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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Des Dichters Vorlage und Hauptquelle ist die Vulgata, die lateinische
Bibelübersetzung des Hieronhmns aus dem vierten Jahrhundert. Aber daneben
hat er wie für deu Heliand ausgiebig die gelehrten Genesiskonuncntare des
Hieronhmns, Augustin, Chrhsostomus, Jsidor, Beda u. a. benutzt, wenn es
galt, Exegese zu üben oder Spuren der evangelischen Heilsbotschaft in den
Erzählungen der Genesis aufzudecken. Bei dieser vielseitigen Gebundenheit des
Dichters, und vor allem wenn man weiß, wie sklavisch in jener Zeit poetische
Bearbeitungen geistlicher Federn ihrer biblischen Vorlage zu folgen Pflegen,
muß es Wunder nehmen, wie frei und eigenmächtig unser Sänger oft mit
der Überlieferung umzugehen wagt. So gleich in dem ersten der für uns in
Betracht kommenden Abschnitte. Unzweifelhaft hat das in der Gesamtdichtnng
vorausgehende Stück Nbels Ermordung dargestellt. Sie geschah, wir wir aus
der zurückgreifenden Einleitung unsers Abschnitts erfahren, abweichend von
der Bibel, die als Thatort einfach einen Acker nennt, in einem tiefen Thale
am Strande. Vielleicht glaubte der Dichter, der auch hier bestrebt ist, die
biblischen Geschichten ans germanischen, insbesondre niederdeutschen Boden zu
verpflanzen, seinen mit Meer, See und Fluß so vertrauten Sachsen ein
besonders anschauliches Bild zu geben, wenn er deu Acker zu einem Strand-
oder Dünenthal machte, bei dem sie alle gewiß sofort eine bestimmt lvkalisirte
Vorstellung gehabt haben werden. Auch ist wohl zu beachten, wie ein ödes
Düncnthal die düstere Mord- und nachher die trostlose Klageszene der ver¬
lassenen Eltern, die an derselben Stelle stattfindet, stimmungsvoll erhöhen und
verstärken mußte. Denkt man sich die Szenerie in ein Gemälde umgesetzt,
man würde es schwerlich anders als in Nnysdalischen Farben sehen. Im
tiefen Thal bleibt der Erschlagne ans sandiger Lagerstatt liegen, der Bruder¬
mörder aber geht heim in seine Behausung. Auch dieser eigentümlichen,
unabhängigen Darstellung, die den Mörder von seinem Opfer trennt, liegt
eine besonders germanische Vorstellung zu Grunde. Es gab ein strenges
Sittengebot für deu Germanen, das bestimmte, keine Leiche unbedeckt zu lassen,
über demKörper des Getöteten lvenigstens einZelt aufzuspannen, wenn derMörder
nicht geächtet werden wollte. Auch mag daran erinnert werden, wieviel schwerer
vor den alten Gesetzen ein Mord wog, der heimlich geschehen war.") lind
zwar wurde der Begriff der Heimlichkeit nicht sowohl in den Anfall, als
vielmehr in das Verbergen des Leichnams gelegt, weshalb es auch, im Norden
wenigstens, unverbrüchliches Gesetz für den Totschläger war, sich sofort "ach
geschehener That öffentlich zu ihr zu bekennen. Beides läßt Kam außer
acht, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß der Dichter, indem er den Frevler
diese heiligen Vorschriften germanischer Nechtsvorstellnng verletzen ließ, dessen



Mord heißt in der alten Sprache jedes heimlich ansgcsnhre Verbreche"! Nur haben
den Begriff in seiner nrspriinaliche" Bedeutn"" "och i" ""serm "Mordbreimer."
Das Alte Testament und der Dichter des Heliand

Des Dichters Vorlage und Hauptquelle ist die Vulgata, die lateinische
Bibelübersetzung des Hieronhmns aus dem vierten Jahrhundert. Aber daneben
hat er wie für deu Heliand ausgiebig die gelehrten Genesiskonuncntare des
Hieronhmns, Augustin, Chrhsostomus, Jsidor, Beda u. a. benutzt, wenn es
galt, Exegese zu üben oder Spuren der evangelischen Heilsbotschaft in den
Erzählungen der Genesis aufzudecken. Bei dieser vielseitigen Gebundenheit des
Dichters, und vor allem wenn man weiß, wie sklavisch in jener Zeit poetische
Bearbeitungen geistlicher Federn ihrer biblischen Vorlage zu folgen Pflegen,
muß es Wunder nehmen, wie frei und eigenmächtig unser Sänger oft mit
der Überlieferung umzugehen wagt. So gleich in dem ersten der für uns in
Betracht kommenden Abschnitte. Unzweifelhaft hat das in der Gesamtdichtnng
vorausgehende Stück Nbels Ermordung dargestellt. Sie geschah, wir wir aus
der zurückgreifenden Einleitung unsers Abschnitts erfahren, abweichend von
der Bibel, die als Thatort einfach einen Acker nennt, in einem tiefen Thale
am Strande. Vielleicht glaubte der Dichter, der auch hier bestrebt ist, die
biblischen Geschichten ans germanischen, insbesondre niederdeutschen Boden zu
verpflanzen, seinen mit Meer, See und Fluß so vertrauten Sachsen ein
besonders anschauliches Bild zu geben, wenn er deu Acker zu einem Strand-
oder Dünenthal machte, bei dem sie alle gewiß sofort eine bestimmt lvkalisirte
Vorstellung gehabt haben werden. Auch ist wohl zu beachten, wie ein ödes
Düncnthal die düstere Mord- und nachher die trostlose Klageszene der ver¬
lassenen Eltern, die an derselben Stelle stattfindet, stimmungsvoll erhöhen und
verstärken mußte. Denkt man sich die Szenerie in ein Gemälde umgesetzt,
man würde es schwerlich anders als in Nnysdalischen Farben sehen. Im
tiefen Thal bleibt der Erschlagne ans sandiger Lagerstatt liegen, der Bruder¬
mörder aber geht heim in seine Behausung. Auch dieser eigentümlichen,
unabhängigen Darstellung, die den Mörder von seinem Opfer trennt, liegt
eine besonders germanische Vorstellung zu Grunde. Es gab ein strenges
Sittengebot für deu Germanen, das bestimmte, keine Leiche unbedeckt zu lassen,
über demKörper des Getöteten lvenigstens einZelt aufzuspannen, wenn derMörder
nicht geächtet werden wollte. Auch mag daran erinnert werden, wieviel schwerer
vor den alten Gesetzen ein Mord wog, der heimlich geschehen war.") lind
zwar wurde der Begriff der Heimlichkeit nicht sowohl in den Anfall, als
vielmehr in das Verbergen des Leichnams gelegt, weshalb es auch, im Norden
wenigstens, unverbrüchliches Gesetz für den Totschläger war, sich sofort »ach
geschehener That öffentlich zu ihr zu bekennen. Beides läßt Kam außer
acht, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß der Dichter, indem er den Frevler
diese heiligen Vorschriften germanischer Nechtsvorstellnng verletzen ließ, dessen



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[0192] Das Alte Testament und der Dichter des Heliand Des Dichters Vorlage und Hauptquelle ist die Vulgata, die lateinische Bibelübersetzung des Hieronhmns aus dem vierten Jahrhundert. Aber daneben hat er wie für deu Heliand ausgiebig die gelehrten Genesiskonuncntare des Hieronhmns, Augustin, Chrhsostomus, Jsidor, Beda u. a. benutzt, wenn es galt, Exegese zu üben oder Spuren der evangelischen Heilsbotschaft in den Erzählungen der Genesis aufzudecken. Bei dieser vielseitigen Gebundenheit des Dichters, und vor allem wenn man weiß, wie sklavisch in jener Zeit poetische Bearbeitungen geistlicher Federn ihrer biblischen Vorlage zu folgen Pflegen, muß es Wunder nehmen, wie frei und eigenmächtig unser Sänger oft mit der Überlieferung umzugehen wagt. So gleich in dem ersten der für uns in Betracht kommenden Abschnitte. Unzweifelhaft hat das in der Gesamtdichtnng vorausgehende Stück Nbels Ermordung dargestellt. Sie geschah, wir wir aus der zurückgreifenden Einleitung unsers Abschnitts erfahren, abweichend von der Bibel, die als Thatort einfach einen Acker nennt, in einem tiefen Thale am Strande. Vielleicht glaubte der Dichter, der auch hier bestrebt ist, die biblischen Geschichten ans germanischen, insbesondre niederdeutschen Boden zu verpflanzen, seinen mit Meer, See und Fluß so vertrauten Sachsen ein besonders anschauliches Bild zu geben, wenn er deu Acker zu einem Strand- oder Dünenthal machte, bei dem sie alle gewiß sofort eine bestimmt lvkalisirte Vorstellung gehabt haben werden. Auch ist wohl zu beachten, wie ein ödes Düncnthal die düstere Mord- und nachher die trostlose Klageszene der ver¬ lassenen Eltern, die an derselben Stelle stattfindet, stimmungsvoll erhöhen und verstärken mußte. Denkt man sich die Szenerie in ein Gemälde umgesetzt, man würde es schwerlich anders als in Nnysdalischen Farben sehen. Im tiefen Thal bleibt der Erschlagne ans sandiger Lagerstatt liegen, der Bruder¬ mörder aber geht heim in seine Behausung. Auch dieser eigentümlichen, unabhängigen Darstellung, die den Mörder von seinem Opfer trennt, liegt eine besonders germanische Vorstellung zu Grunde. Es gab ein strenges Sittengebot für deu Germanen, das bestimmte, keine Leiche unbedeckt zu lassen, über demKörper des Getöteten lvenigstens einZelt aufzuspannen, wenn derMörder nicht geächtet werden wollte. Auch mag daran erinnert werden, wieviel schwerer vor den alten Gesetzen ein Mord wog, der heimlich geschehen war.") lind zwar wurde der Begriff der Heimlichkeit nicht sowohl in den Anfall, als vielmehr in das Verbergen des Leichnams gelegt, weshalb es auch, im Norden wenigstens, unverbrüchliches Gesetz für den Totschläger war, sich sofort »ach geschehener That öffentlich zu ihr zu bekennen. Beides läßt Kam außer acht, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß der Dichter, indem er den Frevler diese heiligen Vorschriften germanischer Nechtsvorstellnng verletzen ließ, dessen Mord heißt in der alten Sprache jedes heimlich ansgcsnhre Verbreche»! Nur haben den Begriff in seiner nrspriinaliche» Bedeutn»» »och i» »»serm „Mordbreimer."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/192>, abgerufen am 24.07.2024.