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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und volkstum

Lebens dringen, auch keine einzige völlig im Sande verläuft. Erst so erscheint
die Litteratur als die gewaltige Lebensnacht, die sie ist, und nicht mehr
als bloße Bücherfabrik. Wenn es nach mir ginge, so entstünde die große
deutsche, nach Stamm und Landschaft geordnete, nach einheitlichen Gesichts¬
punkte" ausgewählte Anthologie noch in diesem Jahrzehnt. Aber es wird
schwerlich werden; denn noch immer weiß man nicht ganz genau, was Goethe
jeden Tag zu Mittag gegessen hat. und die Aussicht, noch den Briefwechsel
eines seiner Bedienten zu entdecken, ist doch nicht ganz ausgeschlossen. Ernst¬
haft: es wird die höchste Zeit, daß sich die deutsche Litteraturforschnng
wieder auf würdige Aufgaben besinnt; etwas schwerer ist es ja, den gemein¬
schaftlichen Stammescharakter einer Reihe von Dichtern nicht bloß zu erkennen,
sondern auch klar darzustellen, als Lesarten zu vergleichen und über die Be¬
deutung des Dichters allgemeine Redensarten zu machen. Aber es wird doch
wohl nichts andres übrig bleiben. Wenn irgend ein deutscher Stand keine
rechte Heimat hat, so ist es der der Philologen, niemand steht weniger mit
dem lebendigen Volkstum in Verbindung, als der, der zu seiner Pflege, vor
allem der Pflege der Sprache, berufen ist.

Hier sollte ich nun eigentlich auch über die Sprache reden, aber ich fühle
mich auf diesem Gebiete nicht sicher genug. Die Wichtigkeit der Volkssprache
und des Dialekts hat die Wissenschaft hente erkannt, und in einem neuen
Buche über die deutsche Sprache wird, wenn ich mich recht erinnere, sogar
darauf gedrungen, daß man die Anschauung, die Volkssprache sei das Ur¬
sprüngliche, Wesentliche und eigentlich Maßgebende, wieder ins Volk trage.
Damit mag man immerhin vorsichtig sein, solange das Ziel unsers Volks¬
schulunterrichts, eine leidliche Beherrschung der Schriftsprache durch jedermann,
noch nicht erreicht ist. Aber die Gebildeten können sich jene Anschauung zu
eigen machen und die Liebe zum heimischen Dialekt und dein frisch Volks¬
tümlichen in der Sprache mehr als bisher in sich entwickeln. Freilich muß
der Dialekt ein richtiger Dialekt sein, kein verdorbnes Schriftdeutsch, wie so
manche sogenannten Dialekte. Aber wie mit allem Volkstum geht es auch
mit dem Dialekt bergab, und ich selber z.B., der ich bis zu meinem zwan¬
zigsten Lebensjahre das Platt meiner Heimat gesprochen habe, war nicht wenig
erstaunt, in Klaus Groths Prosaerzählungen ans eine Unzahl von Wörtern
zu stoßen, die mir völlig unbekannt waren. Am Ende gelangen noch alle
Deutschen zu einem "dialektisch" gefärbten Schriftdeutsch, und das wäre viel¬
leicht nicht so schlimm, wenn dieses nur den ganzen Reichtum der Dialekte
und ihre Anschauungskraft mit übernehmen wollte. Leider wird aber gerade die
schlechte Gewohnheit des Dialekts meistens zum "Provinzialismus," und des¬
halb haben die sprachgelehrten Recht, ihn nicht zu dulden. Die litterarische
Verwendung des Dialekts erscheint mir heute im ganzen abgeschlossen, obgleich
ihn der Naturalismus wieder da verwendet, wo eine leichte dialektische Für-


Heimat und volkstum

Lebens dringen, auch keine einzige völlig im Sande verläuft. Erst so erscheint
die Litteratur als die gewaltige Lebensnacht, die sie ist, und nicht mehr
als bloße Bücherfabrik. Wenn es nach mir ginge, so entstünde die große
deutsche, nach Stamm und Landschaft geordnete, nach einheitlichen Gesichts¬
punkte» ausgewählte Anthologie noch in diesem Jahrzehnt. Aber es wird
schwerlich werden; denn noch immer weiß man nicht ganz genau, was Goethe
jeden Tag zu Mittag gegessen hat. und die Aussicht, noch den Briefwechsel
eines seiner Bedienten zu entdecken, ist doch nicht ganz ausgeschlossen. Ernst¬
haft: es wird die höchste Zeit, daß sich die deutsche Litteraturforschnng
wieder auf würdige Aufgaben besinnt; etwas schwerer ist es ja, den gemein¬
schaftlichen Stammescharakter einer Reihe von Dichtern nicht bloß zu erkennen,
sondern auch klar darzustellen, als Lesarten zu vergleichen und über die Be¬
deutung des Dichters allgemeine Redensarten zu machen. Aber es wird doch
wohl nichts andres übrig bleiben. Wenn irgend ein deutscher Stand keine
rechte Heimat hat, so ist es der der Philologen, niemand steht weniger mit
dem lebendigen Volkstum in Verbindung, als der, der zu seiner Pflege, vor
allem der Pflege der Sprache, berufen ist.

Hier sollte ich nun eigentlich auch über die Sprache reden, aber ich fühle
mich auf diesem Gebiete nicht sicher genug. Die Wichtigkeit der Volkssprache
und des Dialekts hat die Wissenschaft hente erkannt, und in einem neuen
Buche über die deutsche Sprache wird, wenn ich mich recht erinnere, sogar
darauf gedrungen, daß man die Anschauung, die Volkssprache sei das Ur¬
sprüngliche, Wesentliche und eigentlich Maßgebende, wieder ins Volk trage.
Damit mag man immerhin vorsichtig sein, solange das Ziel unsers Volks¬
schulunterrichts, eine leidliche Beherrschung der Schriftsprache durch jedermann,
noch nicht erreicht ist. Aber die Gebildeten können sich jene Anschauung zu
eigen machen und die Liebe zum heimischen Dialekt und dein frisch Volks¬
tümlichen in der Sprache mehr als bisher in sich entwickeln. Freilich muß
der Dialekt ein richtiger Dialekt sein, kein verdorbnes Schriftdeutsch, wie so
manche sogenannten Dialekte. Aber wie mit allem Volkstum geht es auch
mit dem Dialekt bergab, und ich selber z.B., der ich bis zu meinem zwan¬
zigsten Lebensjahre das Platt meiner Heimat gesprochen habe, war nicht wenig
erstaunt, in Klaus Groths Prosaerzählungen ans eine Unzahl von Wörtern
zu stoßen, die mir völlig unbekannt waren. Am Ende gelangen noch alle
Deutschen zu einem „dialektisch" gefärbten Schriftdeutsch, und das wäre viel¬
leicht nicht so schlimm, wenn dieses nur den ganzen Reichtum der Dialekte
und ihre Anschauungskraft mit übernehmen wollte. Leider wird aber gerade die
schlechte Gewohnheit des Dialekts meistens zum „Provinzialismus," und des¬
halb haben die sprachgelehrten Recht, ihn nicht zu dulden. Die litterarische
Verwendung des Dialekts erscheint mir heute im ganzen abgeschlossen, obgleich
ihn der Naturalismus wieder da verwendet, wo eine leichte dialektische Für-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/231>, abgerufen am 24.07.2024.