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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Prügelstrafe in der Volksschule

Z.6

baren Zersetzung. Den Henker verabscheut man, aber den Gentleman, der
ein Henker ist, nicht."

Das sind starke Worte, aber Dichter blicken tiefer als Schulmeister, und
es muß doch auffallen, daß gerade so kraftvolle Naturen wie Tolstoi, Dosto¬
jewski, Jean Paul, Dickens, denen man Sentimentalität nicht nachsagen kann,
die vielmehr auf Abhärtung gegen Schmerz und Entsagung großen Wert legten,
die Prügelstrafe vollständig verurteilten. Sie thaten dies wegen ihrer Ge¬
fahren für die Charakterbildung. Und hier wollen wir gleich dem Einwand
begegnen, der aus der Notwendigkeit der Abhärtung für die Jugend hergeleitet
worden ist. Hier werden zwei grundverschiedne Dinge mit einander vermengt.
Wenn sich der spartanische Knabe bis aufs Blut schlagen ließ, wenn der ger¬
manische Jüngling einen Tanz zwischen blitzenden Klingen ausführte, so war
das eine Kraft- und Mutprobe, deren Überstehen die höchsten Ehren brachte.
Incrssount, g.mal, virvMit volusrs virtu.8 war die Losung der antiken Er¬
ziehung. Es bleibt ja immerhin eine rohe Sitte, aber das Prinzip war ebenso
edel, wie das unsrer jetzigen körperlichen Züchtigung schmachvoll. Jene Kraft¬
probe brachte Ruhm, die Züchtigung bringt Schande; jene Übungen wurden
veranstaltet, damit sie die Jünglinge aushalten lernten, unsre Schulkinder
werden geschlagen, damit sie es nicht aushalten lernen, damit sie Furcht be¬
kommen; Furcht und Feigheit wird den Kindern durch diese Strafen einge¬
impft, und Gott Pavor und Gott Pallor sind die Götter, denen in der Schul-
stube gehuldigt wird. "Wie häßlich! sagt Jean Paul. Wie kann euch die
Verwechslung der Folterkunde mit Erziehlehre soweit verwirren, daß ihr die
Kraft des geistig Stärkern gegen die Kraft des körperlich Stärkern nicht achtet,
sondern Standhaftigkeit für Wiederholung des Verbrechens anseht!" Von diesem
Standpunkt aus stellt er sogar die Wettspiele der Indianer im Ertragen von
Schmerzen höher. Es leuchtet ein, daß der veränderte Gesichtspunkt, unter
dem der physische Schmerz erscheint, auch die körperliche Empfindung ver¬
ändert. Die Anstrengungen und der Triumph beim Wettkampf lassen den
Schmerz gar nicht recht zur Wirkung kommen, während bei der schmachvollen
Züchtigung das niederdrückende Gefühl ihn noch steigert. Daher auch Gassen-
wnnden leichter heilen als Schulwunden. Der Grundsatz der Charakterstür-
kung darf überhaupt bei Betrachtung der antiken und mittelalterlichen soge¬
nannten "Roheit" nicht außer Acht gelassen werden gegenüber dem heutigen
der Charakterbeugung, ganz abgesehen davon, daß die kraftvolle Jugend jener
Zeiten mit unserm nervösen Geschlecht und unserm blutarmen Proletariat nicht
verglichen werden kann, und der Besuch der alten Schulen durchaus freiwillig
war, der Lehrer in völliger Abhängigkeit von den Eltern^ stand. So wenig
die alte Zeit sentimental gestimmt war, so streng sah sie auf Weckung des
freien Bürgergeistes im Knaben. Der Präzeptor, der ?<."/.ö"/^/ox, war Sklave,
aber nicht das Kind, das ihm anvertraut war. Eltern und Staat sorgten


Die Prügelstrafe in der Volksschule

Z.6

baren Zersetzung. Den Henker verabscheut man, aber den Gentleman, der
ein Henker ist, nicht."

Das sind starke Worte, aber Dichter blicken tiefer als Schulmeister, und
es muß doch auffallen, daß gerade so kraftvolle Naturen wie Tolstoi, Dosto¬
jewski, Jean Paul, Dickens, denen man Sentimentalität nicht nachsagen kann,
die vielmehr auf Abhärtung gegen Schmerz und Entsagung großen Wert legten,
die Prügelstrafe vollständig verurteilten. Sie thaten dies wegen ihrer Ge¬
fahren für die Charakterbildung. Und hier wollen wir gleich dem Einwand
begegnen, der aus der Notwendigkeit der Abhärtung für die Jugend hergeleitet
worden ist. Hier werden zwei grundverschiedne Dinge mit einander vermengt.
Wenn sich der spartanische Knabe bis aufs Blut schlagen ließ, wenn der ger¬
manische Jüngling einen Tanz zwischen blitzenden Klingen ausführte, so war
das eine Kraft- und Mutprobe, deren Überstehen die höchsten Ehren brachte.
Incrssount, g.mal, virvMit volusrs virtu.8 war die Losung der antiken Er¬
ziehung. Es bleibt ja immerhin eine rohe Sitte, aber das Prinzip war ebenso
edel, wie das unsrer jetzigen körperlichen Züchtigung schmachvoll. Jene Kraft¬
probe brachte Ruhm, die Züchtigung bringt Schande; jene Übungen wurden
veranstaltet, damit sie die Jünglinge aushalten lernten, unsre Schulkinder
werden geschlagen, damit sie es nicht aushalten lernen, damit sie Furcht be¬
kommen; Furcht und Feigheit wird den Kindern durch diese Strafen einge¬
impft, und Gott Pavor und Gott Pallor sind die Götter, denen in der Schul-
stube gehuldigt wird. „Wie häßlich! sagt Jean Paul. Wie kann euch die
Verwechslung der Folterkunde mit Erziehlehre soweit verwirren, daß ihr die
Kraft des geistig Stärkern gegen die Kraft des körperlich Stärkern nicht achtet,
sondern Standhaftigkeit für Wiederholung des Verbrechens anseht!" Von diesem
Standpunkt aus stellt er sogar die Wettspiele der Indianer im Ertragen von
Schmerzen höher. Es leuchtet ein, daß der veränderte Gesichtspunkt, unter
dem der physische Schmerz erscheint, auch die körperliche Empfindung ver¬
ändert. Die Anstrengungen und der Triumph beim Wettkampf lassen den
Schmerz gar nicht recht zur Wirkung kommen, während bei der schmachvollen
Züchtigung das niederdrückende Gefühl ihn noch steigert. Daher auch Gassen-
wnnden leichter heilen als Schulwunden. Der Grundsatz der Charakterstür-
kung darf überhaupt bei Betrachtung der antiken und mittelalterlichen soge¬
nannten „Roheit" nicht außer Acht gelassen werden gegenüber dem heutigen
der Charakterbeugung, ganz abgesehen davon, daß die kraftvolle Jugend jener
Zeiten mit unserm nervösen Geschlecht und unserm blutarmen Proletariat nicht
verglichen werden kann, und der Besuch der alten Schulen durchaus freiwillig
war, der Lehrer in völliger Abhängigkeit von den Eltern^ stand. So wenig
die alte Zeit sentimental gestimmt war, so streng sah sie auf Weckung des
freien Bürgergeistes im Knaben. Der Präzeptor, der ?<.«/.ö«/^/ox, war Sklave,
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[0024] Die Prügelstrafe in der Volksschule Z.6 baren Zersetzung. Den Henker verabscheut man, aber den Gentleman, der ein Henker ist, nicht." Das sind starke Worte, aber Dichter blicken tiefer als Schulmeister, und es muß doch auffallen, daß gerade so kraftvolle Naturen wie Tolstoi, Dosto¬ jewski, Jean Paul, Dickens, denen man Sentimentalität nicht nachsagen kann, die vielmehr auf Abhärtung gegen Schmerz und Entsagung großen Wert legten, die Prügelstrafe vollständig verurteilten. Sie thaten dies wegen ihrer Ge¬ fahren für die Charakterbildung. Und hier wollen wir gleich dem Einwand begegnen, der aus der Notwendigkeit der Abhärtung für die Jugend hergeleitet worden ist. Hier werden zwei grundverschiedne Dinge mit einander vermengt. Wenn sich der spartanische Knabe bis aufs Blut schlagen ließ, wenn der ger¬ manische Jüngling einen Tanz zwischen blitzenden Klingen ausführte, so war das eine Kraft- und Mutprobe, deren Überstehen die höchsten Ehren brachte. Incrssount, g.mal, virvMit volusrs virtu.8 war die Losung der antiken Er¬ ziehung. Es bleibt ja immerhin eine rohe Sitte, aber das Prinzip war ebenso edel, wie das unsrer jetzigen körperlichen Züchtigung schmachvoll. Jene Kraft¬ probe brachte Ruhm, die Züchtigung bringt Schande; jene Übungen wurden veranstaltet, damit sie die Jünglinge aushalten lernten, unsre Schulkinder werden geschlagen, damit sie es nicht aushalten lernen, damit sie Furcht be¬ kommen; Furcht und Feigheit wird den Kindern durch diese Strafen einge¬ impft, und Gott Pavor und Gott Pallor sind die Götter, denen in der Schul- stube gehuldigt wird. „Wie häßlich! sagt Jean Paul. Wie kann euch die Verwechslung der Folterkunde mit Erziehlehre soweit verwirren, daß ihr die Kraft des geistig Stärkern gegen die Kraft des körperlich Stärkern nicht achtet, sondern Standhaftigkeit für Wiederholung des Verbrechens anseht!" Von diesem Standpunkt aus stellt er sogar die Wettspiele der Indianer im Ertragen von Schmerzen höher. Es leuchtet ein, daß der veränderte Gesichtspunkt, unter dem der physische Schmerz erscheint, auch die körperliche Empfindung ver¬ ändert. Die Anstrengungen und der Triumph beim Wettkampf lassen den Schmerz gar nicht recht zur Wirkung kommen, während bei der schmachvollen Züchtigung das niederdrückende Gefühl ihn noch steigert. Daher auch Gassen- wnnden leichter heilen als Schulwunden. Der Grundsatz der Charakterstür- kung darf überhaupt bei Betrachtung der antiken und mittelalterlichen soge¬ nannten „Roheit" nicht außer Acht gelassen werden gegenüber dem heutigen der Charakterbeugung, ganz abgesehen davon, daß die kraftvolle Jugend jener Zeiten mit unserm nervösen Geschlecht und unserm blutarmen Proletariat nicht verglichen werden kann, und der Besuch der alten Schulen durchaus freiwillig war, der Lehrer in völliger Abhängigkeit von den Eltern^ stand. So wenig die alte Zeit sentimental gestimmt war, so streng sah sie auf Weckung des freien Bürgergeistes im Knaben. Der Präzeptor, der ?<.«/.ö«/^/ox, war Sklave, aber nicht das Kind, das ihm anvertraut war. Eltern und Staat sorgten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/24>, abgerufen am 25.08.2024.