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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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ist. Die Wurzeln, die in frühern Zeiten auch den Besitzlosen an den Heimnt-
bvden fesselten, hat die unsrige alle abgeschnitten, indem sie alle volkstümlichen
Überlieferungen ausrottete und die ganze Lebensführung der niedern Stände
änderte. Obgleich die oberflächliche Verstandeskultur, die sie an die Stelle
jener Überlieferungen setzte, durchaus nicht für alle schmierigern Verhältnisse
des Lebens genügt, ist sie doch selbst in den seßhaften Bauernstand einge¬
drungen und greift auch dort mehr und mehr um sich, sodaß die alten Trachten
und Sitten aussterben und auch der ererbte geistige und gemütliche Besitz des
Bauerntums, der ihm, wenn er auch nicht groß war, doch einen festen Stand in
der Welt ermöglichte, mehr und mehr schwindet. Ich lenge nicht, daß manches
nen gewonnen worden ist, was sich im Laufe der Entwicklung als Segen be¬
wahren wird, aber es ging und geht auch viel verloren, was zu erhalten von
der größten Bedeutung und auch möglich gewesen wäre, wenn man die Ver¬
breitung der modernen Kultur nicht so leichtsinnig dem Zufall und oft den
schlechtesten Glieder" der Bevölkerung überlassen hätte. Aber auch das Hand-
werkertum der kleinen Städte ist zum Teil proletarisirt und folgt dem Zug
in die Großstadt, da manches Handwerk durch die Fabrik völlig ruinirt ist;
nur ein Teil hält noch stand und bildet mit dem bessern Teil des Bauern¬
stands den Bestandteil des deutschen Volks, der am festesten in der Heimat
wurzelt; ein kleiner Teil ist in das Unternehmer- und Fabrikantentum hinein¬
gewachsen und im ganzen "vergrvßstädtert." Die großstädtische Bevölkerung
kann man gegenwärtig in drei Klassen einteilen, in Proletarier, Bildungspöbel
und Gebildete; das alte, ehrenfeste Bürgertum, das auch seiue besondre Standes-
bildnng hatte, ist bis ans kleine Neste ausgestorben. Die Proletarier sind
heimatlos, und auch der Bildnngspöbel, der in Deutschland hoch hinauf und
ziemlich tief hinab geht, ist es. Er nährt sich geistig, mag er sittlich auch
noch unverkommen sein ^ das ist aber nicht die Regel --, von dem Abhub
von Kunst und Wissenschaft und erkennt die Mode auf allen Gebieten als Gott¬
heit an. Ihn muß mau wohl verloren geben. Die wahrhaft Gebildeten sind
heute vielfach in einer schlimmen Lage; die Höhe der Lebensführung, die sie
notgedrungen einhalten müssen, stellt den besten Teil ihrer Kraft in den Dienst
rein materieller Bestrebungen und macht auch sie zum Teil heimatlos. Manche
sind schon nach der Art ihrer Bildung und nach ihrem Berufe international,
und jedenfalls haben sie alle ihre Einzelinteressen, sei es die Politik, sei es
die Kunst, sei es die Wissenschaft, sodaß die Hingebung an die Heimat, die
Freude am Volkstum selten genug ist. Im ganzen kann man wohl sagen,
daß es der moderne Mensch zwar noch hin und wieder zu einem "trauten
Heim," zu einem rechten Einwurzeln in der Heimat aber nicht mehr bringt.
Die Liebe zum Vaterlande ist dafür Wohl ein gewisser, aber doch kein voller
Ersatz -- das darf man wohl aussprechen, ohne partikularistischer Neigungen
bezichtigt zu werden.


ist. Die Wurzeln, die in frühern Zeiten auch den Besitzlosen an den Heimnt-
bvden fesselten, hat die unsrige alle abgeschnitten, indem sie alle volkstümlichen
Überlieferungen ausrottete und die ganze Lebensführung der niedern Stände
änderte. Obgleich die oberflächliche Verstandeskultur, die sie an die Stelle
jener Überlieferungen setzte, durchaus nicht für alle schmierigern Verhältnisse
des Lebens genügt, ist sie doch selbst in den seßhaften Bauernstand einge¬
drungen und greift auch dort mehr und mehr um sich, sodaß die alten Trachten
und Sitten aussterben und auch der ererbte geistige und gemütliche Besitz des
Bauerntums, der ihm, wenn er auch nicht groß war, doch einen festen Stand in
der Welt ermöglichte, mehr und mehr schwindet. Ich lenge nicht, daß manches
nen gewonnen worden ist, was sich im Laufe der Entwicklung als Segen be¬
wahren wird, aber es ging und geht auch viel verloren, was zu erhalten von
der größten Bedeutung und auch möglich gewesen wäre, wenn man die Ver¬
breitung der modernen Kultur nicht so leichtsinnig dem Zufall und oft den
schlechtesten Glieder» der Bevölkerung überlassen hätte. Aber auch das Hand-
werkertum der kleinen Städte ist zum Teil proletarisirt und folgt dem Zug
in die Großstadt, da manches Handwerk durch die Fabrik völlig ruinirt ist;
nur ein Teil hält noch stand und bildet mit dem bessern Teil des Bauern¬
stands den Bestandteil des deutschen Volks, der am festesten in der Heimat
wurzelt; ein kleiner Teil ist in das Unternehmer- und Fabrikantentum hinein¬
gewachsen und im ganzen „vergrvßstädtert." Die großstädtische Bevölkerung
kann man gegenwärtig in drei Klassen einteilen, in Proletarier, Bildungspöbel
und Gebildete; das alte, ehrenfeste Bürgertum, das auch seiue besondre Standes-
bildnng hatte, ist bis ans kleine Neste ausgestorben. Die Proletarier sind
heimatlos, und auch der Bildnngspöbel, der in Deutschland hoch hinauf und
ziemlich tief hinab geht, ist es. Er nährt sich geistig, mag er sittlich auch
noch unverkommen sein ^ das ist aber nicht die Regel —, von dem Abhub
von Kunst und Wissenschaft und erkennt die Mode auf allen Gebieten als Gott¬
heit an. Ihn muß mau wohl verloren geben. Die wahrhaft Gebildeten sind
heute vielfach in einer schlimmen Lage; die Höhe der Lebensführung, die sie
notgedrungen einhalten müssen, stellt den besten Teil ihrer Kraft in den Dienst
rein materieller Bestrebungen und macht auch sie zum Teil heimatlos. Manche
sind schon nach der Art ihrer Bildung und nach ihrem Berufe international,
und jedenfalls haben sie alle ihre Einzelinteressen, sei es die Politik, sei es
die Kunst, sei es die Wissenschaft, sodaß die Hingebung an die Heimat, die
Freude am Volkstum selten genug ist. Im ganzen kann man wohl sagen,
daß es der moderne Mensch zwar noch hin und wieder zu einem „trauten
Heim," zu einem rechten Einwurzeln in der Heimat aber nicht mehr bringt.
Die Liebe zum Vaterlande ist dafür Wohl ein gewisser, aber doch kein voller
Ersatz — das darf man wohl aussprechen, ohne partikularistischer Neigungen
bezichtigt zu werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/183>, abgerufen am 04.07.2024.