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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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die Zunahme der allgemeinen Bildung auch in England eine Überfttllnng der
sogenannten gelehrten Berufe zur Folge gehabt. Auf die Dauer kann es aber
nicht ausbleiben, daß der Stand der Bildung in allen Zweigen der viel¬
gestaltigen Gesellschaft eines großen Gemeinwesens gehoben werden wird.

Auf den? Gebiete der Vereinsgesetzgebnng bestehen in der That noch einige
ältere Gesetze gegen geheime Klubs und Versammlungen. Sie gehören aber
zu den sogenannten ruhenden Polizeigewaltcn und sind so außer Übung, daß
sie von Matten ganz mit Stillschweigen übergangen werden. Thatsächlich
herrscht vollkommne Vereins- und Versammlungsfreiheit. Matten sagt, ohne
Widerspruch befürchten zu müssen: "Die Redefreiheit ist ein Gebnrtsrecht des
Engländers, und wir verurteilen heute einmütig frühere Regierungen, die
jemand deshalb, weil er frei seine Meinung aussprach, an den Pranger ge¬
stellt, ja ihn sogar getötet haben. Wir wären aber -- fährt er fort --, ebcusv-
gewiß wie jene Verfolger, Feinde dieses eigentlichen Lebensodems unsrer Ver¬
fassung, wenn wir unsre Gegner in öffentlichen Versammlungen niederschreien
oder die Versammlungen selbst gewaltsam zu stören suchten. Ja wir haben
die Pflicht, öffentliche Versammlungen zu besuchen, sowohl um die Ordnung
mit aufrecht erhalten zu helfen, als um dort Redner anhören zu lernen, mit
denen wir nicht übereinstimmen, ihre Gründe zu vernehmen und nicht gleich
wilden Tieren zu heulen oder zu lärme" wie Schulbuben. Wir lassen uns
durch Vernunftgründe und gegenseitige Aussprache regieren, und diese Aus¬
sprache muß, wenn sie nützen, ja wenn sie überhaupt bestehen soll, völlig frei
sein. Da aber diese freie Aussprache heute vorzugsweise durch die Presse ge¬
pflegt wird, so würden wir unsern Bürgerpflichten kaum genügen, wenn wir
nicht auch die Blätter lesen wollten, die eine von unsern Ansichten abweichende
Politik vertreten. Die Zeitungen selbst, die von den Gründen ihrer Gegner
leine Notiz nehmen oder, was noch schlimmer aber auch noch gewöhnlicher ist,
diese Gründe zu verdrehen wissen, versündigen sich gegen den Geist unsrer
Freiheit."

Einige andre gelegentliche Bemerkungen Maldens sind zwar alte Gemein¬
plätze, aber sie hören merkwürdigerweise niemals auf, "aktuell" zu sein. So
rühmt er vou der englischen Strafrechtspflege, sie sei auf dein Grundsätze er¬
baut, jedermann für unschuldig zu halten, bis er nicht der Schuld überführt
sei, und macht dazu die Bemerkung, daß einige auswärtige Länder im Gegen¬
teil jedermann, der von der Polizei angeklagt werde, für schuldig zu halten
und darnach zu behandeln pflegten, wenn er uicht seine Unschuld beweisen könnte.
"Es ist sehr nützlich, Irrtümer zu begehen, wenn man nur den Mut hat, sie
als Irrtümer zu bekennen und daraus die Lehre zu ziehen, es das nächste
mal besser zu machen. ... Um ein Gesetz zu stände zu bringen, dazu reicht
eine einzige Anstrengung hin, erst die unausgesetzte Gewöhnung, sich auf sich
selbst zu verlassen, macht den Mann. . . . Der macht sich wohlverdient um


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die Zunahme der allgemeinen Bildung auch in England eine Überfttllnng der
sogenannten gelehrten Berufe zur Folge gehabt. Auf die Dauer kann es aber
nicht ausbleiben, daß der Stand der Bildung in allen Zweigen der viel¬
gestaltigen Gesellschaft eines großen Gemeinwesens gehoben werden wird.

Auf den? Gebiete der Vereinsgesetzgebnng bestehen in der That noch einige
ältere Gesetze gegen geheime Klubs und Versammlungen. Sie gehören aber
zu den sogenannten ruhenden Polizeigewaltcn und sind so außer Übung, daß
sie von Matten ganz mit Stillschweigen übergangen werden. Thatsächlich
herrscht vollkommne Vereins- und Versammlungsfreiheit. Matten sagt, ohne
Widerspruch befürchten zu müssen: „Die Redefreiheit ist ein Gebnrtsrecht des
Engländers, und wir verurteilen heute einmütig frühere Regierungen, die
jemand deshalb, weil er frei seine Meinung aussprach, an den Pranger ge¬
stellt, ja ihn sogar getötet haben. Wir wären aber — fährt er fort —, ebcusv-
gewiß wie jene Verfolger, Feinde dieses eigentlichen Lebensodems unsrer Ver¬
fassung, wenn wir unsre Gegner in öffentlichen Versammlungen niederschreien
oder die Versammlungen selbst gewaltsam zu stören suchten. Ja wir haben
die Pflicht, öffentliche Versammlungen zu besuchen, sowohl um die Ordnung
mit aufrecht erhalten zu helfen, als um dort Redner anhören zu lernen, mit
denen wir nicht übereinstimmen, ihre Gründe zu vernehmen und nicht gleich
wilden Tieren zu heulen oder zu lärme» wie Schulbuben. Wir lassen uns
durch Vernunftgründe und gegenseitige Aussprache regieren, und diese Aus¬
sprache muß, wenn sie nützen, ja wenn sie überhaupt bestehen soll, völlig frei
sein. Da aber diese freie Aussprache heute vorzugsweise durch die Presse ge¬
pflegt wird, so würden wir unsern Bürgerpflichten kaum genügen, wenn wir
nicht auch die Blätter lesen wollten, die eine von unsern Ansichten abweichende
Politik vertreten. Die Zeitungen selbst, die von den Gründen ihrer Gegner
leine Notiz nehmen oder, was noch schlimmer aber auch noch gewöhnlicher ist,
diese Gründe zu verdrehen wissen, versündigen sich gegen den Geist unsrer
Freiheit."

Einige andre gelegentliche Bemerkungen Maldens sind zwar alte Gemein¬
plätze, aber sie hören merkwürdigerweise niemals auf, „aktuell" zu sein. So
rühmt er vou der englischen Strafrechtspflege, sie sei auf dein Grundsätze er¬
baut, jedermann für unschuldig zu halten, bis er nicht der Schuld überführt
sei, und macht dazu die Bemerkung, daß einige auswärtige Länder im Gegen¬
teil jedermann, der von der Polizei angeklagt werde, für schuldig zu halten
und darnach zu behandeln pflegten, wenn er uicht seine Unschuld beweisen könnte.
„Es ist sehr nützlich, Irrtümer zu begehen, wenn man nur den Mut hat, sie
als Irrtümer zu bekennen und daraus die Lehre zu ziehen, es das nächste
mal besser zu machen. ... Um ein Gesetz zu stände zu bringen, dazu reicht
eine einzige Anstrengung hin, erst die unausgesetzte Gewöhnung, sich auf sich
selbst zu verlassen, macht den Mann. . . . Der macht sich wohlverdient um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/222>, abgerufen am 24.07.2024.