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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und Dolkstum
(Fortsetzung)

le das Stammesbewußtsein, so verschwinden auch allmählich die
im Volke lebende" geschichtlichen Erinnerungen. Klaus Grvth
berichtet, daß in seiner Jugend die Knaben bei ihren Spielen
noch die Schlachten der alten Dithmarsen und Holsten oder
Dänen geschlagen hätten; zur Zeit meiner Kindheit teilten wir
uns schon in Deutsche und Franzosen, und hente ist der Schlachtruf von
Hemmingstedt: "Wahr ti, Garr, de Bur de kummt!" fast verklungen. Wie
mag es erst in weniger geschichtlichen und gcschichtSstolzen, dazu weniger
abgeschlossenen Gegenden aussehen! Nun ist es nicht gerade schwer, geschicht¬
liche Erinnerungen wiederzuerwecken, die Schule braucht nnr ihre Pflicht zu
thun, und für die Erwachsenen der Geschichtschreiber; denn der Reiz der Ge¬
schichte ist jederzeit groß. Aber die Schule leistet nur ausnahmsweise Ge¬
nügendes, nur in dem Falle, wo Staats- und Landesgeschichte zusammenfällt;
sonst wird die Landesgeschichte schmählich vernachlässigt, ganz besonders ans
den Gymnasien, soweit wenigstens meine Erfahrung reicht. Dort hängt es
gewöhnlich von dein persönlichen Belieben der Lehrer ab, ob sie ihre Schüler
in die Landesgeschichte einführen wollen, und wie selten kann ein Altpreuße
z. B. in die hannoversche oder Schleswig-holsteinische Geschichte einführen! Es
ist aber wohl kaum zu bestreiten, daß für den Hannoveraner die Geschichte
seiner welfischen Herzoge, für den Schleswig-Holsteiner die seiner Schauen-
burger Grafen mehr Wert hat als die der brandenbiirgischen Markgrafen und
Kurfürsten, bis auf den vorletzten, mit dem die brandenburgische Geschichte
allerdings deutsche Geschichte wird. Hier wäre eine vernünftige Änderung zu
treffen, ohne daß mau die Geschichte der Gesamtmonarchie oder gar Deutsch¬
lands zu veruachlüssigeu brauchte. Das Gebiet der Einzelgeschichte ist aber
auch in der geschichtlichen Litteratur seit längerer Zeit zu kurz gekommen.
Wohl hat man sich eifrig daran gemacht, die vorhnndnen Urkunde" zu durch¬
stöbern und herauszugeben und Bände auf Bände mit ihne" angefüllt, aber
die zusammenhängende Darstellung ist -- was ja für unsre Zeit überhaupt
bezeichnend ist -- weit hinter der Ausgrabung und Veröffentlichung zurück-


Grciizlwlm IV 1W W


Heimat und Dolkstum
(Fortsetzung)

le das Stammesbewußtsein, so verschwinden auch allmählich die
im Volke lebende» geschichtlichen Erinnerungen. Klaus Grvth
berichtet, daß in seiner Jugend die Knaben bei ihren Spielen
noch die Schlachten der alten Dithmarsen und Holsten oder
Dänen geschlagen hätten; zur Zeit meiner Kindheit teilten wir
uns schon in Deutsche und Franzosen, und hente ist der Schlachtruf von
Hemmingstedt: „Wahr ti, Garr, de Bur de kummt!" fast verklungen. Wie
mag es erst in weniger geschichtlichen und gcschichtSstolzen, dazu weniger
abgeschlossenen Gegenden aussehen! Nun ist es nicht gerade schwer, geschicht¬
liche Erinnerungen wiederzuerwecken, die Schule braucht nnr ihre Pflicht zu
thun, und für die Erwachsenen der Geschichtschreiber; denn der Reiz der Ge¬
schichte ist jederzeit groß. Aber die Schule leistet nur ausnahmsweise Ge¬
nügendes, nur in dem Falle, wo Staats- und Landesgeschichte zusammenfällt;
sonst wird die Landesgeschichte schmählich vernachlässigt, ganz besonders ans
den Gymnasien, soweit wenigstens meine Erfahrung reicht. Dort hängt es
gewöhnlich von dein persönlichen Belieben der Lehrer ab, ob sie ihre Schüler
in die Landesgeschichte einführen wollen, und wie selten kann ein Altpreuße
z. B. in die hannoversche oder Schleswig-holsteinische Geschichte einführen! Es
ist aber wohl kaum zu bestreiten, daß für den Hannoveraner die Geschichte
seiner welfischen Herzoge, für den Schleswig-Holsteiner die seiner Schauen-
burger Grafen mehr Wert hat als die der brandenbiirgischen Markgrafen und
Kurfürsten, bis auf den vorletzten, mit dem die brandenburgische Geschichte
allerdings deutsche Geschichte wird. Hier wäre eine vernünftige Änderung zu
treffen, ohne daß mau die Geschichte der Gesamtmonarchie oder gar Deutsch¬
lands zu veruachlüssigeu brauchte. Das Gebiet der Einzelgeschichte ist aber
auch in der geschichtlichen Litteratur seit längerer Zeit zu kurz gekommen.
Wohl hat man sich eifrig daran gemacht, die vorhnndnen Urkunde» zu durch¬
stöbern und herauszugeben und Bände auf Bände mit ihne« angefüllt, aber
die zusammenhängende Darstellung ist — was ja für unsre Zeit überhaupt
bezeichnend ist — weit hinter der Ausgrabung und Veröffentlichung zurück-


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[0225] [Abbildung] Heimat und Dolkstum (Fortsetzung) le das Stammesbewußtsein, so verschwinden auch allmählich die im Volke lebende» geschichtlichen Erinnerungen. Klaus Grvth berichtet, daß in seiner Jugend die Knaben bei ihren Spielen noch die Schlachten der alten Dithmarsen und Holsten oder Dänen geschlagen hätten; zur Zeit meiner Kindheit teilten wir uns schon in Deutsche und Franzosen, und hente ist der Schlachtruf von Hemmingstedt: „Wahr ti, Garr, de Bur de kummt!" fast verklungen. Wie mag es erst in weniger geschichtlichen und gcschichtSstolzen, dazu weniger abgeschlossenen Gegenden aussehen! Nun ist es nicht gerade schwer, geschicht¬ liche Erinnerungen wiederzuerwecken, die Schule braucht nnr ihre Pflicht zu thun, und für die Erwachsenen der Geschichtschreiber; denn der Reiz der Ge¬ schichte ist jederzeit groß. Aber die Schule leistet nur ausnahmsweise Ge¬ nügendes, nur in dem Falle, wo Staats- und Landesgeschichte zusammenfällt; sonst wird die Landesgeschichte schmählich vernachlässigt, ganz besonders ans den Gymnasien, soweit wenigstens meine Erfahrung reicht. Dort hängt es gewöhnlich von dein persönlichen Belieben der Lehrer ab, ob sie ihre Schüler in die Landesgeschichte einführen wollen, und wie selten kann ein Altpreuße z. B. in die hannoversche oder Schleswig-holsteinische Geschichte einführen! Es ist aber wohl kaum zu bestreiten, daß für den Hannoveraner die Geschichte seiner welfischen Herzoge, für den Schleswig-Holsteiner die seiner Schauen- burger Grafen mehr Wert hat als die der brandenbiirgischen Markgrafen und Kurfürsten, bis auf den vorletzten, mit dem die brandenburgische Geschichte allerdings deutsche Geschichte wird. Hier wäre eine vernünftige Änderung zu treffen, ohne daß mau die Geschichte der Gesamtmonarchie oder gar Deutsch¬ lands zu veruachlüssigeu brauchte. Das Gebiet der Einzelgeschichte ist aber auch in der geschichtlichen Litteratur seit längerer Zeit zu kurz gekommen. Wohl hat man sich eifrig daran gemacht, die vorhnndnen Urkunde» zu durch¬ stöbern und herauszugeben und Bände auf Bände mit ihne« angefüllt, aber die zusammenhängende Darstellung ist — was ja für unsre Zeit überhaupt bezeichnend ist — weit hinter der Ausgrabung und Veröffentlichung zurück- Grciizlwlm IV 1W W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/225>, abgerufen am 24.07.2024.