in
rechter Weise wirken. Nicht die äußere Lage des Mitmenschen allein, auch
sein ganzes geistiges Sein muß zum Gegenstande der Fürsorge gemacht werden,
und hierauf muß sich die Einwirkung erstrecken. Mit dem Bewußtsein, daß
es besser sein sollte, muß auch die Kraft, die nach außen hin wirkt und Besse¬
rung erzwingt, in dem Einzelnen geweckt werden. Wenn aber eine Fülle neuer
Bedürfnisse in dem Einzelnen erzeugt und zugleich die Verpflichtung zu ihrer
Befriedigung andern auferlegt wird, so ist das nicht der Weg zur Besserung.
Unverständiges Wohlwollen richtet auf staatlichem Gebiet ebenso gut Unheil
an als auf privatem.




Staatshilfe oder Selbsthilfe?
V T. Brix on

er Gedanke der Staatshilfe hat sich in solcher Weise entwickelt,
daß dadurch auch wohl bei manchen, die zu Anfange diesem Ge¬
danken zustimmten, Besorgnis erregt werden mag, wenn sie ernst¬
hafte Politiker sind, die gewissenhaft erwägen, welche Mittel uns
zur Abstellung menschlicher Leiden und zur Erfüllung mensch¬
licher Wünsche zu Gebote stehen. Denn so berechtigt an und für sich der
Wunsch ist, jede Not und jedes Elend von dem Menschen fernzuhalten, so
will doch bedacht sein, daß der Begriff der Not sehr dehnbar ist, und daß er
nenerdings weiter ausgedehnt wird, als zulässig ist. Im großen und ganzen
ist das schärfere Empfinden aller Übelstände in der Neuzeit nicht einem that¬
sächlichen Zunehmen dieser Übel, sondern einer gesteigerten Empfindlichkeit des
Menschen zuzuschreiben. Und dieses Zunehmen der Empfindlichkeit wieder ist
zum guten Teil die Folge davon, daß man in der Neuzeit besser gelernt hat,
und daß die Möglichkeit in höherm Maße gegeben ist, dem Leide zu wehren.
Der Appetit kommt mit dem Essen.

Damit soll dem Streben nach Besserung die Berechtigung uicht abge¬
sprochen werden. Es soll auch zugegeben werden, daß schärferes Empfinden
der Übel in dem Menschen eine Kraft zu wecken vermag, diese Übel zu be¬
kämpfen und sich ihnen zu entziehen. Sowohl in dem Einzelnen als in der
ganzen Gesellschaft kann in solcher Weise die Fähigkeit zur Erkämpfung besserer
Daseinsbedingungen erhöht werden. Auch gehört es unstreitig zu den schönste»
Seiten der menschlichen Natur, wenn die Leiden andrer mitempfunden werden
und man ihnen emporzuhelfeu sucht. Nur muß dieses Mitgefühl auch in
rechter Weise wirken. Nicht die äußere Lage des Mitmenschen allein, auch
sein ganzes geistiges Sein muß zum Gegenstande der Fürsorge gemacht werden,
und hierauf muß sich die Einwirkung erstrecken. Mit dem Bewußtsein, daß
es besser sein sollte, muß auch die Kraft, die nach außen hin wirkt und Besse¬
rung erzwingt, in dem Einzelnen geweckt werden. Wenn aber eine Fülle neuer
Bedürfnisse in dem Einzelnen erzeugt und zugleich die Verpflichtung zu ihrer
Befriedigung andern auferlegt wird, so ist das nicht der Weg zur Besserung.
Unverständiges Wohlwollen richtet auf staatlichem Gebiet ebenso gut Unheil
an als auf privatem.


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[0260] [Abbildung] Staatshilfe oder Selbsthilfe? V T. Brix on er Gedanke der Staatshilfe hat sich in solcher Weise entwickelt, daß dadurch auch wohl bei manchen, die zu Anfange diesem Ge¬ danken zustimmten, Besorgnis erregt werden mag, wenn sie ernst¬ hafte Politiker sind, die gewissenhaft erwägen, welche Mittel uns zur Abstellung menschlicher Leiden und zur Erfüllung mensch¬ licher Wünsche zu Gebote stehen. Denn so berechtigt an und für sich der Wunsch ist, jede Not und jedes Elend von dem Menschen fernzuhalten, so will doch bedacht sein, daß der Begriff der Not sehr dehnbar ist, und daß er nenerdings weiter ausgedehnt wird, als zulässig ist. Im großen und ganzen ist das schärfere Empfinden aller Übelstände in der Neuzeit nicht einem that¬ sächlichen Zunehmen dieser Übel, sondern einer gesteigerten Empfindlichkeit des Menschen zuzuschreiben. Und dieses Zunehmen der Empfindlichkeit wieder ist zum guten Teil die Folge davon, daß man in der Neuzeit besser gelernt hat, und daß die Möglichkeit in höherm Maße gegeben ist, dem Leide zu wehren. Der Appetit kommt mit dem Essen. Damit soll dem Streben nach Besserung die Berechtigung uicht abge¬ sprochen werden. Es soll auch zugegeben werden, daß schärferes Empfinden der Übel in dem Menschen eine Kraft zu wecken vermag, diese Übel zu be¬ kämpfen und sich ihnen zu entziehen. Sowohl in dem Einzelnen als in der ganzen Gesellschaft kann in solcher Weise die Fähigkeit zur Erkämpfung besserer Daseinsbedingungen erhöht werden. Auch gehört es unstreitig zu den schönste» Seiten der menschlichen Natur, wenn die Leiden andrer mitempfunden werden und man ihnen emporzuhelfeu sucht. Nur muß dieses Mitgefühl auch in rechter Weise wirken. Nicht die äußere Lage des Mitmenschen allein, auch sein ganzes geistiges Sein muß zum Gegenstande der Fürsorge gemacht werden, und hierauf muß sich die Einwirkung erstrecken. Mit dem Bewußtsein, daß es besser sein sollte, muß auch die Kraft, die nach außen hin wirkt und Besse¬ rung erzwingt, in dem Einzelnen geweckt werden. Wenn aber eine Fülle neuer Bedürfnisse in dem Einzelnen erzeugt und zugleich die Verpflichtung zu ihrer Befriedigung andern auferlegt wird, so ist das nicht der Weg zur Besserung. Unverständiges Wohlwollen richtet auf staatlichem Gebiet ebenso gut Unheil an als auf privatem.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/260>, abgerufen am 27.07.2024.