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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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eigentlich gar nicht, obwohl man es der lieben Jugend doch, Gott sei Dank,
nicht ganz abgewöhnen kann. Auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete mangelt
es an Litteratur, die für das Volk brauchbar wäre, wenn auch Brehms "Tier¬
leben" und einige andre Werke immerhin schätzenswert sind. Die Schulnatur¬
geschichten sind durchweg von erschrecklicher Langweiligkeit, wie überhaupt
die meisten Realienbücher, die gewöhnlich nur auf wenigen Bogen eine trockne
Zusammenstellung des Lehrstoffs bieten, ein Geripp, das der Lehrer mit Fleisch
bekleiden soll -- er thuts aber nicht, und alles läuft auf das hergebrachte
Auswendiglernen hinaus. Aber mögen andre mit der Pädagogik rechten und
die Frage beantworten, ob nicht ein Schulbuch so gestaltet werden könnte, daß
es nach der Schulzeit als geschätztes Volksbuch aufbewahrt werde" würde.
Das weiß ich, daß eine gründliche Kenntnis der gesamten heimischen Natur
durch keine Schule zu erreichen ist; aber mehr Interesse für sie und vor allem
mehr Freude an ihr wären am Ende doch zu erzielen. Ich habe in meiner
Jugend und später oft beobachtet, wie man die prächtigsten Bäume, wahre
Zierden einer baumarmen Gegend, rücksichtslos weghieb. Solcher Wandalismus
liegt ursprünglich gar nicht in der deutschen Natur, er ist erst in unsrer Zeit
des hinschwindenden Heimatsgefühls mächtig geworden; man sorge nnr, daß
er nicht überHand nehme.

Völlig tot sind heute die Volksmärchen und Volkssagen in der mündlichen
Überlieferung, doch giebt es hier wenigstens eine reiche Litteratur, durch die
manches wieder ins Volk zurückdringt. Wo eine Mutter heute ihren Kindern
ein Märchen erzählt, da kann man im allgemeinen annehmen, daß sie die
Fassung aus einem Buche hat, aber glücklicherweise hat ja manches Buch, so
die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, in der Hauptsache die
durch den Volksmund überlieferte Fassung. Zu bedauern wäre höchstens, daß
ein Teil der Märchen, nämlich der, der Stammes- und Ortscharakter trägt,
zu Gunsten der allgemein deutschen zurückgetreten ist. So sind z. B. die alten
drolligen Märchen von "DummHans" (unter dem sich wohl Wodan versteckt,
man findet sie in Müllenhofs Sammlung aus Schleswig-Holstein) in meiner
Heimat sast vollständig verschwunden, und Rotkäppchen, Schneewittchen u. a.
sind an ihre Stelle getreten; statt der plattdeutschen Form der in manchen
Märchen eingestochenen Reime, die meine Mutter noch kannte, hört man jetzt
nur noch die in den Büchern stehende hochdeutsche. Ähnlich ist es mit den
Kinderspielen ergangen; die kleinen Niederdeutschen singen jetzt "Häschen in
der Grube" statt "Geesche wull lenger." Überhaupt will es mir scheinen, als
ob, wie das Mürchenerzählen, so auch das geordnete Spielen der Kinder mehr
und mehr aufhörte, um verfrühten Lesen und andrerseits einem wilden Haschen
und Balgen Platz zu machen. Ich kann "sich aber täuschen, wie ich mir denn
wohl bewußt bin, zunächst nur persönliche Eindrücke wiederzugeben. Möchte
man doch alles aufbieten, wenigstens das echte Volksmärchen gegenüber den


eigentlich gar nicht, obwohl man es der lieben Jugend doch, Gott sei Dank,
nicht ganz abgewöhnen kann. Auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete mangelt
es an Litteratur, die für das Volk brauchbar wäre, wenn auch Brehms „Tier¬
leben" und einige andre Werke immerhin schätzenswert sind. Die Schulnatur¬
geschichten sind durchweg von erschrecklicher Langweiligkeit, wie überhaupt
die meisten Realienbücher, die gewöhnlich nur auf wenigen Bogen eine trockne
Zusammenstellung des Lehrstoffs bieten, ein Geripp, das der Lehrer mit Fleisch
bekleiden soll — er thuts aber nicht, und alles läuft auf das hergebrachte
Auswendiglernen hinaus. Aber mögen andre mit der Pädagogik rechten und
die Frage beantworten, ob nicht ein Schulbuch so gestaltet werden könnte, daß
es nach der Schulzeit als geschätztes Volksbuch aufbewahrt werde» würde.
Das weiß ich, daß eine gründliche Kenntnis der gesamten heimischen Natur
durch keine Schule zu erreichen ist; aber mehr Interesse für sie und vor allem
mehr Freude an ihr wären am Ende doch zu erzielen. Ich habe in meiner
Jugend und später oft beobachtet, wie man die prächtigsten Bäume, wahre
Zierden einer baumarmen Gegend, rücksichtslos weghieb. Solcher Wandalismus
liegt ursprünglich gar nicht in der deutschen Natur, er ist erst in unsrer Zeit
des hinschwindenden Heimatsgefühls mächtig geworden; man sorge nnr, daß
er nicht überHand nehme.

Völlig tot sind heute die Volksmärchen und Volkssagen in der mündlichen
Überlieferung, doch giebt es hier wenigstens eine reiche Litteratur, durch die
manches wieder ins Volk zurückdringt. Wo eine Mutter heute ihren Kindern
ein Märchen erzählt, da kann man im allgemeinen annehmen, daß sie die
Fassung aus einem Buche hat, aber glücklicherweise hat ja manches Buch, so
die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, in der Hauptsache die
durch den Volksmund überlieferte Fassung. Zu bedauern wäre höchstens, daß
ein Teil der Märchen, nämlich der, der Stammes- und Ortscharakter trägt,
zu Gunsten der allgemein deutschen zurückgetreten ist. So sind z. B. die alten
drolligen Märchen von „DummHans" (unter dem sich wohl Wodan versteckt,
man findet sie in Müllenhofs Sammlung aus Schleswig-Holstein) in meiner
Heimat sast vollständig verschwunden, und Rotkäppchen, Schneewittchen u. a.
sind an ihre Stelle getreten; statt der plattdeutschen Form der in manchen
Märchen eingestochenen Reime, die meine Mutter noch kannte, hört man jetzt
nur noch die in den Büchern stehende hochdeutsche. Ähnlich ist es mit den
Kinderspielen ergangen; die kleinen Niederdeutschen singen jetzt „Häschen in
der Grube" statt „Geesche wull lenger." Überhaupt will es mir scheinen, als
ob, wie das Mürchenerzählen, so auch das geordnete Spielen der Kinder mehr
und mehr aufhörte, um verfrühten Lesen und andrerseits einem wilden Haschen
und Balgen Platz zu machen. Ich kann »sich aber täuschen, wie ich mir denn
wohl bewußt bin, zunächst nur persönliche Eindrücke wiederzugeben. Möchte
man doch alles aufbieten, wenigstens das echte Volksmärchen gegenüber den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/228>, abgerufen am 24.07.2024.