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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

zu bezeichnen, legt der germanische Dichter den verwaisten Eltern, gerührt
van ihrem leidvollen Geschick, eine lange, lyrisch stimmungsvolle Klage in den
Mund über den Verlornen Abel und seinen mörderischen Bruder. Und dem
Künstler, der zu Anfang der Erzählung das großartige Gemälde von der am
öden Strand einsam liegenden Leiche des Erschlagnen und der Flucht seines
Mörders schuf, ist es auch hier gelungen, ein paar erschütternde Bilder zu
entwerfen. Das eine zeigt die Mutter, "die deu Knaben genährt hatte, das
Kind an ihrer Brust," wie sie das blutige Gewand des Toten wäscht, und
wie dabei der Schmerz über beide Söhne, über den für immer Verlornen und
über den gottverlassenen Brudermörder, sie überwältigt; das andre, wie beide
Gatten gramvoll am Ufer stehen, an der Stelle, wo ihr Sohn ermordet
worden ist, und sich selbst anklagen daß es ihre eignen Sünden verschuldet
hätte", wen" sie nun kinderlos blieben, und kein edler Sohn ihr Erbe würde.
Diese Stellen würden, wenn wir sonst keine Zeugnisse dafür hätten, allein
imstande sein, den Verfasser der altsächsischen Genesisbruchstttcke als einen
Dichter zu erweisen, der nicht nnr mit Geschmack und Geschick zu bearbeite"
und poetisch nachzubilden, sondern anch aus eigner schöpferischer Phantasie
selbst dichterisch zu erfinden, zu schauen und ergreifend darzustellen verstand.

Wie die Geschlechtsreihe Kains, so wird nun auch die Seths als geschicht¬
liche Zuthat von ausschließlich jüdischem Interesse übergangen und nur mit
kurzer, aber scharfer Charakteristik in wirkungsvollen Gegensatz zu den Kamille"
gebracht. Auf Schritt und Tritt verrät sich hier die lebhafte und seelsorgerische
Absicht des Dichters: das Gute und deshalb Vorbildliche wird in seinem
Glänze erhöht, das Böse und als abschreckendes Beispiel aufgestellte in seiner
Schwärze noch dunkler und häßlicher gefärbt, und mit feierlich erhobnen Finger
auf Gottes Allmacht und strafende Gerechtigkeit, aber auch auf seine Gnade
und Belohnung des Guten gewiesen. Die Schilderung der Nachkommenschaft
Kains als riesenhafte, kraftvolle und Hartgemute Helden, aber auch gewalt¬
same, jnhe und trotzige Empörer wider Gottes Willen empfängt ihre An¬
regung aus der Bibel, aber nicht ohne anch hier gerade erst die lebhaftesten
und eindruckvollsteu Farben aus Eignen hinzuzuthun, wie sie dein Sachsen des
nennten Jahrhunderts, dem Zeitgenossen Widukiuds, aus lebendiger Anschauung
oder aus den Quellen heimischer Sage gewiß reichlich zu Gebote standen: die
den Riesen beigelegten feindseligen und zerstörerische" Eigenschaften entsprechen
durchaus der Charakteristik, die ih"e" der germanische Mythus und die ger¬
manische Sage verleihen.

Mit der geschilderten Verworfenheit der Kainiten ist der Faden gesunde",
der zu der Erzählung von der allgemeinen Verderbnis des Menschengeschlechts
hinüberleitet, wie sie durch die Vermischung von Kains und Seths Nachkomme"
entsteht. Nur ein einziger hebt sich als Reiner ans dem Pfuhl des Verderbens:
Enoch. Die Genesis bietet für den gottgefällige" Wandel des Enoch nur die


Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

zu bezeichnen, legt der germanische Dichter den verwaisten Eltern, gerührt
van ihrem leidvollen Geschick, eine lange, lyrisch stimmungsvolle Klage in den
Mund über den Verlornen Abel und seinen mörderischen Bruder. Und dem
Künstler, der zu Anfang der Erzählung das großartige Gemälde von der am
öden Strand einsam liegenden Leiche des Erschlagnen und der Flucht seines
Mörders schuf, ist es auch hier gelungen, ein paar erschütternde Bilder zu
entwerfen. Das eine zeigt die Mutter, „die deu Knaben genährt hatte, das
Kind an ihrer Brust," wie sie das blutige Gewand des Toten wäscht, und
wie dabei der Schmerz über beide Söhne, über den für immer Verlornen und
über den gottverlassenen Brudermörder, sie überwältigt; das andre, wie beide
Gatten gramvoll am Ufer stehen, an der Stelle, wo ihr Sohn ermordet
worden ist, und sich selbst anklagen daß es ihre eignen Sünden verschuldet
hätte», wen« sie nun kinderlos blieben, und kein edler Sohn ihr Erbe würde.
Diese Stellen würden, wenn wir sonst keine Zeugnisse dafür hätten, allein
imstande sein, den Verfasser der altsächsischen Genesisbruchstttcke als einen
Dichter zu erweisen, der nicht nnr mit Geschmack und Geschick zu bearbeite»
und poetisch nachzubilden, sondern anch aus eigner schöpferischer Phantasie
selbst dichterisch zu erfinden, zu schauen und ergreifend darzustellen verstand.

Wie die Geschlechtsreihe Kains, so wird nun auch die Seths als geschicht¬
liche Zuthat von ausschließlich jüdischem Interesse übergangen und nur mit
kurzer, aber scharfer Charakteristik in wirkungsvollen Gegensatz zu den Kamille»
gebracht. Auf Schritt und Tritt verrät sich hier die lebhafte und seelsorgerische
Absicht des Dichters: das Gute und deshalb Vorbildliche wird in seinem
Glänze erhöht, das Böse und als abschreckendes Beispiel aufgestellte in seiner
Schwärze noch dunkler und häßlicher gefärbt, und mit feierlich erhobnen Finger
auf Gottes Allmacht und strafende Gerechtigkeit, aber auch auf seine Gnade
und Belohnung des Guten gewiesen. Die Schilderung der Nachkommenschaft
Kains als riesenhafte, kraftvolle und Hartgemute Helden, aber auch gewalt¬
same, jnhe und trotzige Empörer wider Gottes Willen empfängt ihre An¬
regung aus der Bibel, aber nicht ohne anch hier gerade erst die lebhaftesten
und eindruckvollsteu Farben aus Eignen hinzuzuthun, wie sie dein Sachsen des
nennten Jahrhunderts, dem Zeitgenossen Widukiuds, aus lebendiger Anschauung
oder aus den Quellen heimischer Sage gewiß reichlich zu Gebote standen: die
den Riesen beigelegten feindseligen und zerstörerische» Eigenschaften entsprechen
durchaus der Charakteristik, die ih»e» der germanische Mythus und die ger¬
manische Sage verleihen.

Mit der geschilderten Verworfenheit der Kainiten ist der Faden gesunde»,
der zu der Erzählung von der allgemeinen Verderbnis des Menschengeschlechts
hinüberleitet, wie sie durch die Vermischung von Kains und Seths Nachkomme»
entsteht. Nur ein einziger hebt sich als Reiner ans dem Pfuhl des Verderbens:
Enoch. Die Genesis bietet für den gottgefällige» Wandel des Enoch nur die


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[0194] Das Alte Testament und der Dichter des Heliand zu bezeichnen, legt der germanische Dichter den verwaisten Eltern, gerührt van ihrem leidvollen Geschick, eine lange, lyrisch stimmungsvolle Klage in den Mund über den Verlornen Abel und seinen mörderischen Bruder. Und dem Künstler, der zu Anfang der Erzählung das großartige Gemälde von der am öden Strand einsam liegenden Leiche des Erschlagnen und der Flucht seines Mörders schuf, ist es auch hier gelungen, ein paar erschütternde Bilder zu entwerfen. Das eine zeigt die Mutter, „die deu Knaben genährt hatte, das Kind an ihrer Brust," wie sie das blutige Gewand des Toten wäscht, und wie dabei der Schmerz über beide Söhne, über den für immer Verlornen und über den gottverlassenen Brudermörder, sie überwältigt; das andre, wie beide Gatten gramvoll am Ufer stehen, an der Stelle, wo ihr Sohn ermordet worden ist, und sich selbst anklagen daß es ihre eignen Sünden verschuldet hätte», wen« sie nun kinderlos blieben, und kein edler Sohn ihr Erbe würde. Diese Stellen würden, wenn wir sonst keine Zeugnisse dafür hätten, allein imstande sein, den Verfasser der altsächsischen Genesisbruchstttcke als einen Dichter zu erweisen, der nicht nnr mit Geschmack und Geschick zu bearbeite» und poetisch nachzubilden, sondern anch aus eigner schöpferischer Phantasie selbst dichterisch zu erfinden, zu schauen und ergreifend darzustellen verstand. Wie die Geschlechtsreihe Kains, so wird nun auch die Seths als geschicht¬ liche Zuthat von ausschließlich jüdischem Interesse übergangen und nur mit kurzer, aber scharfer Charakteristik in wirkungsvollen Gegensatz zu den Kamille» gebracht. Auf Schritt und Tritt verrät sich hier die lebhafte und seelsorgerische Absicht des Dichters: das Gute und deshalb Vorbildliche wird in seinem Glänze erhöht, das Böse und als abschreckendes Beispiel aufgestellte in seiner Schwärze noch dunkler und häßlicher gefärbt, und mit feierlich erhobnen Finger auf Gottes Allmacht und strafende Gerechtigkeit, aber auch auf seine Gnade und Belohnung des Guten gewiesen. Die Schilderung der Nachkommenschaft Kains als riesenhafte, kraftvolle und Hartgemute Helden, aber auch gewalt¬ same, jnhe und trotzige Empörer wider Gottes Willen empfängt ihre An¬ regung aus der Bibel, aber nicht ohne anch hier gerade erst die lebhaftesten und eindruckvollsteu Farben aus Eignen hinzuzuthun, wie sie dein Sachsen des nennten Jahrhunderts, dem Zeitgenossen Widukiuds, aus lebendiger Anschauung oder aus den Quellen heimischer Sage gewiß reichlich zu Gebote standen: die den Riesen beigelegten feindseligen und zerstörerische» Eigenschaften entsprechen durchaus der Charakteristik, die ih»e» der germanische Mythus und die ger¬ manische Sage verleihen. Mit der geschilderten Verworfenheit der Kainiten ist der Faden gesunde», der zu der Erzählung von der allgemeinen Verderbnis des Menschengeschlechts hinüberleitet, wie sie durch die Vermischung von Kains und Seths Nachkomme» entsteht. Nur ein einziger hebt sich als Reiner ans dem Pfuhl des Verderbens: Enoch. Die Genesis bietet für den gottgefällige» Wandel des Enoch nur die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/194>, abgerufen am 25.07.2024.