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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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gehoben wurden. Nichts war dem jungen germanischen Christentum an¬
stößiger und verhaßter als der nvvivöl; der Eingang von Wolframs Parzivnl
allein kann es lehren. Zögern und abwarten wie in der Bibel darf der von
Gott geleitete Lot bei unserm Dichter auch keinen Augenblick, vielmehr wird
ausdrücklich sein williger und folgsamer Gehorsam betont; und als sich der
Engel des Bösen (bei der Schilderung des Sündenfalls) wider Gott erhebt und
dieser seine prometheische Überhebung mit dem Sturz aus dem Himmel straft,
da fügt die Dichtung hinzu: "So geschieht es jedermann, der es unternimmt,
sich seinem Herrn zu widersetzen." Fremd und unheimlich wie der Zweifel
war dem christlichen Germanen auch alle Halbheit in Lohn und Strafe. Dem
Verbrecher gebührt in seineu Augen Tod oder Verbannung; daß er uach
frevelhafter That durch Glück und Gnade wieder zu Ehren komme, ist ihm
zuwider. Deshalb wird der biblische Bericht über Kains Anbau im Lande
Not, südlich von Eben, wo er eine neue Heimnt findet, kurzer Hand beiseite
geschoben. Sollte der Brudermörder wieder zu festem Sitz und blühender
Familie kommen, zu diesen Gaben belohnender Verzeihung? Würde nicht die
über ihn verhängte Strafe durch diesen Ausgang verkürzt und zerbröckelt?
Viel wirkungsvoller, wenn er "von Gott verlassen" (it^däa. iren Zock Soldo suiäu
tdr8g.Je!Mon: es hatte sich Gott unwiderruflich von ihm losgesagt) ein für
allemal vom Schauplatz verschwindet, nachdem ihm seine Strafe verkündet ist.

Drei sittliche Mächte, haben wir gesehen, ringen in unsrer altsächsischen
Bibeldichtung: das Judentum, das ihr den Stoff geliefert hat, und Christen-
und Deutschtum, die beide in der Seele des nach- und umbildenden Dichters
mit einander wetteifern, mit einander streiten, sich anziehen und fliehen, sich
fördern und hemmen, aber jene friedliche Versöhnung, kraft deren es vielleicht
möglich geworden wäre, den Geist des gemeinsamen Widersachers ganz hinaus¬
zutreiben, nicht haben finden können. Auch einzeln vermochte es weder
der Christ noch der Germane in unserm altsüchsischen Dichter. Sie waren
beide nicht ganz, rein, voll und ungebrochen: dem Germanen hatte das Kreuz
des neuen Glaubens schon Nacken und Knie gebeugt, und der Christ in ihm
war auch damals schon zu demütig und selbstlos, um über alles Uugesnnde,
Kranke und innerlich Fremde des abgelebten Judentums siegreich und selbst¬
herrlich zu triumphiren. Aber auch der Streit, der zu keinem vollen Siege
führt, ist anziehend und lehrreich, und der Blick in die bewegte Seele des
jungen Germanentums eine anheimelnde Freude auch noch für uns.




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gehoben wurden. Nichts war dem jungen germanischen Christentum an¬
stößiger und verhaßter als der nvvivöl; der Eingang von Wolframs Parzivnl
allein kann es lehren. Zögern und abwarten wie in der Bibel darf der von
Gott geleitete Lot bei unserm Dichter auch keinen Augenblick, vielmehr wird
ausdrücklich sein williger und folgsamer Gehorsam betont; und als sich der
Engel des Bösen (bei der Schilderung des Sündenfalls) wider Gott erhebt und
dieser seine prometheische Überhebung mit dem Sturz aus dem Himmel straft,
da fügt die Dichtung hinzu: „So geschieht es jedermann, der es unternimmt,
sich seinem Herrn zu widersetzen." Fremd und unheimlich wie der Zweifel
war dem christlichen Germanen auch alle Halbheit in Lohn und Strafe. Dem
Verbrecher gebührt in seineu Augen Tod oder Verbannung; daß er uach
frevelhafter That durch Glück und Gnade wieder zu Ehren komme, ist ihm
zuwider. Deshalb wird der biblische Bericht über Kains Anbau im Lande
Not, südlich von Eben, wo er eine neue Heimnt findet, kurzer Hand beiseite
geschoben. Sollte der Brudermörder wieder zu festem Sitz und blühender
Familie kommen, zu diesen Gaben belohnender Verzeihung? Würde nicht die
über ihn verhängte Strafe durch diesen Ausgang verkürzt und zerbröckelt?
Viel wirkungsvoller, wenn er „von Gott verlassen" (it^däa. iren Zock Soldo suiäu
tdr8g.Je!Mon: es hatte sich Gott unwiderruflich von ihm losgesagt) ein für
allemal vom Schauplatz verschwindet, nachdem ihm seine Strafe verkündet ist.

Drei sittliche Mächte, haben wir gesehen, ringen in unsrer altsächsischen
Bibeldichtung: das Judentum, das ihr den Stoff geliefert hat, und Christen-
und Deutschtum, die beide in der Seele des nach- und umbildenden Dichters
mit einander wetteifern, mit einander streiten, sich anziehen und fliehen, sich
fördern und hemmen, aber jene friedliche Versöhnung, kraft deren es vielleicht
möglich geworden wäre, den Geist des gemeinsamen Widersachers ganz hinaus¬
zutreiben, nicht haben finden können. Auch einzeln vermochte es weder
der Christ noch der Germane in unserm altsüchsischen Dichter. Sie waren
beide nicht ganz, rein, voll und ungebrochen: dem Germanen hatte das Kreuz
des neuen Glaubens schon Nacken und Knie gebeugt, und der Christ in ihm
war auch damals schon zu demütig und selbstlos, um über alles Uugesnnde,
Kranke und innerlich Fremde des abgelebten Judentums siegreich und selbst¬
herrlich zu triumphiren. Aber auch der Streit, der zu keinem vollen Siege
führt, ist anziehend und lehrreich, und der Blick in die bewegte Seele des
jungen Germanentums eine anheimelnde Freude auch noch für uns.




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[0203] pas Alte Testament und der Dichter des Heliand gehoben wurden. Nichts war dem jungen germanischen Christentum an¬ stößiger und verhaßter als der nvvivöl; der Eingang von Wolframs Parzivnl allein kann es lehren. Zögern und abwarten wie in der Bibel darf der von Gott geleitete Lot bei unserm Dichter auch keinen Augenblick, vielmehr wird ausdrücklich sein williger und folgsamer Gehorsam betont; und als sich der Engel des Bösen (bei der Schilderung des Sündenfalls) wider Gott erhebt und dieser seine prometheische Überhebung mit dem Sturz aus dem Himmel straft, da fügt die Dichtung hinzu: „So geschieht es jedermann, der es unternimmt, sich seinem Herrn zu widersetzen." Fremd und unheimlich wie der Zweifel war dem christlichen Germanen auch alle Halbheit in Lohn und Strafe. Dem Verbrecher gebührt in seineu Augen Tod oder Verbannung; daß er uach frevelhafter That durch Glück und Gnade wieder zu Ehren komme, ist ihm zuwider. Deshalb wird der biblische Bericht über Kains Anbau im Lande Not, südlich von Eben, wo er eine neue Heimnt findet, kurzer Hand beiseite geschoben. Sollte der Brudermörder wieder zu festem Sitz und blühender Familie kommen, zu diesen Gaben belohnender Verzeihung? Würde nicht die über ihn verhängte Strafe durch diesen Ausgang verkürzt und zerbröckelt? Viel wirkungsvoller, wenn er „von Gott verlassen" (it^däa. iren Zock Soldo suiäu tdr8g.Je!Mon: es hatte sich Gott unwiderruflich von ihm losgesagt) ein für allemal vom Schauplatz verschwindet, nachdem ihm seine Strafe verkündet ist. Drei sittliche Mächte, haben wir gesehen, ringen in unsrer altsächsischen Bibeldichtung: das Judentum, das ihr den Stoff geliefert hat, und Christen- und Deutschtum, die beide in der Seele des nach- und umbildenden Dichters mit einander wetteifern, mit einander streiten, sich anziehen und fliehen, sich fördern und hemmen, aber jene friedliche Versöhnung, kraft deren es vielleicht möglich geworden wäre, den Geist des gemeinsamen Widersachers ganz hinaus¬ zutreiben, nicht haben finden können. Auch einzeln vermochte es weder der Christ noch der Germane in unserm altsüchsischen Dichter. Sie waren beide nicht ganz, rein, voll und ungebrochen: dem Germanen hatte das Kreuz des neuen Glaubens schon Nacken und Knie gebeugt, und der Christ in ihm war auch damals schon zu demütig und selbstlos, um über alles Uugesnnde, Kranke und innerlich Fremde des abgelebten Judentums siegreich und selbst¬ herrlich zu triumphiren. Aber auch der Streit, der zu keinem vollen Siege führt, ist anziehend und lehrreich, und der Blick in die bewegte Seele des jungen Germanentums eine anheimelnde Freude auch noch für uns.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/203>, abgerufen am 28.09.2024.