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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Alte Teftciinent und der Dichter des Heliand

der Hand desselben Dichters, ansehnliche Bruchstücke einer zweiten altsächsischen
Vibeldichtung gefunden, diesmal einer alttestamentlichen. Durfte man sich
nicht noch reichere und tiefere Kunde von der ursprünglichen Art germanischen
Wesens versprechen, wenn nun hier sein jugendlicher Geist die umbildende
Kraft seiner uuverzärtelten Triebe an der jüdischen Moral und Lebensauffassung
erproben würde? Gewiß, und diese Hoffnung ward auch nicht getäuscht.

Daß die Kunde von der Vatikanischen Entdeckung völlig überraschend ge¬
kommen wäre, kann man nicht sagen: eine Spur ihrer Existenz hatte sich durch
die Jahrhunderte zu uns herübergerettet. Sie war aufgezeichnet in der so¬
genannten ?iA<zllckia (Vorrede), die sich, aus irgend einer altertümlichen Aus¬
gabe übernommen, in dem (ÄwloAus tvsUuiri vti'iwti" (Verzeichnis von Zeugen
der -- evangelischen -- Wahrheit) des der Lutherischen Sache eifrig ergebneu
Theologen Flaeius Illyriens aufbewahrt fand (1562). An ihrer Echtheit war
nicht zu zweifeln. Ausdrücklich aber sagte sie, daß auf Ludwigs des Frommen
Anregung ein nicht mehr uuberüymtcr sächsischer Säuger das Alte und das
Neue Testament in deutscher Zunge poetisch bearbeitet habe, und daß seine
Darstellung, bei der Erschaffung der Welt beginnend, immer das Wichtigste
auswählend, bis an das Ende des Alten und des Neuen Testaments gelangt
sei. Machte es dieses Zeugnis von vornherein höchst wahrscheinlich, daß die
neu aufgefundnen Bruchstücke vou demselben Verfasser stammten wie die Heliaud-
dichtnng, so erhebt die völlige Übereinstimmung der Arbeitsweise, des Formel¬
schatzes, der Metrik u. s. w. den gleichen Ursprung der beiden Dichtnngsteile
über allen Zweifel; nur hhpothesengierige Querköpfigkeit kann daran zweifeln.
Welche von den Bearbeitungen, ob die alt- oder die neutestamentliche, znerst
entstanden ist, läßt sich augenblicklich noch nicht sicher ausmachen; doch ist kein
triftiger Grund vorhanden, nicht auch hier der Angabe der ^rÄstatio zu trauen
und demnach den Heiland für die spätere zu nehmen. Die alttestamentlichen
Bruchstücke sind kühner, frischer und packender als die Evaugeliendichtnng, aber
mit Recht hat ein holländischer Gelehrter geltend gemacht, daß das auch für
den ersten Teil des Goethischen Faust im Vergleich zu dem zweiten gelte, und
daß deshalb dieser doch nach, nicht vor dem ersten geschrieben worden sei.

Die uns durch glücklichen Zufall auf dem Lückenranm des lateinischen
Kalendariums überlieferten Bruchstücke der altsächsischen Vibeldichtung be¬
schränken sich auf das erste Buch Mosis, ans die Genesis. Sie enthalten
Adams und Evas Klage nach ihrer Verstoßung ans dem Paradiese, wobei der
Dichter einer ältern christlichen Darstellung des Sündenfalles folgt, für unsre
Zwecke also keine Beobachtnngspunkte darbietet; dann Kains Unterredung mit
Gott nach dem begangnen Brudermorde und seine Bestrafung; darauf den Be¬
richt über Adams Nachkommen Seth und Enoch; dann die Verkündigung des
über Sodom und Gomorrha beschlossenen Strafgerichts an Abraham; endlich
die Schilderung des Untergangs selbst.


Das Alte Teftciinent und der Dichter des Heliand

der Hand desselben Dichters, ansehnliche Bruchstücke einer zweiten altsächsischen
Vibeldichtung gefunden, diesmal einer alttestamentlichen. Durfte man sich
nicht noch reichere und tiefere Kunde von der ursprünglichen Art germanischen
Wesens versprechen, wenn nun hier sein jugendlicher Geist die umbildende
Kraft seiner uuverzärtelten Triebe an der jüdischen Moral und Lebensauffassung
erproben würde? Gewiß, und diese Hoffnung ward auch nicht getäuscht.

Daß die Kunde von der Vatikanischen Entdeckung völlig überraschend ge¬
kommen wäre, kann man nicht sagen: eine Spur ihrer Existenz hatte sich durch
die Jahrhunderte zu uns herübergerettet. Sie war aufgezeichnet in der so¬
genannten ?iA<zllckia (Vorrede), die sich, aus irgend einer altertümlichen Aus¬
gabe übernommen, in dem (ÄwloAus tvsUuiri vti'iwti» (Verzeichnis von Zeugen
der — evangelischen — Wahrheit) des der Lutherischen Sache eifrig ergebneu
Theologen Flaeius Illyriens aufbewahrt fand (1562). An ihrer Echtheit war
nicht zu zweifeln. Ausdrücklich aber sagte sie, daß auf Ludwigs des Frommen
Anregung ein nicht mehr uuberüymtcr sächsischer Säuger das Alte und das
Neue Testament in deutscher Zunge poetisch bearbeitet habe, und daß seine
Darstellung, bei der Erschaffung der Welt beginnend, immer das Wichtigste
auswählend, bis an das Ende des Alten und des Neuen Testaments gelangt
sei. Machte es dieses Zeugnis von vornherein höchst wahrscheinlich, daß die
neu aufgefundnen Bruchstücke vou demselben Verfasser stammten wie die Heliaud-
dichtnng, so erhebt die völlige Übereinstimmung der Arbeitsweise, des Formel¬
schatzes, der Metrik u. s. w. den gleichen Ursprung der beiden Dichtnngsteile
über allen Zweifel; nur hhpothesengierige Querköpfigkeit kann daran zweifeln.
Welche von den Bearbeitungen, ob die alt- oder die neutestamentliche, znerst
entstanden ist, läßt sich augenblicklich noch nicht sicher ausmachen; doch ist kein
triftiger Grund vorhanden, nicht auch hier der Angabe der ^rÄstatio zu trauen
und demnach den Heiland für die spätere zu nehmen. Die alttestamentlichen
Bruchstücke sind kühner, frischer und packender als die Evaugeliendichtnng, aber
mit Recht hat ein holländischer Gelehrter geltend gemacht, daß das auch für
den ersten Teil des Goethischen Faust im Vergleich zu dem zweiten gelte, und
daß deshalb dieser doch nach, nicht vor dem ersten geschrieben worden sei.

Die uns durch glücklichen Zufall auf dem Lückenranm des lateinischen
Kalendariums überlieferten Bruchstücke der altsächsischen Vibeldichtung be¬
schränken sich auf das erste Buch Mosis, ans die Genesis. Sie enthalten
Adams und Evas Klage nach ihrer Verstoßung ans dem Paradiese, wobei der
Dichter einer ältern christlichen Darstellung des Sündenfalles folgt, für unsre
Zwecke also keine Beobachtnngspunkte darbietet; dann Kains Unterredung mit
Gott nach dem begangnen Brudermorde und seine Bestrafung; darauf den Be¬
richt über Adams Nachkommen Seth und Enoch; dann die Verkündigung des
über Sodom und Gomorrha beschlossenen Strafgerichts an Abraham; endlich
die Schilderung des Untergangs selbst.


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[0191] Das Alte Teftciinent und der Dichter des Heliand der Hand desselben Dichters, ansehnliche Bruchstücke einer zweiten altsächsischen Vibeldichtung gefunden, diesmal einer alttestamentlichen. Durfte man sich nicht noch reichere und tiefere Kunde von der ursprünglichen Art germanischen Wesens versprechen, wenn nun hier sein jugendlicher Geist die umbildende Kraft seiner uuverzärtelten Triebe an der jüdischen Moral und Lebensauffassung erproben würde? Gewiß, und diese Hoffnung ward auch nicht getäuscht. Daß die Kunde von der Vatikanischen Entdeckung völlig überraschend ge¬ kommen wäre, kann man nicht sagen: eine Spur ihrer Existenz hatte sich durch die Jahrhunderte zu uns herübergerettet. Sie war aufgezeichnet in der so¬ genannten ?iA<zllckia (Vorrede), die sich, aus irgend einer altertümlichen Aus¬ gabe übernommen, in dem (ÄwloAus tvsUuiri vti'iwti» (Verzeichnis von Zeugen der — evangelischen — Wahrheit) des der Lutherischen Sache eifrig ergebneu Theologen Flaeius Illyriens aufbewahrt fand (1562). An ihrer Echtheit war nicht zu zweifeln. Ausdrücklich aber sagte sie, daß auf Ludwigs des Frommen Anregung ein nicht mehr uuberüymtcr sächsischer Säuger das Alte und das Neue Testament in deutscher Zunge poetisch bearbeitet habe, und daß seine Darstellung, bei der Erschaffung der Welt beginnend, immer das Wichtigste auswählend, bis an das Ende des Alten und des Neuen Testaments gelangt sei. Machte es dieses Zeugnis von vornherein höchst wahrscheinlich, daß die neu aufgefundnen Bruchstücke vou demselben Verfasser stammten wie die Heliaud- dichtnng, so erhebt die völlige Übereinstimmung der Arbeitsweise, des Formel¬ schatzes, der Metrik u. s. w. den gleichen Ursprung der beiden Dichtnngsteile über allen Zweifel; nur hhpothesengierige Querköpfigkeit kann daran zweifeln. Welche von den Bearbeitungen, ob die alt- oder die neutestamentliche, znerst entstanden ist, läßt sich augenblicklich noch nicht sicher ausmachen; doch ist kein triftiger Grund vorhanden, nicht auch hier der Angabe der ^rÄstatio zu trauen und demnach den Heiland für die spätere zu nehmen. Die alttestamentlichen Bruchstücke sind kühner, frischer und packender als die Evaugeliendichtnng, aber mit Recht hat ein holländischer Gelehrter geltend gemacht, daß das auch für den ersten Teil des Goethischen Faust im Vergleich zu dem zweiten gelte, und daß deshalb dieser doch nach, nicht vor dem ersten geschrieben worden sei. Die uns durch glücklichen Zufall auf dem Lückenranm des lateinischen Kalendariums überlieferten Bruchstücke der altsächsischen Vibeldichtung be¬ schränken sich auf das erste Buch Mosis, ans die Genesis. Sie enthalten Adams und Evas Klage nach ihrer Verstoßung ans dem Paradiese, wobei der Dichter einer ältern christlichen Darstellung des Sündenfalles folgt, für unsre Zwecke also keine Beobachtnngspunkte darbietet; dann Kains Unterredung mit Gott nach dem begangnen Brudermorde und seine Bestrafung; darauf den Be¬ richt über Adams Nachkommen Seth und Enoch; dann die Verkündigung des über Sodom und Gomorrha beschlossenen Strafgerichts an Abraham; endlich die Schilderung des Untergangs selbst.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/191>, abgerufen am 24.07.2024.